Freitag, 19. April 2024

Archiv


Eine Gang namens "Schwarze Hand" treibt Schutzgeld ein

Rußige Gebäude, die den Himmel berühren, unzählige blinkende Fenster, Marmorfassaden, elegante Kaufhäuser, auf den Straßen ein Gewimmel von Automobilen, überall eilige Herren mit Melone und Spazierstock - so sieht New York an einem Aprilmorgen im Jahre 1903 aus. Seine barfüßige Cousine Vita an der Hand bahnt sich der 12jährige Diamante einen Weg durch die Häuserschluchten.

Von Maike Albath | 22.02.2005
    Gemeinsam mit 12.870 anderen Einwanderern ist er an diesem Tag in der Neuen Welt eingetroffen, um hier sein Glück zu machen. Sämtliche Habseligkeiten hat er in einem Kissenbezug verstaut. Aber wohin soll es gehen in dieser riesigen Stadt? Statt sich zu Vitas Vater in die Prince Street aufzumachen, suchen Diamante und seine Cousine erst einmal verwirrt nach der Piazza. Schließlich nimmt sie ein freundlicher Straßenhändler unter seine Fittiche, zeigt ihnen einen Schlafplatz im Central Park und beraubt sie prompt all ihrer Besitztümer. Am Ende landen sie doch in der Prince Street.

    Die Idee zu diesem Roman hatte ich nach einer Reise in die USA. Die Geschichte von Diamante und Vita kannte ich seit meiner Kindheit, denn es handelt sich um die Geschichte meines Großvaters. Ich wusste nicht alles. Aber viele Episoden, Szenen, Bruchstücke sind mir immer wieder erzählt worden. Allerdings war ich nie auf den Gedanken gekommen, daraus ein Buch zu machen.

    Als ich aus Amerika zurückkehrte, wurde mir klar, dass ich diese Geschichte verloren hatte und sie wiederfinden wollte. Ich begann mit der Recherche. Zuerst habe ich nach Zeugen gesucht, nach denjenigen, die Diamante und Vita noch hätten kennen können. Und dann habe ich Dokumente und Unterlagen aus der Zeit gesichtet. Meine Bücher entstehen meistens so: Ich durchstöbere gewissermaßen das Geröll und halte Ausschau nach Beweisen, nach Überresten, nach den Dingen, die von jemandem bleiben, wenn dessen Leben schon längst vorbei ist,


    sagt die Autorin Melania Mazucco.

    Wie eine Spurensucherin bewegt sich die römische Schriftstellerin durch das Dickicht der Vergangenheit. Während der Arbeit an ihrem Roman durchkämmte sie Bibliotheken, wälzte alte Kirchenbücher in der Sakristei von Tufo, sichtete Karteikästen im Einwohnermeldeamt von Minturno und staubiges Archivmaterial auf Ellis Island, konsultierte Zeitungen und Zeitschriften, befragte einen blinden Großonkel nach den Erinnerungen an seinen Vater und dessen Geschichten, die er siebzig Jahre zuvor von ihm gehört hatte.

    Die aufwendige Recherche fließt ein in den dickleibigen Roman, der auf drei Ebenen erzählt wird und den Namen der Protagonistin Vita trägt. Auf der Gegenwartsebene geht es um die den mühseligen Prozess der Rekonstruktion: Melania Mazzucco wählt die Ich-Form und agiert unter ihrem eigenen Namen. Die zweite Ebene hat das Einwanderermilieu der Jahrhundertwende zum Gegenstand. Der Leser wird direkt hinein katapultiert in das Leben von Vita und Diamante, das sich in einem gemächlichen Erzählrhythmus wie ein bunter Bilderbogen entfaltet.

    In kräftigen Farben erweckt Melania Mazzucco Little Italy zum Leben: die Einwanderer schuften rund um die Uhr, leben zusammengepfercht in schmierigen Absteigen, und außer ein paar Wörtern, die kein Amerikaner versteht, beherrschen sie die Sprache ihres Gastlandes nicht. Schutzgelderpressungen einer Gang namens "Die schwarze Hand" sind an der Tagesordnung. Die dritte Erzählebene ist in der Zeit des Zweiten Weltkrieges angesiedelt: Vitas Sohn wird als amerikanischer Soldat an der italienischen Front stationiert, kehrt in das völlig zerstörte Dorf seiner Mutter zurück und begibt sich auf die Suche nach Diamante, der vor dem Ersten Weltkrieg wegen des Militärdienstes nach Italien zurückgekehrt war. Er trifft auf einen von Krankheit gezeichneten Mann. Sein ältester Sohn Roberto ist der Vater von Melania Mazzucco. Erst nach seinem Tod begann sich die Schriftstellerin mit ihrem Großvater und dessen Auswanderung zu beschäftigen.

    Ich habe mich oft gefragt, was das für Kinder waren, die da Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika aufbrachen. Amerika war damals ein kollektiver Traum für Millionen Italiener. Ich stellte mir vor, dass die Kinder es wie ein Abenteuer erlebten, oder sich zumindest darum bemühten - das große Abenteuer ihres Lebens. Gleichzeitig muss es ungeheuer traurig und schwer gewesen sein, so wie Diamante mit zwölf Jahren allein ein derartiges Unterfangen in Angriff zu nehmen. Ein 12jähriger, der aus einem kleinen Dorf in Süditalien kommt, wo er vermutlich nie auch nur ein Auto gesehen hatte, wo man auf den Feldern schuftete, wo seit Jahrhunderten Armut und Elend herrschten ohne jede Hoffnung.

    Es gab dort eine strenge soziale Kontrolle durch die katholische Kirche. Die Honoratioren wie der Apotheker und der Notar hatten die Macht in der Hand, und alle anderen waren zu ewiger Misere verurteilt. Und so ein Junge findet sich plötzlich in New York wieder, einer Stadt, die noch heute unsere Vergangenheit und unsere Zukunft zugleich zu sein scheint. Seine Familie war sehr arm, und nach Amerika zu gehen, hieß auch: zu überleben.


    Diamantes Onkel unterhält eine armselige Pension, und dort herrschen raue Sitten: Vita wird als Dienstmädchen abgestellt, schrubbt Fußböden, besorgt die Wäsche und kocht. Ihr einziger Trost ist Diamante, der sie beschützt und für sie sorgt. Zum Ausgleich bringt sie ihm englische Wörter bei. Der magere Zwölfjährige mit den blauen Augen schlägt sich als Zeitungsjunge durch, schläft mit anderen Tagelöhnern in einem Bett, hat kaum etwas zu essen und schickt trotzdem jeden Monat Geld nach Hause.

    Irgendwann landet Diamante als Leichenwäscher bei einem Beerdigungsunternehmer. Doch die pompösen Bestattungen sind nichts als Tarnung, tatsächlich ist sein Chef ein Boss der "Schwarzen Hand", jener kriminelle Organisation, die ein paar Jahre später unter dem Namen "Mafia" Furore machen sollte. Als Diamante und Vita heranwachsen, entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte zwischen den beiden. Eines Tages hat Diamante die dunklen Geschäfte satt und muss gen Westen fliehen, wo er sich beim Eisenbahnbau verdingt. Noch zuvor verspricht er Vita, bald zurückkehren und sie zu heiraten.

    Natürlich kommt alles ganz anders - wie es sich für eine veritable Liebesgeschichte gehört, folgt Verwicklung auf Verwicklung: Diamante gerät in eine Art Leibeigenschaft, Vita wird die Geliebte eines Bosses der "Schwarzen Hand". Melania Mazzucco weiß die Verstrickungen ihrer Protagonisten mitreißend zu schildern, aber vor allem liefert sie eine gründlich recherchierte Milieustudie mit zahlreichen Originaldokumenten. Ob Kinderarbeit oder Freizeitvergnügen wie Tanzgesellschaften, ob Hygiene oder sprachliche Gepflogenheiten der Einwanderer - alles fließt in ihren Roman mit ein.

    Die Probleme begannen mit der italienischen Massenemigration. In meinem Roman gibt es ein Zitat, das alle schockiert hat, aber es stammt aus einem Originaldokument: die Italiener galten damals als Bindeglied zwischen der schwarzen und der weißen Rasse, mit einer eindeutigen Tendenz zur schwarzen.

    Es handelte sich um ein total verhasstes Volk, das einem starken Rassismus ausgesetzt war. In den alten Zeitungen fand ich Karikaturen, auf denen Italiener als kleine, schwarze, hässliche, schnurrbärtige Wesen mit einem Messer in der Hand abgebildet waren, also als Mafiosi oder zumindest Kriminelle.


    Schilder, die Italienern den Zutritt zu Lokalen, Verkehrsmitteln und öffentlichen Einrichtungen verboten, waren gang und gäbe. Aber auch sonst kann man bei Mazzucco eine Menge lernen: über die Integration der Emigranten, über die Rückkehrergeneration und die Lebensbedingungen in Italien. Die römische Schriftstellerin gibt denjenigen eine Stimme, die keine haben, und arbeitet die Erfahrungen der Großelterngeneration auf. Sie waren längst dem Vergessen anheim gefallen.

    Ich habe wie eine "Historikerin" gearbeitet, auch wenn ich in Wirklichkeit natürlich Romanautorin bin und am liebsten Geschichten erzähle. Das, worum es geht, liegt oft jenseits der Dokumente. Jeder, der wie Diamante nach Italien zurückkehrte, berichtete etwas anderes, vieles wird mythisiert. Es kam also darauf an, den Leuten zuzuhören, um herauszufinden, wie Erinnerung überhaupt funktioniert.

    Das Gedächtnis ist selektiv und trügerisch. Auch die vielen Lügen, die zum Beispiel mein Großvater meinem Vater erzählte, hatten ja einen Sinn, ich wollte aufdecken, warum sie erzählt worden waren, welche Identität man sich mithilfe dieser Schwindeleien aufbauen wollte. Vieles war sehr bewegend. Eine beinahe hundertjährige Frau, die einzige, die meine Helden gekannt hat, sagte mir: "Es stimmt nicht, dass es einen traurig macht, sich zu erinnern, man wird traurig, wenn man anfängt, zu vergessen".


    Vita ist ein Buch gegen das Vergessen von Demütigung, Armut und Leid, und es ist auch ein kleines Lehrstück darüber, dass Einwanderern immer dieselben Vorurteile anhaften: Albanern ergeht es heute in Italien kaum besser als der Großvätergeneration in Amerika. Melania Mazzucco gelingt eine kurzweilige Form von Geschichtsunterricht: das Schicksal ihrer Helden wird zu einer exemplarischen Tragödie unserer Tage.