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Ein zweiter Ruck für Deutschland?

Zehn Jahre ist es her, da sprach der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Berliner Hotel Adlon aus, was viele dachten: Deutschland müsse mit einem "Ruck" den Modernisierungsstau auflösen. Das besorgte dann Kanzler Schröder mit sinkenden Reallöhnen, längerer Arbeitszeit, Unternehmenssteuergeschenken und Hartz IV. Am Sonntag hielt Roman Herzog im Rahmen der "Berliner Lektionen" der Berliner Festspiele im alten Renaissancetheater der Stadt erneut eine Rede.

Von Frank Hessenland |
    Einem Regierungswechsel redete der Alt-Bundespräsident Roman Herzog zehn Jahre nach seiner legendären Ruck-Rede heute sicher nicht das Wort. Weder ging er ein auf die aktuelle Politik vor den Landtagswahlen im kommenden Frühjahr, noch auf den aktuellen Profilierungsstreit in der großen Koalition. Nicht mit einem Wort erwähnte er die Reformen der letzten Jahre, die auch sein Erfolg gewesen waren. Roman Herzog hatte heute größeres im Sinn, allerdings ging er wie damals von der selben Grundannahme aus:

    "Die Menschen haben zunehmend das Gefühl in einem breiten reißenden Strom mit zu schwimmen, aber sie kennen das Ziel des Stromes nicht. Sich ihm zu entziehen oder gar den Strom umzulenken, das schaffen sie nicht. Das Ende ist eine innere Unsicherheit, das vage Gefühl einer Angst, dass zu Lähmungserscheinungen, zu Mutlosigkeit und zu Apathie führen kann."
    Für Herzog liegt die Ursache der mentalen Krise heute nicht mehr in der aktuellen Politik. Die explosionsartige Zunahme des verfügbaren Wissens, die Individualisierung der Gesellschaft, die Unüberschaubarkeit der kommenden Entwicklungen führt allgemein in Zukunft dazu, dass die Mündigkeit des Einzelnen abnimmt, prophezeit Herzog. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Politik wird zurückgehen, der Glauben wird wieder wichtiger. Und nachdem der Glauben an rassistische, anarchistische, sozialistische und sonstige Systeme schon im 20. Jahrhundert gescheitert ist, sieht Herzog das Zeitalter des Glaubens an Personen aufziehen. Die Rückkehr der Führer - für Herzog eine unvermeidliche Entwicklung..

    "Je komplizierter unsere Welt aber wird, desto mehr wird es auch wieder auf das Charisma auf die nicht-intellektuell begründete Autorität einzelner Politiker ankommen. Das ist wie ich gern zugebe ein riskanter Weg, aber er wird ganz zwangsläufig gegangen werden müssen."

    Unvermeidlich sei die Rückkehr der charismatischen Führer schon deswegen, weil die Demokratie zwangsläufig ausgehöhlt werden müsse, wenn die Gesellschaft im globalen Wettbewerb bestehen wolle. Der Grund: die Demografie zerstöre unweigerlich die Demokratie, so Herzog:

    "Eine Demokratie, die überwiegend von alten Leuten dominiert wird, dürfte wahrscheinlich immer unbeweglicher werden, immer reform-zögerlicher werden und ich bin ganz sicher, die Tendenz geht dorthin, zu sagen, dann nehmen wir aus der Kompetenz des Mehrheitsprinzips wichtige Kompetenzen allmählich heraus. Man mag das wollen oder nicht."

    Das - durchweg altersgraue - Publikum im Berliner Renaissancetheater nahm das Ende der Demokratie gelassen hin. Vielleicht fühlten sich sogar einige von Herzogs Lösungsvorschlag angezogen:


    "Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass man beispielsweise weise Menschen, Männer und Frauen zusammensetzt und denen die Aufgabe gibt, Fragen zu stellen. Und den Bundestag und die Bundesregierung und die Parteivorstände zu verpflichten auf diese Fragen ihre Antwort zu geben, also eine Art Antragsrecht für große Anfragen. "

    Wie in der fantastischen Welt von Platos Utopia, sollen also "weise Männer" in Zukunft mit geschickten Fragen die charismatischen Führer zu intellektuellen Leistungen anspornen, zu denen das Wahlvolk, die Parteien und die Medien nicht mehr fähig sein werden. Einen Regierungswechsel hatte der Altpräsident heute wirklich nicht im Sinn. Einen ganzen Systemwechsel prophezeite er statt dessen, ganz nonchalant, sokratisch, sybillinisch: wissend, dass er ja auch nichts wissen könne.

    "Sollte man nicht so vorgehen? Ich weiß es auch nicht, ich will das jetzt nur mal sagen, damit ich später sagen kann, ich hätte es ja gleich gesagt, denn das ist das Vorrecht der Pensionisten. Vielen Dank."