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Eine breit gefächerte Liebesgeschichte

Den jungen Zahmedizinstudenten aus Indien und die deutsche Jüdin verbindet eine außergewöhnliche Liebe. Vikram Seth erzählt eine Geschichte, für die er jahrelang recherchiert hat und die den Leser packt. Dabei ist es ihm gelungen, zwei Biografien und seine Autobiografie miteinander zu verweben und ein politisch wichtiges Buch zu schreiben.

Von Simone Hamm | 07.08.2006
    Der Bräutigam blickt scheu in die Kamera. Die Frau an seiner Seite ist einen Kopf größer als er, sie trägt einen Hut mit Schleier. Shanti und Henny sind in jeglicher Hinsicht ein ungleiches Paar: Er - ein einarmiger indischer Zahnarzt, sie - eine deutsche Jüdin, die im Juli 1939, buchstäblich in letzter Sekunde, aus Deutschland emigrieren konnte.

    Kennengelernt hatten sie sich in Deutschland. Der junge Zahnmedizinstudent aus Indien suchte ein Zimmer in Berlin. Die Tochter der Vermieterin raunte ihrer Mutter zu: "Nimm den Schwarzen nicht." Die Geschichte einer außergewöhnlichen Liebe beginnt, weil die Mutter nicht auf ihre Tochter hörte. Aber erst 1951 heiraten Shanti und Henny in London. Zwei Leben in der Emigration.

    Beide haben an Deutschland gelitten. Beide haben an und in Deutschland verloren: Shanti, weil er Ausländer ist, jede Möglichkeit als Zahnarzt zu arbeiten oder an der Universität zu forschen. Henny verlor Mutter und Schwester, die in Konzentrationslagern ermordet wurden.

    Etliche Jahre später zieht ihr siebzehnjähriger Großneffe zu ihnen nach London in das Haus in der Queens Road, er will in England zur Schule gehen und dort studieren: Vikram Seth. Er muß eine Fremdsprache lernen, um an einer englischen Universität zugelassen zu werden, Hindi zählt nicht. Seth entscheidet sich für Deutsch. Beim Abtrocknen übt er mit seiner Großtante. Laut und ein bisschen falsch singt sie: Röslein auf der Heide. Henny spricht niemals über ihre Vergangenheit.

    Nicht mit ihm, nicht mit ihren Freunden, noch nicht einmal mit ihrem Mann.

    "Die Tatsache, dass Henny nicht darüber sprechen wollte, mag geheimnisvoll erscheinen. Henny sagte und schrieb in einem Brief, dass Shanti der Mensch gewesen sei, der sie am besten verstanden hätte, der mit ihrer Familie zusammengelebt und sie sogar geliebt hätte. Das war ein sehr wichtiger Grund für ihre Entscheidung gewesen, ihn zu heiraten. Aber es wäre dennoch sehr schwierig für sie gewesen, offen mit ihm über ihre Vergangenheit zu sprechen. Denn wenn sie einmal damit angefangen hätte, hätte er dieses Thema jederzeit ansprechen können, wann immer er gewollt hätte."

    Nach Hennys Tod wirft Shanti alle Briefe, alle Fotos seiner Frau fort. Zu groß ist sein Schmerz. Nichts soll ihn mehr an sie erinnern. 38 Jahre waren die beiden verheiratet gewesen. Er hatte sie verehrt von dem Moment an, als er bei ihrer Mutter einzog bis zum letzten Tag ihrer schweren Krebserkrankung. Sie hat lange gebraucht, bis sie sich für ihn entschied. Ihre Liebe war wohl nicht aus Leidenschaft geboren, sondern eher aus stiller Zuneigung und tiefer Freundschaft.

    Vikram Seths Mutter schlägt ihrem Sohn vor, den Onkel erzählen zu lassen, dessen Leben sei Stoff für einen Roman. Seth beginnt mit den langen Interviews. Wir erleben eine indische Kindheit mit unzähligen Verwandten, den Aufbruch Shantis nach Europa, das Leben im Vorkriegsberlin, die Schlachten, an denen Shanti als Sanitäter in Afrika teilnahm. Und die Bombardierung von Monte Cassino. Shanti arbeitet in einem Lazarett an der Front. Er ist gerade dabei, seine Taschen mit seinen zahnärtzlichen Instrumenten zu packen, als er von einer Granate getroffen wird. Sein rechter Arm wird abgerissen. Dennoch wird er seinen Beruf in London weiter ausüben. Er ist zäh und willensstark – und erfolgreich.

    Und dann findet Vikram Seth auf dem Dachboden einen alten Koffer seiner Großtante, voll mit Briefen und Fotos. Diese Fotos zeigen eine attraktive junge Frau im Kreise ihrer Freunde. Viele davon sind in "Zwei Leben" abgedruckt.
    Vikram Seth lernt Sütterlin Schrift. Und dann liegt es vor ihm: Hennys Leben. Hennys Briefwechsel ist sind das Herzstück von Seths dickem Buch. Ihr erster Brief, der in Abschrift erhalten ist, datiert aus dem Jahre 1939.

    "Ich hatte große Zweifel, ob ich diese private Korrespondenz nutzen sollte. Briefe sind nur da für die Augen der schreibenden Person und für die sie liest. Aber weil man durch diese Briefe einen so eine lebendigen Eindruck von Tante Henny bekommt als einer Person von großem Charakter, von Stärke, Zärtlichkeit und Hilfsbereitschaft habe ich es dann doch getan. Hätte ich mich nur auf Shantis Meinung verlassen, wäre der Eindruck ein anderer gewesen. Für ihn war sie nervös und aufgeregt, weil sie niemals um ihre Familie trauern durfte. Durch die Briefe erfährt sie Gerechtigkeit, denn man bekommt wirklich ein Gefühl für die Zeit, in denen die Menschen schwierigste ethische Entscheidungen unter unvorstellbaren Umständen zu treffen hatten.

    Entscheidungen wie: Helfe ich meinen jüdischen Freunden oder halte mich da raus? Hennys damaliger Verlobter Hans trennt sich von ihr. Dessen Vater hält zu ihr, hält den Kontakt auch in schwierigen Zeiten. Von manchen Freunden wird Henny nie wissen, wie sie sich verhalten haben. Eine Freundin, die in der Clique immer als flatterhaft und oberflächlich galt, versorgt Hennys Schwester mit Essen bis zum Tage ihrer Deportation. Eine andere gute Freundin, Lilli, wird eine glühende Anhängerin der Nazis und will nach dem Kriege von nichts gewusst haben.
    Henny schreibt:

    Zitat:
    Ich habe das sichere Gefühl bei dieser Art von Menschen, dass sie keinen Abscheu gegen all das haben, was vorgekommen ist und dass sie gern wieder die alte Zeit herbeiwünschen, weil es ihnen damals doch sehr viel besser ging. Diese Menschen, ich weiß es bei Lilli ganz genau, haben nur Ausnahmen gemacht

    "Was diese bewegenden Briefe illustrieren und herausheben ist eine Vielfalt von menschlichem Verhalten unter fast unerträglichen sozialen und politischen Druck. Man musste eine Wahl treffen: Hilft man seinen Freunden, die ja – und das ist kaum vorstellbar – während des Krieges zu Feinden erklärt worden waren. Unterstützt man sie jahrelang - psychisch und physisch unter großen Risiken für sich selbst und seine Familie? Man darf sogar fragen, ob es überhaupt moralisch ist, Freunden zu helfen, auch wenn man damit seine Familie gefährdet. Trotzdem, manche Leute haben es getan. Andere nicht und andere haben sich ziemlich schändlich verhalten. Aber das ist der Stoff, aus dem Menschen gemacht sind. Und man könnte sich sogar selbst fragen, wie würde ich mich verhalten haben?"

    Vikram Seths war ehrlich erstaunt, als seine deutschen Verleger soviel Interesse an "Zwei Leben" zeigten, so, als habe es nicht schon hunderte von Romanen und Sachbüchern zu diesem Thema gegeben. Was Vikram Seths Buch so spannend macht, ist die außergewöhnliche Perspektive. Mit indischen Augen blickt er auf den europäischen Kontinent, auf das zwanzigste Jahrhundert. Das ist völlig neuer Blick.

    4.O – Ton Vikram Seth
    In Indien history we have other completely illogical hatreds. But we seem to understand them because they are part of our history. But for me to study European history in detail – I had to study it in detail to write this book – was a kind of unusual shock.
    In Indien haben wir andere völlig irrationale Arten von Hass. Aber wir glauben sie verstehe zu können, weil sie Teil unserer Geschichte sind. Aber als ich die deutsche Geschichte im Detail studierte, was ich für dieses Buch tun musste – war das ein ungewohnter Schock.

    Das ist spürbar für den Leser. Und nachvollziehbar. Wenn Henny erfährt, wie entsetzlich das Leben ihrer Schwester und ihrer Mutter im Lager war, dass sie gequält und geschlagen wurden, dass die Frauen ein und denselben Teller als Geschirr und Nachtgeschirr benutzen mussten oder wenn eine Freundin nach dem Krieg versucht, eine Art Wiedergutmachung für Henny zu bekommen für etwas, das nicht wieder gut gemacht werden kann, wenn sie beweisen muss, dass Hennys Schwester ein Silberbesteck, Hennys Mutter einen Pelzmantel besessen hat, um ein paar Pfennige zu bekommen, treibt es dem Leser Tränen in die Augen: vor Trauer, vor Wut, vor Scham.

    Zeit ihres Lebens haben Großonkel und Großtante haben Deutsch miteinander gesprochen. Nicht zuletzt deshalb war das Verhältnis zwischen Vikram Seth und seinem Großonkel und seiner Großtante so eng. Er konnte sie verstehen und sich mit Ihnen auf Deutsch mit ihnen unterhalten. Er war wie ein Sohn für sie.
    Vikram Seth räumt auch sich selbst Raum in seinem Buch.

    Es ist die Geschichte des jungen Inders aus der Großfamilie, der nach London kommt. Müsste es also nicht besser "Drei Leben" heißen?

    "Gut, man könnte es zweieinhalb Leben nennen. Aber ich weiß nicht, wie meine Verleger das gefunden hätten. Wenn ich von mir spreche, dann nur insoweit als das mein Leben ihres berührt und ihres meines. Der Focus sollte auf ihnen liegen und auf der Familie. Als Inder sind wir Teil der Familie und sie ist ein Teil von uns."

    Jahrelang hat Vikram Seth recherchiert, hat sich in Archiven eingegraben, hat Zeitzeugen gefunden und befragt. Und er schont sich nicht, wenn er in "Zwei Leben" auch dunkle Seiten an sich selbst beschreibt.

    In einer der ergreifendsten Szenen des Buches schildert er, wie er die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem besucht. Im Archiv findet er heraus, wann Hennys Mutter und Schwester nach Theresienstadt und Auschwitz – Birkenau deportiert worden sind. Kalt und bürokratisch ist die Notiz, die an den Oberfinanzpräsidenten gerichtet ist. Sie betrifft den Abtransport von Hennys Schwester Lola.

    "In der Anlage übersende ich eine Transportliste über diejenigen Juden, deren Vermögen im Rahmen der Abschiebung durch Einziehung dem Reiche anheim gefallen sind. Das Vermögen ist nicht verfallen, sondern durch Einziehung auf das deutsche Reich übergegangen."

    Seths Knie beginnt unkontrolliert zu zittern. Da hört er in seinem Rücken die Stimme eines jungen Mannes, der ihn auf Englisch mit einem starken deutschen Akzent fragt, ob er ihm helfen könne. In diesem Moment symbolisiert der Akzent das Böse und Kranke. Vikram Seth wendet sich um und herrscht den etwa siebzehnjährigen Jungen an, wohl wissend, dass auch dieser an diesem Ort ist, um zu Bedauern, woran er keine Schuld trägt. "Ich brauche keine Hilfe."

    "Nun, ich muss sagen, ich war nicht stolz auf meine Reaktion und ich fragte mich, ob ich darüber überhaupt schreiben sollte. Es gibt zwei Gründe, warum ich es nicht wollte: einmal um mich zu schützen und dann die Frage, ob es überhaupt relevant für die Geschichte sei. Das ist ein sehr persönliches Geschehen. Wenn ich über eine berühmte Persönlichkeit geschrieben hätte, hätte ich dieses Detail nie erwähnt. Aber es ist meine eigene Familie, über die ich geschrieben habe. Und die Erfahrung dieses Schocks, die ich gemacht habe, könnte einen Widerhall finden in den Gefühlen anderer Menschen. Glücklicherweise gelang es mir - nach einer langen Zeit – die Aversion gegenüber der deutschen Sprache zu verlieren. Aber ich glaube, was das möglich gemacht hat, war, dass ich mich dazu gezwungen habe, diese Briefe von und an Henny zu lesen, die ganz normale Menschen geschickt hatten."

    Einst war Vikram Seth geradezu süchtig gewesen nach Schuberliedern, der schönen Müllerin, der Winterreise. Schubert habe seine Seele gerettet, als er mehrere Jahre lang an "eine gute Partie" schreib. Seth sang die Lieder und Schuberts Vertonungen von Heine Gedichten gingen ihm nicht aus dem Kopf.
    Doch während der Arbeit an "Zwei Leben" kann Seth nicht einmal mehr Heinrich Heine lesen. Dabei weiß er genau, dass die Loreley zu NS Zeiten nur noch anonymisiert gedruckt werden durfte. Er hört auch nicht mehr das Stück westlicher Musik, das ihm am allermeisten bedeutet, die Matthäus Passion und unterhält sich mit seinem österreichischen Schwager nur noch auf Englisch.

    "Logik und mein Sinn für Gerechtigkeit sagten mir, dass das absurd war, aber es war, als würde mir die Sprache selbst Bilder aufzwingen, die ich nicht verscheuchen und denen ich nichts entgegenzusetzten hatte. Neben einem Gedicht, in dem wilde Rosen und goldene Birnen über einem See mit Schwänen hängen, hörte ich:"… Das Vermögen ist nicht verfallen, sondern durch Einziehung auf das Deutsche Reich übergegangen."

    Hennys Briefe haben Seth schließlich mit der deutschen Sprache versöhnt. Hennys Briefe sind deshalb so anrührend, weil sie einfach geschrieben sind, weil sie authentisch sind. Shantis Erzählungen aus seinem Leben sind ebenso. Zusammengefügt hat diese beide Erzählstränge ein Schriftsteller mit seiner Kunstsprache. Daraus vor allem bezieht "Zwei Leben" seinen außerordentlichen Reiz.

    Anette Grubes Übersetzung wirkt wie mit der heißen Nadel gestrickt. Man wünschte sich eine bessere Übersetzung, etwa die Verwendung des Konjunktivs statt: als würde mir die Sprache Bilder aufzwingen also als zwänge mir die Sprache Bilder auf. Oder richtige Deklinationen also nicht: er sprach von ihm als Vertrauter, sondern von ihm als Vertrautem, nicht Hans`(mit Apostroph), wenn es sich um einen Genitiv handelt und so fort. Diese Fehler sind umso ärgerlicher, als dass es sich bei "Zwei Leben" ja um einen Roman handelt, in dem die Sprache selbst ein großes Thema ist. Shanti und Henny sprechen trotz all dem, was sie in Deutschland an Furchtbarem erlebt haben, immer noch Deutsch miteinander. Auch Vikram Seth spricht perfekt Deutsch spricht und wüsste den richtigen Gebrauch des Konjunktivs sicher zu schätzen.

    "Zwei Leben" ist ein großartiges Buch, das den Leser packt. Und das auf mehreren Ebenen: Den biografischen Fundstücken, den bürokratischen Verlautbarungen setzt Vikram Seth die aufwühlende Geschichte zweier Liebender gegenüber. Doch er geht weit über diese Liebesgeschichte hinaus .Er hat zwei Biografien und seine Autobiografie miteinander verwoben. Und nicht zuletzt erzählt Vikram Seth unsere Geschichte aus ungewohnter Perspektive und hat damit ein politisch ungemein wichtiges Buch geschrieben.