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Eine "Angstexpertise"

Dass in dem Stück viel mehr steckt als Unterhaltung, will nun eine Theateradaption in Hannover zeigen. "Angstexpertise" ist der Untertitel des von Intendant Lars-Ole Walburg eingerichteten Stücks.

Von Michael Laages |
    Drei Wünsche hat der arme Peter frei. Und weil er ist, wie wir alle sind, wünscht er sich vor allem Gold & Geld & Gut – Klugheit, Weitsicht und Nachhaltigkeit von Gold & Geld & Gut wünscht er sich nicht. Wie Menschen halt so sind. Nach den vertanen Wünschen gerät er an einen falschen Propheten, der ihm gibt, was er statt guter Wünsche braucht für den Erfolg im Leben – ein Herz aus Stein, und kalt wie Eis. Damit tötet er nicht nur jedes menschliche Gefühl ab, sondern zum schlimmen Ende sogar die eigene Frau.

    Geschichten aus Tausendundeiner-Albtraum-Nacht hat Wilhelm Hauff versammelt, und es bedarf überhaupt keiner angestrengten Aktualisierung, um die wirklich erstaunliche Haltbarkeit von Hauffs finstren Fantasien im Hier und Heute dingfest zu machen – wie ein etwas zu freches Kind durch zauberische Machenschaften in "Zwerg Nase" verwandelt und alle Schönheit und Zukunftsfreude verliert; wie zwei arme Fischer dem großen Schatz hinterher rennen, dabei alles opfern (zum Beispiel eine Kuh) und dennoch nur ins Nichts stürzen, weil der Schatz am tiefsten Boden der See verborgen ist; wie eben der dumme Peter alle Chancen vergibt und nur die falscheste, unmenschliche, tödliche beim Schopfe packt – all das ist in der näheren und weiteren Nachbarschaft zu sehen und zu haben. Hauffs Märchen erzählen, dass der Mensch nicht lernt, obwohl er könnte – wir ahnen, dass das stimmt, wie es vor bald 200 Jahren stimmte.

    Zuweilen erinnert der hannoversche Wirtshaus-Abend unüberhörbar an Methodik und Stilistik des "Black Rider", dieser landauf-landab viel und gern gespielten Fabel-Fantasmagorie mit der Musik von Tom Waits; und dass Alain Croubalian, ein auch am Züricher Schauspielhaus oft gehörter Musiker aus Genf, den großen Sonderling der amerikanischen Song-Kultur kennt, darf vorausgesetzt werden; mit Croubalians Banjo und dem Harmonium von Reiner Süßmilch beginnt der Abend sehr verwechselbar. Mit der Zeit allerdings verlegt sich Croubalian auf die Geräuschemacherei; er hat allerlei Instrumentarium dabei, neben der flexiblen Stimme, und kreiert den "Sound" des ganz aus Holzgestrebe gefertigten Hausbaus vom Bühnenbildner Robert Schweer.

    Die Inszenierung setzt auf den ganzen Zauber, und das heißt: auf alle Gewerke des Theaters – schon Schweers Haus ist ein handwerkliches Meisterstück, und es wird auch von Hand und mächtig knirschend auf die Bühne gefahren, unter einem am Horizont wandernden, verführsam leuchtenden Vollmond. Auch die Maskenbildnerei kommt reichlich zum Zuge zu Nina Gundlachs Kostümen; wenn sich etwa weite Teile des Ensembles in Eichhörnchen verwandeln oder die Schwarzwälder Regionalgeister zum Einsatz kommen, der "Holländer-Peter" baumhoch auf riesigen Kothurnen-Wurzeln und das sehr viel freundlichere "Glasmännlein" als Dreikäsehoch auf Knien wackelnd, mit ganz schlechten Zähnen und einer extrem ulkigen Grubenlichtbrille auf der Nase. Das gelingt manchmal ähnlich liebevoll wie detailliert wie sehr gut gemachtes Kindertheater und gelingt sogar noch dadurch, dass die Figuren auch mal aus den Rollen treten und die Fantasy-Verkleidung ablegen – all das erinnert das etwas erwachsenere Publikum daran, wo und wann und wie Lust am Theater für praktisch jeden und jede begann.

    Wer auch in den Jahren und Jahrzehnten danach und seither, also auch im Alter noch sensibel blieb für die einfachen Fragen nicht bloß nach Gewinn und Verlust und "besser" oder "schlechter", sondern nach "Böse" und "Gut" und den letzten Antworten, der mag Hauffs kunstvolle Märchen (wie im Theater beschworen) auch als zeitlose Expertise nicht bloß über die legendäre "german angst" verstehen. Und womöglich hat ja nur, wer sich (auch das ist Theater!) ins Kind-Sein zurückversetzt fühlt, noch die Chance, sich ernstlich zu gruseln vor der Welt, wie sie ist. Hauff hat viel von ihr ahnen lassen.