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Eine enthusiastisch bewunderte Randfigur

Georges Perros gehört zu den Autoren, die leicht durch die Raster des Literaturbetriebs fallen: Ein bescheidener Autor, der sich nicht wichtig nahm; eine literarische Form, die irgendwo zwischen Tagebuch, Erzählung, Gedicht und Roman angesiedelt ist. Es ist der ausgezeichneten Übersetzerin, ja: Nachdichterin Anne Weber zu verdanken, dass der 1978 an Kehlkopfkrebs gestorbene Franzose jetzt auch im Deutschen zu entdecken ist.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 05.09.2012
    "Man sagt mir ich sei geboren ...
    kurz ich erwarte Bestätigung
    dieses verdächtigen Ereignisses
    hat mir doch bislang nichts
    das beneidenswerte Gefühl verschafft
    ganz und gar auf Erden zu sein"


    Georges Perros, der in seinem Buch "Luftschnappen war sein Beruf" so von sich spricht, erfährt sich, wie auch seine Sprache, als "fliehend und geschwind", im Wind umhertreibend, kurz: er fühlt sich "nicht sehr auf dieser Welt". Woher kommt dann aber der Impuls, die selbst erfahrene Nichtigkeit mitzuteilen, ja, nicht nur dies, ihr in einem "Gedichtroman" eine so wunderbar poetische Gestalt und eine auf den ersten Blick epische Form zu geben, als ginge es um einen großen Helden und seine weltbewegenden Abenteuer?

    Vielleicht hat es mit einem Selbstgespräch begonnen, und da sich die Sprache nun einmal von Grund auf an den "Anderen" richtet, also mitteilend ist, hat sich das Zwiegespräch aus dem Binnenraum, vielleicht anfänglich unmerklich, geschlichen, wollte den Witz und die Schönheit des Schlichten, die in der Sprache bereitliegen, nicht für sich allein behalten.

    "Oft rede ich mit mir selbst
    ohne zu ahnen dass neben mir
    ein von mir unbemerkter Herr
    leise meinen Wahn belacht ..."


    Dennoch ist schließlich aus dem Solipsisten ein Conférencier und ein Sänger geworden, der Kunde gibt davon, wie sich sein Leben zugetragen hat, oder richtiger: wie es Form, Sprache , Text und damit erzählbar geworden ist. Die zarte, zerbrechliche "stille Lust am Leben" und der "lebendige Sinn" werden auf einmal ganz beredt. Ein eher lebensmüder Eremit (der sich von Paris an die bretonische Küste zurückgezogen hat, dort, wo der Wind am heftigsten bläst) verbreitet auch Gefühle des Frühlingshaften, erzählt liebevoll und ironisch von Begegnungen mit Dichtern, von Spaziergängen mit dem Hund und Erinnerungen an die Eltern.

    Es ist ein Vergnügen, an den Expeditionen ins Alltägliche und ins innere Ausland der Seele und der Sprache dieses in Deutschland erst noch zu entdeckenden, 1925 geborenen und 1978 gestorbenen Autors teilzunehmen; ein Vergnügen, das ermöglicht wird von der rhythmisch gar nicht zu überbietenden Übersetzung (oder richtiger: Nachdichtung) Anne Webers. Sie lotet wie eine Tiefenarchäologin der Sprache die Zwischenräume aus, in denen sich Perros bewegt.

    "Also die Schwierigkeit bestand ganz eindeutig in dieser Verdichtung der Sprache bei Perros, dieses Komprimierte, was sein Vers-Roman, Gedicht-Roman hat. Jetzt habe ich zwar diesen acht-silbigen Vers des Originals nicht übernommen, aber ich habe versucht, mit meinen freien Versen etwas von dieser Verdichtung oder Überstürzung zu bewahren, indem ich alles Überflüssige schon mal weggelassen habe, was nicht zum Verständnis direkt nötig ist, zum Beispiel manche Artikel oder Füllsel-Worte, von denen die Sprache ja voll ist. Die Schwierigkeit bestand aber auch darin, die Sprache auf eine Weise zu verdichten, die dann doch noch verständlich bleibt für den Leser."

    Perros nennt sich selbst einen "Mann der Kulissen" - und darin erkennt man in ihm auch den gelernten Schauspieler, der seine Bühne mit den Figuren seines Lebens bevölkert.

    "Ich bin nur ein Passant, der an
    den Wurzeln eines Heute ohne
    Gestern ohne Morgen saugt".


    Perros' "Luftschnappen" ist unlösbar verbunden mit Worten, die sich mäandernd ihren Raum suchen. Anne Weber:

    "Natürlich ist man bei der Übersetzung eines solchen Gedicht-Romans mehr gefordert, als man es jetzt beim Übersetzen eines gewöhnlichen oder jedenfalls eines Prosa-Romans wäre. Ich glaube, ich hätte vor ein paar Jahren eine solche Übersetzung vielleicht noch gar nicht machen können, aber einfach deshalb, weil man ein gewisses Selbstbewusstsein auch braucht, um sich Freiheiten erlauben zu können, damit das eigene dichterische Erzeugnis, was ja eine solche Übersetzung dann ist, damit dieses Erzeugnis neben dem Original Bestand haben kann."

    Dieses Stolpern - plötzliche Bremsungen, Beschleunigungen und Ausrutscher - bietet dem Autor (und die Übersetzerin nimmt, auch als Dichterin, dieses Angebot an) einen unendlichen Reichtum an unvorhergesehenen Bewegungen, Innen- und Außenansichten: Die Frontalansicht wird durchlöchert, es eröffnen sich vielperspektivische Zugänge zu Dingen und Menschen und die Möglichkeit, das Leben auch von seinem Ende her zu sehen und eine verspielte Grabrede auf sich selbst zu halten. Perros war ganz von dieser Welt, was ihm eher unheimlich war, und er bewohnte eine jenseitige Welt, erschaffen aus Worten, deren Richtung immer war: weg von der Überhöhung, hin zu einer selbstironischen, das "Wesentliche" humorvoll brechenden Unterwanderung dessen, was wir Identität nennen.

    "Bin eingeraucht wie eine Pfeife
    nicht vom Tabak sondern von der Einsamkeit ...
    Was ich schreibe
    steht auf der Mauer der Nacht
    Den Säuglingen des Nichts wird
    der Mund noch wässrig werden."


    Perros schreibt voller Melancholie, aber auch heiter und leicht, ja luftig, über seine tief empfundene Weltfremdheit, sein Befremden, seine Verblüffung und sein Sichwundern angesichts der Existenz (dass überhaupt etwas ist). Dieses Buch zeigt die Zauberwelt des nicht streng gelenkten assoziativen Schreibens, das sich (seit den Arbeiten der Surrealisten und Dadaisten) über die Enge der Logik und Rationalität hinwegsetzt und die tiefere, elementarere Ebene eines fluiden Sprechens freilegt. Dabei ereignen sich zuweilen wahre "Blitzhochzeiten" des Geistes, bei denen sich die scheinbaren Selbstverständlichkeiten des Lebens in Luft auflösen.

    Anne Weber: "Ja, natürlich hat sich mein Verständnis von Perros vertieft. Und es ist ja, wenn man ein ganzes Buch übersetzt, als würde man wirklich lange Monate in jemandes Gesellschaft leben. Und ich hab Perros in dieser Zeit kennen gelernt als einen, der schon mal auf Konventionen pfeift - und damit meine ich natürlich auch vor allem sprachliche -, als einen Hakenschläger, also einer, der flink wie ein Hase sich bewegt und sich überraschen lässt auch von den eigenen Gedankenschwüngen, der das Nebensächliche auch zur Hauptsache machen kann: zum Beispiel in dieser einen Szene, wo er die Begegnung mit einem beinah Unbekannten in einem Café beschreibt, bei der er allerdings in die Hose pinkelt, weil er den Redeschwall seines Gegenübers nicht unterbrechen kann oder will."

    Das ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Schreibens: Allem Vertrauten und Eingespielten zu misstrauen, sich das Gefühl für das eigene Sein und das der anderen Menschen immer wieder von Grund auf zu erschaffen. Und dann dem Gefühl der Verwunderung Raum zu geben: darüber, dass es ihn gibt, dass die anderen ihn ernst nehmen, dass er an seiner Einbildungskraft und den Träumen (und damit am Schreiben) festhält und die Einsamkeit für Stunden in Euphorie verwandelt. Er möchte nichts als wahrhaftig sein und für das, was er sagt, einstehen; nur sagen, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Natürlich wünscht auch er sich, "dass man mir folgte". Und in allem ist der Wunsch spürbar, die Liebe nicht verloren zu geben, auch wenn ihr Terrain von Zerrüttungen vermint ist.

    "Ein Moment ehelicher Hölle
    paar Worte zum Schädelspalten
    zerstäuben in ihrem Schrecken
    sechs Monate relativer Ruhe
    Mit Kindern ist es umgekehrt
    fünf köstliche Minuten
    lassen auf der Stelle ihre
    weinerliche Diktatur vergessen."


    In seinem erzählten assoziativen, zuweilen übermütigen, dann wieder scharfsinnigen und auch bösartigen oder die Poesie freilegenden Verknüpfen von Ereignissen, Erfahrungen und Bildern sprengt Perros die Segmente, in die die Menschen das Denken nach wichtig/unwichtig ordnen und aufteilen. Er ist ein Navigator auf dem offenen Meer der Sprache, die das Elend des Lebens für Augenblicke vertreibt.

    "Was sagen dem Kind das
    Bäume betrachtet am Fenster
    und fragt was das sei
    Was meint es die Bäume
    oder das Fenster über das sein
    Finger fährt Was will es wissen?"


    Anne Weber: "In der französischen Literatur ist Perros tatsächlich eher eine Randfigur, aber eine Randfigur, die eine enthusiastische und gar nicht so kleine Anhängerschaft hat, die im Allgemeinen gar nicht nur dem Dichter, sondern, ich glaube, auch dem Menschen Perros zugetan ist. Und zwar ist es, glaub ich, eine gewisse Haltung zum Leben, die den Lesern gefällt, und dieses, das ganz und gar Unprätentiöse daran. Er ist, also wenn einer das Gegenteil eines Snobisten ist - ich weiß nicht, wie man eine solche Eigenschaft nennen könnte -, dann ist es Perros. Nicht umsonst heißt ja der Originaltitel des Buches, den ich nicht behalten habe, 'Ein gewöhnliches Leben" - 'Une vie ordinaire'. 'Gewöhnlich' ist für Perros nichts Schlechtes."

    Georges Perros: "Luftschnappen war sein Beruf". Gedichtroman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Anne Weber. Matthes und Seitz Verlag Berlin 2012, 162 S., 22,90 Euro.