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Eine französische Institution

Seit 1968 gibt es in Frankreich den gesetzlich festgelegten Mindestlohn, den so genannten SMIC. Gedacht als arbeitsmarktpolitisches Instrument gegen Sozialdumping und als ein Mittel, brachenunabhängig allen Arbeitnehmern in Frankreich ein angemessenes Mindesteinkommen zu sichern, wird er von der Regierung unter Berücksichtigung der Inflationsrate jährlich erhöht. Margit Hillmann berichtet aus Paris.

    Bruno Mégret, 40 Jahre alt, sucht im Internet einen Job als Kellner in Paris. Rund 50 Stellenangebote findet er auf den Seiten des Arbeitsamtes. Darunter das Angebot einer großen französischen Hotelkette.

    Für eines ihrer Zwei-Sterne-Hotels in Paris sucht das Unternehmen einen Kellner im monatlich wechselnden Schichtdienst: 39-Stunden-Woche für insgesamt 1307 Euro brutto im Monat.

    Der gelernte Oberkellner beschwert sich, dass angemessen bezahlte Arbeit in seinem Beruf immer seltener wird und Restaurant- und Hotelbesitzer meistens nicht mehr als den gesetzlichen Mindestlohn ausgeben wollen.

    Der liegt in Frankreich derzeit bei 8,03 Euro brutto die Stunde. "In Paris", sagt Bruno Mégret, "kommt man damit kaum über die Runden."

    "Ich finde, die Arbeitsmarktsituation wird immer schwieriger und die Bezahlung von Jahr zu Jahr schlechter. Sehr viele Leute, die wie ich in der Gastronomie und Hotellerie arbeiten, bekommen nur noch den Mindestlohn. Das heißt, nach Abzug der Sozialabgaben bleiben etwa 1100 netto, und davon muss einmal im Jahr auch noch die Einkommenssteuer bezahlt werden. In Paris kann man mit so wenig Lohn nicht mal mehr eine Wohnung mieten. Das Leben ist sehr teuer geworden. Und wenn man auch noch Familie hat, Kinder, und der Partner ist vielleicht arbeitslos – was oft vorkommt – dann sind die Monatsenden hart, sehr schwierig."

    Der französische Mindestlohn, abgekürzt SMIC, ist längst nicht mehr die Ausnahme. Vor allem in Dienstleistungsberufen ist der SMIC als Lohn üblich. Insgesamt 15 Prozent der französischen Arbeitnehmer sind so genannte Smicards. Doch während sich viele Arbeitnehmer über einen zu geringen Mindestlohn beklagen, kritisieren französische Unternehmer und Wirtschaftswissenschaftler, der Mindestlohn sei zu hoch angesetzt. Wie zum Beispiel Elie Cohen, Ökonom und Mitglied des französischen Rates der Wirtschaftsweisen.

    "Der SMIC, der ursprünglich gedacht war als ein Minimallohn für die Sozialschwachen der Gesellschaft, wurde im Laufe der Zeit in Frankreich von allen Regierungen regelmäßig erhöht und ist inzwischen zu einer Art Regellohn geworden, an dem sich alle orientieren. Rund ein Drittel der französischen Arbeitnehmer verdienen den Mindestlohn oder liegen knapp darüber. Weil der Mindestlohn inzwischen zu hoch ist, rechnet sich das Einstellen wenig oder unqualifizierter Arbeitskräfte für die Unternehmen nicht mehr. Die Folge: Der Staat muss nun die Unternehmen über die Befreiung von Sozialabgaben subventionieren, um so wieder einen Anreiz zu schaffen, damit unqualifizierte Arbeitnehmer überhaupt noch eingestellt werden."

    Auf rund 20 Milliarden Euro Sozialabgaben jährlich verzichtet der französische Staat, um unqualifizierte Arbeitnehmer zum gesetzlichen Mindestlohn in den Unternehmen unterzubringen. "Einen weiteren perversen Nebeneffekt" nennt Elie Cohen die Schwarzarbeit illegal beschäftigter Billigarbeitskräfte in Frankreichs Baubranche, Gastronomie oder der Textilbranche. Die werde durch einen zu hohen Mindestlohn noch gefördert. Sozialdumping durch die Hintertür.

    "Ein zu hoher Mindestlohn verhindert theoretisch das Sozialdumping, provoziert aber tatsächlich die illegale Beschäftigung, die Schwarzarbeit. Das französische System ist ein zu stark reglementiertes, wo man mit komplizierten Ausnahmereglungen immer wieder gegensteuern muss, um die entstandenen perversen Effekte zu bekämpfen."

    Doch trotz aller Schwierigkeiten – weder Frankreichs Politiker noch die französischen Unternehmer stellen den gesetzlichen Mindestlohn grundsätzlich in Frage. Elie Cohen:

    "Der Mindestlohn ist eine französische Institution und nicht mehr wegzudenken. Niemand will den SMIC abschaffen, nicht mal die Unternehmer. Sie fordern nur, dass er nicht weiter steigen darf, weil er die Arbeit unqualifizierter Kräfte zu teuer macht und Neueinstellungen verhindert."