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Eine Bilanz

Gefeilscht wurde fast so wie immer, aber es ging auch um sehr viel. Denn so viele Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, diese Chance haben selbst Staats- und Regierungschefs der EU selten. Aber auf dem Gipfel in Kopenhagen ist es gelungen: Die größte Erweiterungsrunde in der Geschichte der Europäischen Union ist besiegelt. Wenn nichts dazwischen kommt und die gestern endgültig ausgehandelten Beitrittsverträge im nächsten Jahr auch die Volksabstimmungen in den Beitrittsländern überstehen, dann wird die Europäische Union zum 1. Mai 2004, also in knapp eineinhalb Jahren, nicht mehr 15, sondern 25 Mitgliedsstaaten haben: Estland, Lettland und Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, Slowenien sowie Malta und Zypern kommen hinzu. Doch damit nicht genug: In Kopenhagen brachten die Staats- und Regierungschefs der EU noch zwei weitere Kunststücke fertig: Die Türkei bleibt weiter auf EU-Kurs, ohne dass ihr Wunsch nach einem frühen und festen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen schon erfüllt wurde, und fast schon als Nebenprodukt wurde auch noch die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU vergrößert. Denn als Gegenleistung für die Lösung in punkto Türkei beendeten nach über zweijährigem Tauziehen die Türkei und Griechenland ihre Dauerblockade, mit der beide Länder bislang verhindert hatten, dass die EU mit ihren neuen Krisenreaktionskräften im Krisenfall auf Kommandoeinrichtungen der Nato zurückgreifen kann. Am Ende dieser zwei Tage zog Gerhard Schörder denn auch eine hochzufriedene Bilanz:

Theo Geers |
    Gefeilscht wurde fast so wie immer, aber es ging auch um sehr viel. Denn so viele Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, diese Chance haben selbst Staats- und Regierungschefs der EU selten. Aber auf dem Gipfel in Kopenhagen ist es gelungen: Die größte Erweiterungsrunde in der Geschichte der Europäischen Union ist besiegelt. Wenn nichts dazwischen kommt und die gestern endgültig ausgehandelten Beitrittsverträge im nächsten Jahr auch die Volksabstimmungen in den Beitrittsländern überstehen, dann wird die Europäische Union zum 1. Mai 2004, also in knapp eineinhalb Jahren, nicht mehr 15, sondern 25 Mitgliedsstaaten haben: Estland, Lettland und Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, Slowenien sowie Malta und Zypern kommen hinzu. Doch damit nicht genug: In Kopenhagen brachten die Staats- und Regierungschefs der EU noch zwei weitere Kunststücke fertig: Die Türkei bleibt weiter auf EU-Kurs, ohne dass ihr Wunsch nach einem frühen und festen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen schon erfüllt wurde, und fast schon als Nebenprodukt wurde auch noch die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU vergrößert. Denn als Gegenleistung für die Lösung in punkto Türkei beendeten nach über zweijährigem Tauziehen die Türkei und Griechenland ihre Dauerblockade, mit der beide Länder bislang verhindert hatten, dass die EU mit ihren neuen Krisenreaktionskräften im Krisenfall auf Kommandoeinrichtungen der Nato zurückgreifen kann. Am Ende dieser zwei Tage zog Gerhard Schörder denn auch eine hochzufriedene Bilanz:

    Das war ein großer Tag für Europa, und weil das ein großer Tag für Europa war, war es auch ein großer für Deutschland, denn das gehört zusammen.

    Mit einem Kompromissvorschlag, wie er für die EU typischer nicht sein konnte, hatte Gerhard Schröder persönlich den Durchbruch in den zähen Schlussverhandlungen eingefädelt. Denn natürlich kam auch in Kopenhagen der Moment, an dem es beim Geld und damit bei den Kosten für die Erweiterung nicht mehr weiter ging. Dabei ging es nur um das Geld für die ersten drei Jahre nach dem Beitritt, also für den Zeitraum 2004 bis 2006. Ende Oktober in Brüssel wollten die alten EU-Staaten 37,6 Mrd. € zur Verfügung stellen, dann stieg die Summe rasant an auf zuletzt 40,4 Mrd. €, beschlossen am ersten Gipfelabend vor dem großen Gefeilsche mit den 10 Kandidatenländern.

    At this Moment I have no more money.

    verkündete anschließend der amtierende Ratspräsident Anders Fogh Rasmussen, um sich gleich in der ersten Verhandlungsrunde die passende Antwort von der polnischen Delegation abzuholen. Diese hatte schon vor dem Gipfel angekündigt, den Finanzrahmen voll ausschöpfen zu wollen, der 1999 in Berlin im Rahmen der Agenda 2000 für die Erweiterung beschlossen worden war: 42,6 Mrd. € - so lautete die Zielmarke aus polnischer Sicht und Verhandlungsführer Jaroslaw Pietras begründete das so:

    Wir begannen mit den Verhandlungen, und dann wurde 1999 die Agenda 2000 in Berlin beschlossen, d.h. uns wurden die Grenzen dieser Agenda vor Augen geführt. Als wir anfingen, uns vorzubereiten, als wir planen mussten, worauf wir finanziell zählen könnten, wussten wir also: Dies geschieht im Rahmen der Agenda 2000. Dem haben auch wir zugestimmt, aber jetzt sagen wir: Innerhalb dieses Rahmens sollte nun auch ein Kompromiss gefunden werden, und wir denken, dass es noch Spielräume gibt innerhalb dieses Rahmens.

    An diesen Punkt angelangt war dann Gerhard Schröder gefragt. Schließlich ist Deutschland in der EU immer noch der größte Nettozahler, andererseits aber auch das Land, das mit der Verschuldungsobergrenze des Maastrichter Vertrages derzeit die größten Probleme hat. Und so kam, was kommen musste, erzählte hinterher Joschka Fischer:

    Als es hart wurde, gerade in den Verhandlungen mit Polen, da waren es nicht wenige Kollegen, die zu uns gekommen sind, auch zu mir, und gesagt haben, Deutschland muss jetzt den entscheidenden Vorschlag machen, der Bundeskanzler hat diesen Vorschlag gemacht ..

    ... der da lautete, Polen faktisch eine Vorauszahlung in bar in Höhe von 1 Mrd. Euro zu gewähren, eine Vorauszahlung auf Gelder, die normalerweise erst nach 2007 fließen würden. Für Deutschland und die anderen Nettozahler bedeutet dies, dass sie in den Jahren 2005 und 2006 mehr in den EU-Haushalt einzahlen müssen, dass diese Summe aber nach 2007 angerechnet wird. Doch diese zusätzliche Milliarde für Polen rief naturgemäß die anderen 9 Kandidaten auf den Plan. Doch nachdem diese mit 300 Mio. € ruhiggestellt waren, meldete sich Polen erneut zu Wort. Trotz der eine Milliarde Euro in bar seien noch einige Probleme offen – die mit Abstand längste Ostgrenze der EU müsse schließlich auf EU-Niveau gebracht werden, und die polnischen Bauern kämen mit den bis dato zugesagten Milchquoten auch nicht über die Runden. Dies und vor allem die Tatsache, dass diese Erweiterungsrunde ohne Polen nicht vorstellbar ist, wirkte. 108 Mio. € für die Grenzsicherung, 25 Mio. für die zusätzlichen Milchquoten – das alles trieb die Kosten am Ende auf 40,83 Mrd. €. Nicht eingerechnet sind die Milliarde in Cash für Polen und ein faktischer Beitragsrabatt für alle EU-Neulinge, der dadurch zustande kommt, dass diese Länder erst ab dem Tag des Beitritts, also ab dem 1. Mai 2004 Beiträge an die EU zahlen, aber ab dem 1. Januar 2004 schon Leistungen bekommen. Das macht unterm Strich noch einmal 1,6 Mrd. €. Doch der Kanzler rechnete ganz anders:

    Wir sind über die Zahlen die wir in Brüssel genannt hatten, hinausgegangen. () Das war nicht anders zu erwarten, das ist in solchen Verhandlungsprozessen so. () Mir kommt es drauf an, das deutlich wird, dass das Endergebnis unter der Obergrenze, die in Berlin vereinbart worden ist, liegt, und zwar deutlich in einer Größenordnung von 1,8 Mrd. €.

    Das Gefeilsche von Kopenhagen darf dennoch die über den Tag hinaus gehende Bedeutung dieser fünften Erweiterungsrunde nicht schmälern. Denn zum ersten Mal werden Länder des ehemaligen Ostblocks in die EU aufgenommen, Länder, die – das war immer Konsens – einfach zu Europa gehören, aber eben 40 Jahre am Dazu-Gehören gehindert worden waren. Allerdings waren die bisherigen EU-Staaten auch auf der Hut. Denn im Überschwang der Gefühle, die ehemaligen Ostblockstaaten aufzunehmen, sollten nicht die Prinzipien hintan gestellt werden, auf denen die EU fußte. Also wurden auf dem Kopenhagener Gipfel von 1993 die Kopenhagener Kriterien für einen Beitritt dieser Länder aufgestellt. Jedes Land, das in die EU aufgenommen werden will, muss danach eine gefestigte Demokratie sein, die auf rechtstaatlichen Prinzipien fußt, muss die Menschenrechte achten und den Schutz von Minderheiten garantieren. Zweitens muss es sich um eine Marktwirtschaft handeln, die drittens dem Wettbewerbsdruck in der EU standhalten kann. Als vierte Bedingung schließlich muss sich jedes neue EU-Mitglied verpflichten, das gesamte Gemeinschaftsrecht der EU – rund 60 000 Seiten an Rechtstexten – vollständig zu übernehmen.

    Der eigentliche Erweiterungsprozess begann aber erst im Dezember 1997 auf dem EU-Gipfel von Luxemburg. Damals wurde beschlossen, zunächst mit 6 Ländern die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen – mit Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Zypern und mit Estland. Und schon damals mussten sich Politiker mit einer lästigen Frage herumschlagen: Wann würden diese Beitritte stattfinden. Der damalige Außenminister Klaus Kinkel :

    Ich hab immer gesagt 2002, 2003, 2004 - ich weiß es nicht. Sie wissen, dass es psychologisch ein ganz wichtiges Moment war, zu sagen: um 2000 rum. Ich hab dann immer gesagt " aber ein bisschen später rum – da muss man, glaube ich, offen und ehrlich sein.

    Klaus Kinkel sollte Recht behalten, denn die Verhandlungen dümpelten zunächst vor sich hin. In Schwung kamen sie erst, als gut zwei Jahre später – im Februar 2000 – auch mit Lettland, Litauen, der Slowakei und Malta Beitrittsverhandlungen aufgenommen wurden. Wahre Wunder bewirkte dabei vor allem die Formel, wonach jedes Land nach den eigenen Anstrengungen und Fortschritten in den Verhandlungen bewertet würde. Das spornte die Spätstarter an, und durch das von diesen Ländern an den Tag gelegte Tempo beim Aufholen kam Dynamik in die Verhandlungen. Zuchtmeister dieser Verhandlungen war der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen, der sein Credo so beschrieb:

    Ich will wirklich mit gutem Gewissen sagen können, dass dies nicht nur die am besten vorbereitete Erweiterung der Europäischen Union ist - das ist sie -, sondern ich will auch mit gutem Gewissen sagen können, dass wir die Risiken so weit es überhaupt in menschlichen Fähigkeiten steht, ausgeschlossen haben, oder dass wir Instrumente geschaffen haben, um mit den Risiken adäquat umzugehen.

    Mit Risiken meint Günter Verheugen vor allem wirtschaftliche Risiken. Denn mit Ausnahme Zyperns und Sloweniens nimmt die EU in dieser Erweiterungsrunde fast nur Länder auf, deren Pro-Kopf-Einkommen weit unter dem Durchschnitt der jetzigen Union liegt. Bisher galt die griechische Region Ipeiros an der Grenze zum strukturschwachen Bulgarien mit 41,8 Prozent des EU-Durchschnitts als die ärmste Region. Vier der zehn neuen Mitglieder, darunter auch Polen, erreichen diesen Wert noch nicht einmal. Salopp gesagt, wird die EU also ärmer. Das unterscheidet diese Erweiterungsrunde von allen vorangegangenen. Zwar vergrößert sich die EU in Bevölkerung und Fläche um jeweils 20 Prozent, aber die Wirtschaftskraft – ausgedrückt im Bruttoinlandsprodukt - steigt nur um 4,5 Prozent. Und der Zuwachs von 404 Mrd. €, den die 10 neuen Mitgliedsstaaten zusammen erwirtschaften, ist gerade so hoch wie der Beitrag, den die vergleichsweise kleinen, aber eben hoch entwickelten Niederlande derzeit zum BIP der Europäischen Union beisteuern. Das zeigt: In den mittel- und osteuropäischen Ländern ist der Nachholbedarf enorm, was im logischen Umkehrschluss heißt, hier winken und locken vor allem für die deutsche Industrie die Umsätze der Zukunft. Tatsächlich sind die Beitrittskandidaten für den deutschen Export schon längst wichtiger geworden als die USA. Allein im letzten Jahr stiegen die deutschen Exporte in diese Länder um 13 Prozent auf über 140 Mrd. €, und Deutschland profitiert, weil die Mittel- und Osteuropäer mehr in Deutschland einkaufen als umgekehrt die Deutschen aus diesen Ländern importieren, betont auch Günter Verheugen:

    Ich will nur eine einzige Zahl nennen. Zwischen 1996 und jetzt hat die Bundesrepublik Deutschland im Handel mit den künftigen Mitgliedsländern einen Überschuss von 35 Mrd. € erzielt. Das lässt sich umrechnen in Arbeitsplätze, in Steuern und in Beiträge zu den Systemen der sozialen Sicherung in Deutschland.

    Während Günter Verheugen damit vor allem auf die Chancen verweist, die sich aus dem großen wirtschaftlichen und sozialen Gefälle für Deutschland und die anderen EU-Mitglieder ergeben, verweisen andere auf die daraus erwachsenden potenziellen Risiken. Das große soziale Gefälle weckt auch Ängste – etwa vor einer massiven Einwanderungswelle aus den neuen Mitgliedsstaaten, vor der Konkurrenz osteuropäischer Billig-Arbeitnehmer und Billig-Unternehmer, die in den alten EU-Staaten zu konkurrenzlos niedrigen Löhnen und Kosten die Preise verderben und angestammte Arbeitsplätze vernichten. Für die EU-Kommission ist dies ein Mythos. Zwar rechnet auch sie damit, dass jährlich zwischen 70 000 und 150 000 Arbeitnehmer in die alte 15er-Gemeinschaft ziehen werden, allerdings würden diese Wanderungen mit steigendem Wohlstand in den neuen Mitgliedsstaaten abnehmen. Ähnlich argumentiert Bundesaußenminister Joschka Fischer.

    Die Zuwanderung hat abgenommen, wenn die Staaten reinkamen, Portugal Spanien Griechenland haben es doch selbst erlebt. Keiner geht gerne von zuhause weg, jeder bleibt gerne zu hause, das ist allen Europäern eigen, wenn er eine Perspektive hat. Wir werden das auch mit unseren östlichen Partnern erleben.

    Da es aber viele Jahre dauern wird, bis sich das Wohlstandsgefälle verringert und damit auch der Wanderungsdruck in die alten EU-Staaten abnimmt, wurde vor allem auf deutschen Druck hin eine Sicherung eingebaut. Das Recht für osteuropäische Arbeitnehmer, sich in Deutschland oder auch in Österreich, den wichtigsten Zielländern, niederzulassen und auf Jobsuche zu gehen, wurde zunächst für 5 Jahre eingeschränkt , beruhigt der Europaabgeordnete Joachim Würmeling:

    Hier gibt es eine Pufferzone, so dass wir nicht fürchten müssen, dass wir mit zusätzlichen Arbeitskräften überschwemmt werden, und wir brauchen auch nicht fürchten, dass unsere Unternehmen eingehen, weil sie der Billigkonkurrenz nicht stand halten können.

    Zwar werden diese Übergangsfristen, die auch für osteuropäische Kleinunternehmer gilt, nach drei Jahren erstmals überprüft, aber wenn diese Prüfung ergibt, dass die Einschränkungen aufrecht erhalten werden müssen, dann können sie sogar verlängert werden – auf maximal 7 Jahre, so Joachim Würmeling:

    Gegen den Willen Deutschlands können die Übergangsfristen nicht aufgehoben werden, d.h. es kann aus deutschem Interessen heraus beurteilt werden, brauchen wir diese Schutzmechanismen noch oder nicht, und insofern haben wir auch eine Sicherheit im Hinblick auf unsere Arbeitsmärkte und unseren Mittelstand.

    All dies und vieles mehr ist in den Beitrittsverträgen bis in kleinste Detail geregelt. Denn die neuen EU-Mitglieder mussten das gesamte Regelwerk der Union übernehmen. Zwar billigte die EU auch ihnen unzählige Ausnahmeregeln zu, wichtige wie etwa das Recht für Polen oder Tschechien, den Landerwerb durch Ausländer für bis zu 7 Jahre einzuschränken, aber auch skurile wie etwa das Recht für Estland, die Mindestgröße für Ostseeheringe, die für den menschlichen Verzehr bestimmt sind, unterhalb der EU-Standards festlegen zu dürfen. Aber im Grundsatz gilt das EU-Recht ab dem 1. Mai 2004 auch in den Beitrittsländern – im Umweltrecht, beim Verbraucherschutz, im Wettbewerbsrecht, in der Fischerei- oder Agrarpolitik und natürlich auch im Binnenmarkt, wozu indirekt wiederum das Wettbewerbs- und das Steuerrecht gehören, unterstreicht Erweiterungskommissar Günter Verheugen:.

    Die Wettbewerbsbedingungen sind vom Tag des Beitritts an absolut identisch, Beihilferegelungen sind dieselben, also es kann keinen Subventionswettlauf mehr geben, den es heute ja gibt, heute werden Investitionen in diesen Ländern angelockt mit Vergünstigungen, die bei uns nicht erlaubt sind, die sind vom Tag des Beitritts dann auch in diesen Ländern verboten.

    Um wirklich sicher zu gehen, dass die neuen Mitglieder dieses Recht auch nicht nur auf dem Papier übernommen haben, sondern in der Praxis anwenden, wurden schlussendlich noch besondere Schutzklauseln in jeden Beitrittsvertrag aufgenommen. Sie erlauben es der EU, sehr schnell korrigierend einzugreifen, wenn es ein neues Mitglied doch nicht so genau nimmt mit der Umsetzung des EU-Rechts, unterstreicht Günter Verheugen:

    Jetzt haben wir in den europäischen Verträgen Schutzklauseln drin, die sind aber ein bisschen kompliziert, es dauert lange bis man sie anwenden kann, und es ist besser, man hat eine Klausel, die es uns erlaubt, ganz schnell einzugreifen, wenn irgendwo ein Problem entsteht, ein punktuelles Problem.

    Mit der in Kopenhagen besiegelten Erweiterung dehnt sich die EU enorm aus. Künftig erstreckt sie sich von Lappland im hohen Norden bis nach Malta im südlichen Mittelmeer, und von Shannon im äußersten Westen Irlands bis nach Zypern im südöstlichsten Zipfel des Mittelmeeres. 2007 – auch das wurde in Kopenhagen bekräftigt – sollen mit Bulgarien und Rumänien noch zwei weitere Staaten aufgenommen werden. Doch ein Land wird bis auf weiteres auf Abstand gehalten, obwohl es der EU gleichzeitig auch einen weiteren Schritt nähergerückt ist – die Türkei. Für die Türkei beschlossen die Staats- und Regierungschefs folgendes: Im Herbst 2004 wird die EU-Kommission zunächst einen Bericht darüber erstellen, ob und inwieweit das Land die Kopenhagener Kriterien für einen Beitritt zur Union erfüllt. Sollte die EU-Kommission zu einem positiven Ergebnis kommen, wird der EU-Gipfel im Dezember 2004 beschließen, diese Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ohne weitere Verzögerungen zu eröffnen.

    Es ist ein Datum – eindeutig.

    So kommentierte Joschka Fischer das Ergebnis. Faktisch bedeutet die Kopenhagener Entscheidung jedoch einen Rückschlag für die Türkei. Ende 2003, spätestens Anfang 2004 – mit diesem Wunschtermin für den Beginn konkreter Beitrittsverhandlungen waren Ministerpräsident Gül und der Chef der Regierungspartei AKP, Recep Erdogan, nach Kopenhagen gereist. Vorangegangen war eine beispiellose diplomatische Offensive, innerhalb derer vor allem Parteichef Erdogan auf einer Rundreise durch alle EU-Hauptstädte für ein solches Datum geworben hatte. Mitte November machte er in Berlin Station:

    Es ist für uns einfach wichtig, dass ein Datum für Beitrittsverhandlungen genannt wird, das heißt ja dann nicht , dass der Beitritt auch sofort erfolgt. Seit 40 Jahren nun drängt die Türkei nach Europa, und mittlerweile gibt es in der Bevölkerung Zweifel daran, wie gut es die Europäer mit der Türkei wirklich meinen, deshalb ist es für uns jetzt ganz wichtig, dass ein Datum genannt wird.

    Doch was als PR-Offensive gedacht war, ging letztlich nach hinten los. Denn je deutlicher wurde, dass die Türkei kein fixes Datum für einen Verhandlungstermin erhalten würde, desto häufiger vergriffen sich die türkischen Politiker im Ton. Und als selbst der vor dem Gipfel entwickelte deutsch-französische Kompromissvorschlag, 2004 die Beitrittsreife der Türkei zu überprüfen und dann am 1. Juli 2005 mit den Verhandlungen zu beginnen, nur das türkische Echo ernte, dies sei unannehmbar und verdiene bestenfalls den Boykott deutscher und türkischer Waren in der Türkei, da war selbst für erklärte Türkei-Unterstützer wie Silvio Berlusconi oder Tony Blair das Fass übergelaufen. Hinzu kam die Verärgerung über die von der Türkei mit initiierte Lobbyarbeit von US-Präsident George Bush. Dieser hatte – wie inzwischen üblich Gerhard Schröder außen vor lassend – alle anderen Gipfelteilnehmer noch in Kopenhagen telefonisch bearbeitet. Doch dieses Duo infernale subtiler diplomatischer Intervention, so spottete hinterher ein Diplomat, bewirkte genau das Gegenteil des Erwünschten. Der 1. Juli 2005 wurde aus dem Vorschlag wieder herausgestrichen und durch die Formulierung ersetzt: nach der Überprüfung der Beitrittsreife so schnell wie möglich mit den Verhandlungen zu beginnen. Ob dies - wie Joschka Fischer meint - einem fixen Datum gleichkommt, wird sich 2004 entscheiden. Nach der ersten Enttäuschung zeigte sich zumindest der türkische Ministerpräsident Gül dennoch zufrieden, auch wenn aus seiner Antwort die bekannten Ressentiments der neuen Regierung in Ankara gegen die angeblich christlich geprägte EU wieder durchschimmerten.

    Einige Politiker glauben, die EU sei ein christlicher Club. Zumindest hat dieser Gipfel gezeigt, dass diese Auffassung falsch ist. Die Türkei ist ein islamisches Land, und sie haben es akzeptiert, Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Allerdings ist der Zeitpunkt nicht der, den wir uns gewünscht haben.

    Am Ende des Gipfels hatte auch die türkische Seite verstanden, dass sie sich wieder einmal selbst im Weg gestanden hatte. Denn aus türkischer Sicht betrachtet, wäre in Kopenhagen mehr drin gewesen.