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Einblicke in die Schreibwerkstatt einer französischen Schriftstellerin

Marguerite Duras, 1914 in Cochinchina, dem heutigen Vietnam geboren, zählt zu den eigensinnigen und experimentierfreudigen Künstlerinnen Frankreichs. Zehn Jahre nach ihrem Tod am 3. März 1996 sind in Frankreich ihre "Hefte aus Krisenzeiten" erschienen. Diese Aufzeichnungen aus den schriftstellerischen Anfangsjahren der Duras gewähren erhellende Einblicke in die Entstehungsgeschichte ihres Werkes und faszinieren durch ihre sinnliche Sprache.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 23.04.2008
    Ich sage niemandem etwas. Nichts von dem, was mein Leben durchzieht, die Wut und dieses verrückte Streben des Körpers nach Lust, dieses dunkle, versteckte Wort. Ich bin die Scham, die größte Stille. Ich sage nichts. Ich äußere nichts. Vom Wesentlichen nichts. Es ist da, unbenannt, unversehrt.

    Diese Sätze hatte Marguerite Duras flüchtig auf einem losen Blatt notiert, das sie in einem der sechzehn Kartons mit Aufzeichnungen, Fotos, Filmdrehbüchern, Manuskripten und Kinderzeichnungen aufbewahrte, die sie ein paar Monate vor ihrem Tod am 3. März 1996 dem Institut de la mémoire de l`édition contemporaine übergab. Nach sorgfältiger Durchsicht und Auswertung dieses Materials hat der Leiter des Instituts Oliver Corpet gemeinsam mit der Duras - Spezialistin Sophie Bogaert 2006 Teile davon veröffentlicht: autobiographisch gefärbte Erzählungen, Romanentwürfe und Alltagsskizzen aus den vier eng beschrifteten Schulheften der französische Schriftstellerin, die sie bereits damals "Hefte aus Krisenzeiten" genannt hatte.

    Marguerite Duras hat diese Hefte erstmals in der Präambel des 1985 erschienenen Textes "Der Schmerz" erwähnt und erklärt, sie habe die Hefte, die sie während des Zweiten Weltkrieges geschrieben und längst vergessen hatte, zufällig im blauen Schrank ihres Hauses in Neauphle-le Chateau gefunden. Den Rekurs auf die Hefte hielt man zunächst für den literarischen Kunstgriff einer Autorin, die die Selbstinszenierung liebte, die Fiktionalisierung der eigenen Biographie. Doch nun ist nach der Auswertung des literarischen Nachlasses die Existenz der Hefte erwiesen. Entstanden sind sie zwischen 1943 und 1949 in ihren Anfangsjahren als Schriftstellerin, in denen Marguerite Donnadieu peu à peu zur Marguerite Duras wurde. Den Künstlernamen hatte sie nach dem Heimatort ihres Vaters im Departement Lot-et-Garonne gewählt, der auch der Schauplatz ihres ersten, 1943 erschienenen Romans "Die Schamlosen" ist.

    Die "Hefte aus Krisenzeiten" gewähren einen guten Einblick in das künstlerische Schaffen einer Autorin, die ein sehr körperliches Verhältnis zur Sprache hat und die temperamentvoll, packend und eindringlich über eine extreme Bandbreite menschlicher Gefühle zu schreiben vermag: Liebe und Leidenschaft, Geburt und Tod, Folter und Schmerz. In diesen Heften zeichnen sich im Ansatz bereits die Themen ab, die Marguerite Duras im Lauf der Jahre wiederholt aufgreift, variiert und modifiziert: die Kindheit und Jugend in Indochina, die bewegten Kriegsjahre im von den Nazis okkupierten Paris, die Beziehungen zu verschiedenen Liebhabern, das politische Engagement auf Seiten der französischen Linken, zunächst in der "Résistance" - übrigens in der gleichen Gruppe wie Francois Mitterand -, danach in der Kommunistischen Partei, aus der sie jedoch 1950 wieder austrat.

    Marguerite Duras hat Ende der dreißiger Jahre in Paris im französischen Kolonialministerium gearbeitet und 1941 mit Philippe Roques bei Gallimard "L'empire francais", eine Apologie des französischen Kolonialismus herausgegeben, von der sie sich im Nachhinein distanzierte. Dagegen hat sie in Romanen wie "Heiße Küsse" und Erzählungen wie der stark autobiographisch gefärbten aus dem ersten "Heft aus Krisenzeiten" das französische Kolonialsystem kritisiert. Nach dem frühen Tod des Vaters - er war Leiter einer Kolonialschule in Vietnam - zog Marguerite Duras mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern an den Mekong, wo die Mutter großflächig Reis anbauen wollte, obwohl sie davon keine Ahnung hatte. Die Erzählung handelt vom grandiosen Scheitern dieses Projektes, der bedrohlichen Verarmung der Familie und ihren trotzigen Selbstbehauptungsversuchen in einer Kolonialgesellschaft, deren Hierarchie Marguerite Duras anhand der Sitzordnung der Schule folgendermaßen beschrieb:

    Die Töchter und Söhne der Plantagenbesitzer und hohen Beamten saßen in den ersten Reihen der Klasse, danach kamen die Kinder der gering bezahlten Beamten und schließlich die Eingeborenen. Und unter den Eingeborenen wurden diejenigen ausfindig gemacht, deren Väter vermögend waren, sie saßen direkt hinter den Franzosen.

    Voller Ambivalenzen ist das in der Erzählung ausführlich geschilderte Verhältnis zwischen der fünfzehnjährigen Marguerite und ihrem ersten Freund, dem steinreichen Léo. Beeindruckt ist sie von Léos Luxuslimousine, abgestoßen von seinem pockennarbigen Gesicht. Hocherfreut ist Marguerites Familie über Léos großzügige Geldgeschenke, doch als künftiger Ehemann kommt er auf gar keinen Fall in Betracht. " er ist und bleibt ein Eingeborener, da kannst du sagen, was du willst." gab die Mutter der Tochter zu Verstehen, nachdem sie ihr eingeschärft hatte, sich ja nicht mit ihm einzulassen. Wundert es da noch, dass der Fünfzehnjährigen nach Léos erstem Kuss speiübel wird? Ruhm und Reichtum erntete Marguerite Duras 1984 für ihren Roman "Der Liebhaber", dessen Ursprünge auf die vorliegende Erzählung zurückgehen, allerdings ist der Liebhaber des mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Erfolgsromans ein hellhäutiger Chinese.

    Im zweiten und dritten Heft evoziert Marguerite Duras die Kriegsjahre in Paris: Hass und Misstrauen gegenüber der deutschen Besatzung, das nervenaufreibende Warten der Frauen auf die Heimkehr der Männer von der Front, das sie so beschrieb:

    Ich müsste von diesem Warten erzählen, indem ich von mir in der dritten Person spreche. Es gibt mich nicht mehr neben diesen Worten. Es laufen mehr Bilder durch meinen Kopf, als es Bilder auf den Straßen Deutschlands gibt, Maschinengewehrsalven in jeder Minute im Kopf.
    Robert Antelme, der erste Ehemann von Marguerite Duras, war 1944 zunächst nach Buchenwald und von dort in den letzten Kriegstagen nach Dachau deportiert worden.
    Bis auf die Knochen abgemagert kehrte er 1945 nach Paris in die gemeinsame Wohnung in der rue St. Benoit zurück. Die KZ - Erfahrungen hat Robert Antelme später in dem Roman "Das menschengeschlecht" verarbeitet. Drastisch und direkt - Robert Antelme wähnte sich bloßgestellt und in seiner Intimsphäre verletzt, was er seiner Frau zeitlebens übel nahm - hat Marguerite Duras die körperlichen Qualen ihres Ehemanns beschrieben, die mühselige Nahrungsaufnahme, die qualvollen Ausscheidungsprozesse. In einem der zahlreichen autobiographisch gehaltenen Texte des vierten Heftes rechtfertigte sie diese Entblößung folgendermaßen:

    Vielleicht war es die Milz, die aus seinem Körper austrat, oder sein Herz. Denn was war es? Diejenigen, die das Gesicht verziehen, wenn sie dies hier lesen, diejenigen, denen das Übelkeit verursacht, auf die scheiße ich, ich wünsche ihnen, sie mögen eines Tages auf ihrem Weg einem Menschen begegnen, dessen Körper sich auf diese Weise über seinen Anus entleert, und ich wünsche ihnen, dieser Mensch möge das Schönste und Geliebteste und Begehrenswerteste sein, was sie haben. Ihr Liebhaber. Ich wünsche ihnen ein Unglück dieser Art.
    Die "Hefte aus Krisenzeiten" gewähren erhellende Einblicke in die Schreibwerkstatt der Marguerite Duras und zeigen, wie sie sich den Konflikten und Widersprüchen des XX. Jahrhunderts zu stellen versuchte, indem sie von ihren alltäglichen Beobachtungen und Erfahrungen ausging, eigenwillig, leidenschaftlich und unerschrocken; egal, ob sie den Tod ihres ersten Sohnes oder den des Vaters schilderte oder einen Liebhaber, der nach dem Sex immer über die Bibel oder den Koran zu reden pflegte.

    Marguerite Duras: "Hefte aus Krisenzeiten"
    aus dem Französischen von Anne Weber
    Herausgegeben von Sophie Bogaert und Oliviert Corpet
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.