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Einblicke in die Innenwelt Türkischer Wohnquartiere

Dr. Rauf Ceylan ist Sohn sunnitischer, Türkisch sprechender Kurden. Vom Typ her könnte er auch Arzt sein. Es ist für ihn kein Problem, von Türken akzeptiert zu werden. Auch nicht in der Haci Bayram Moschee in Berlin-Wedding.

Von Alexander Morhart | 31.08.2006
    Neben dem quaderförmigen Moscheegebäude - man könnte es von außen betrachtet leicht mit einem kleinen Handwerksbetrieb verwechseln - sitzen ein halbes Dutzend älterer Männer in einem zur Seite offenen Campingzelt. Nachdem der Sozialpädagoge kurz auf Türkisch mit ihnen geredet hat, gehen er und Hayrettin Geredeli, Sami Geredeli und Nevzat Özmen in den wohnzimmergroßen Moscheeladen hinter dem Zelt.

    Vor einer Metzgertheke mit summender Kühlung stehen einfache Stühle um einen Tisch: braune Platte, schwarzes Stahlgestell. Getrunken wird Limonade aus der Dose im Pappbecher. Die drei Glaubensbrüder, zwei davon mit kurz gehaltenem weißem Vollbart, sind auskunftsfreudig und reden zum Teil auf Deutsch, zum Teil auf Türkisch. Die drei berichten, dass sie statt des untauglichen Deutschunterrichts vom Arbeitsamt selbst welchen organisiert hätten. Auch für Frauen. Die Zeiten hätten sich geändert. Außerdem arbeite der Moscheeverein eng mit der Polizei zusammen. Der Verein habe erreicht, dass die Ladendiebstähle um 20 Prozent zurückgegangen seien. Und Sportgruppen hätten sie eingerichtet und eine Hausaufgabenhilfe durch Studenten. Trotzdem hätten es die Kinder schwer.

    Nicht nur wegen der Sprache, sondern auch wegen der schlechten Berliner Schulen. Vor ein paar Jahren hätte der Verein die Grundschule mit einem Brief zum Tag der offenen Tür eingeladen. Die Reaktion beschreibt Hayrettin Geredeli so:

    "Da haben sie unseren Brief - vor den Schülern - den haben sie verrissen und dann weggeschmissen. Das haben sie auch gemacht. Das haben wir gehört, also. Das ist sehr, also für uns ist das sehr traurig so was."

    Rauf Ceylan hat unter den knapp 20 Prozent türkischen Bewohnern des Duisburger Stadtteils Hochfeld gelebt. Zwei Jahre lang erarbeitete sich Ceylan das Vertrauen von Café- und Moscheebesuchern. Am Ende hatte er 83 Gesprächsprotokolle als Grundlage für seine Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum. Diese qualitative Arbeit wird Mitte November unter dem Titel "Ethnische Kolonien" im Verlag für Sozialwissenschaften veröffentlicht. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung geht auf den US-Forscher William Foote Whyte zurück. Vergleichbar in Deutschland ist Hermann Tertilt, der in den 90er Jahren eine Jugendbande begleitete.

    Rauf Ceylan hat sich nicht nur mit Moscheen beschäftigt, sondern auch mit den Cafés oder Teestuben in Duisburg-Hochfeld. Manche Männer in Duisburg-Hochfeld verbringen hier den ganzen Tag und den ganzen Abend.

    "Wenn man mit den Menschen dort spricht - die sagen: Ja stimmt, ich sitze hier 15 Stunden, 20 Stunden. Aber ich bin arbeitslos, habe sozusagen kaum eine Perspektive. Bevor ich zuhause auf meine Frau und auf meine Kinder losgehe, sitze ich lieber hier und spiele Karten, hab meine Freunde hier und gehe nach Hause schlafen. Das heißt: Es sind sozusagen Strategien entwickelt worden, um vor bestimmten Problemen auszuweichen. Es ist ein chronisches Ausweichen."

    Probleme zum Ausweichen gibt es für die türkischen Männer in Duisburg-Hochfeld genügend: Arbeitslosigkeit und Armut, Konflikte mit Einheimischen und auch immer mehr untereinander. Die ersten Zuwanderer hatten zwar noch fast alle die einzige Moschee und das einzige Café in Hochfeld besucht. Und die Spannungen zwischen rechten und linken türkischen Gruppierungen haben wieder nachgelassen. Dafür sind heute die Unterschiede innerhalb des muslimischen Glaubens stärker. So hat es zunächst durchaus sein Gutes, wenn nun jeder unter vielen Cafés sich das mit den passenden Leuten aussuchen kann. Aber der Sozialpädagoge hat nicht nur Cafés in der Tradition des anatolischen "Sarapsiz Meyhane" gefunden.

    "Es gibt Cafés, die noch sehr traditionsgemäß geführt werden. Es gibt Cafés, wo sich beispielsweise Menschen aus dem Schwarzmeerbereich der Türkei treffen, das heißt, nach regionaler Herkunft differenziert. Aber es gibt auch Cafés - die sind auch bekannt - dort werden Glücksspiele organisiert. Auch Cafés, wo auch Drogen konsumiert werden. Darüber ist eigentlich auch der Stadtteilpolizist sehr gut informiert."

    Drogenkonsum und illegale Karten- und Würfelspiele um große Geldbeträge gehören zur Freizeitbeschäftigung in einem Teil der Cafés. Manche der Zocker verspielen dort ihr legales Einkommen. Viele beschaffen sich Geld durch Drogenhandel und Hehlerei oder leihen es sich beim bereitstehenden Zinswucherer, dem "Tefeci". Am Ende verkauft nicht selten die Ehefrau den Schmuck, um die Schulden abzuzahlen.

    "Diese Menschen ziehen sich immer mehr zurück, weil sie ja die Rolle des türkischen Vaters, des Familienernährers, nicht mehr erfüllen können. Und Cafés bieten - das ist paradox - auch zugleich eine Schutzfunktion für diese Leute. Das heißt: Sie sind dem Leistungsdruck ja nicht ausgesetzt, auch der sozialen Kontrolle. In Cafés ist man unter Leuten, also unter Gleichgesinnten, und ist sozusagen dem Druck nicht ausgesetzt."

    Eine neue Erscheinung in manchen türkischen Cafés - wo immer die Männer unter sich waren - sind Frauen. Aber nicht etwa weibliche türkische Gäste. Vielmehr sind es Osteuropäerinnen, die dort arbeiten. Sie kommen meist mit einem Drei-Monats-Visum nach Deutschland und tauchen dann in der türkischen Kolonie unter.

    "Das sind Frauen, die für 15 Stunden in den Cafés arbeiten für 20 Euro, das heißt: Sie werden ausgebeutet. Also ich hatte jetzt einen Fall gehabt, da hatte der Cafébesitzer auch eine Beziehung zu ihr aufgebaut. Sie durfte bei ihm schlafen. Dafür musste sie den Haushalt führen - sie hatte auch eine sexuelle Beziehung zu ihm - und dazu noch im Café arbeiten. Auch Prostitution! Darauf bin ich auch gestoßen. Türkische Bulgarinnen waren das, die sich auch in einigen Cafés aufgehalten haben. Nicht jeder Caféinhaber lässt das zu, aber es gibt in Duisburg-Hochfeld einige Cafés, wo dieses Phänomen beobachtbar ist."

    Nicht wenige Cafés sind als scheinbarer "Kulturverein", "Sportverein" oder "Händlerverein" angemeldet. "Zutritt nur für Mitglieder" steht wie bei einem echten Verein am Eingang. In Wirklichkeit hinterziehen solche Cafébetreiber lediglich Steuern.

    Rauf Ceylan bewertet das türkische Café als Institution nicht rundherum negativ. Für ihn entscheidet der Einzelfall. Auch bei der Konzentration von Zuwanderern in einer ethnischen Kolonie insgesamt sieht der Sozialpädagoge Licht und Schatten. Er nimmt sie als gegeben hin und macht sich Gedanken, wie man das Beste daraus machen kann, anstatt sie dem Stillstand und der politischen Radikalisierung zu überlassen.

    "Also wir müssen davon ausgehen, dass diese Stadtteile sich nicht auflösen werden. Das zeigt die Erfahrung: In jedem pluralen Land bestehen ethnisch geprägte Wohnviertel, und ich glaube auch, dass wir auch in den nächsten 20, 30 Jahren über dieses Thema sprechen werden. Das heißt: Wir brauchen einen Perspektivenwechsel. Wir müssen viel stärker auf die Potentiale kucken, auf das Binnenleben."

    Das fange schon mit den Begriffen an. Ceylan verwendet "ethnische Kolonie", denn ein "Ghetto" sei etwas, aus dem man nicht herauskomme. Die Kolonie dagegen sei im Prinzip offen und betone die Selbstorganisation der Migranten. Ein wichtiges Potential für das Leben in der türkischen Kolonie liegt für Ceylan bei den Moscheevereinen. Obwohl sie sich fast nur auf ehrenamtliche, meist nichtakademische Kräfte stützen könnten, erfüllten sie vielfältige soziale Aufgaben zum Beispiel der Jugendarbeit. Sie vermittelten zwischen Staat und Kolonie und federten viele Probleme ab. Wenn das im Gegensatz zu heute nicht mehr ignoriert, sondern anerkannt werde, könnten die Moscheevereine zukünftig zum Beispiel zusätzlich Kooperations- und Tauschringe organisieren - als produktive Alternative zur Zeitverschwendung im Café.

    Größtes Hindernis sei außer einer oft passiven oder islamfeindlichen Politik in Deutschland meist die Schlüsselperson der Moschee selbst: der Vorbeter, der Imam. Heute werden die Imame in der Türkei ausgebildet, jeweils nur für wenige Jahre nach Deutschland geschickt, und sie können kaum Deutsch. Eine ganz andere Art von Imam hat Sozialpädagoge Ceylan in Duisburg-Hochfeld erlebt.

    "In dem untersuchten Stadtteil von mir war sozusagen ein Prototyp. Das war ein Imam, der Sozialarbeiter war und zugleich auch Deutsch sprach. Der nicht nur eine gute Beziehung zu den Jugendlichen hatte, sondern auch im Stadtteil sehr engagiert ist, sprich: am runden Tisch auch an anderen Maßnahmen. Aber auch selbst Projekte leitete. Das sind sozusagen Prototypen. Im Grunde genommen bräuchten wir Imame, deren Sozialisation hier stattgefunden hat. Und Imame, die hier ausgebildet worden sind."