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"Eine geballte Ladung Energie"

Im Alter von 98 Jahren ist die aus Frankreich stammende Künstlerin Louise Bourgeois in New York verstorben. Bourgeois habe vor allem in ihrem Spätwerk die Unterdrückungsmechanismen gezeigt, denen Frauen ausgesetzt seien, sagt der Kunsthistoriker und Kurator Jean-Christophe Ammann.

Jean-Christophe Ammann im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Burkhard Müller-Ullrich: Sie pflegte pfleglich mit Männern umzugehen, drei Söhne und einen Mann hatte sie und liebte alle sehr, und den Hund auch, und den meterlangen Phallus, den sie da auf dem Foto von Robert Mapplethorpe herumtrug, den fand sie niedlich und wollte ihm nichts Böses. Man hört das Launige in der Stimme dieser unter Surrealisten aufgewachsenen Frau und man hört etwas Programmatisches. Riesige Spinnen, Frauenpuppen mit Riesenbrüsten, alle möglichen Wesen mit Riesengeschlechtsteilen – das sind Figuren, an denen man sofort Louise Bourgeois erkennt. Die gebürtige Französin und gewordene Amerikanerin ist gestern im Alter von 98 Jahren in New York gestorben – eine sehr jugendliche Dame, die frei, immer zu Späßen aufgelegt und nicht sehr artig war, wie sich der französische Kulturminister Frédéric Mitterand ausdrückte. Jean-Christophe Ammann, Sie haben sie auch persönlich gekannt. Wir wissen von ihr, dass sie eine Getriebene war, als Künstler geboren zu werden, sei nicht nur ein Privileg, sondern auch ein Fluch, pflegte sie zu sagen. Was trieb sie an, was trieb sie um?

    Jean-Christophe Ammann: Also, wenn man ihre Biografie anschaut, dann ist das ja eine unglaubliche Begabung gewesen, sowohl in naturwissenschaftlichem, mathematischem, philosophischem Bereich – sie hat ja über Kant und Blaise Pascal Magister geschrieben – und dann eben aber auch die emotionale Seite. Und beides hat sich bei ihr immer sehr stark verbunden. Ich glaube, diese Frau hat etwas geschaffen, das absolut einmalig ist. Sie hat feminine Inhalte intimster Art in eine Form gebracht, und das Interessante im Werk von Louise Bourgeois ist folgendes: Es war immer ein Insider-Wissen, das rumgereicht wurde, und erst nach dem Zusammenbruch der historischen Avantgarde Mitte der 70er-Jahre wurde ihr Werk immer stärker ins Rampenlicht gerückt. Sie hat ja in den 50er-Jahren, 1950er-Jahren Arbeiten gemacht, wo man nicht wusste, wie die anzuschauen sind. Denn die amerikanische Kunst war ja durch und durch von diesen Stilen geprägt – ob das nun der abstrakte Expressionismus ist mit Jackson Pollock, Clyfford Still, Franz Kline und so weiter, dann waren Rauschenberg und Jasper Johns, dann war die Pop-Art. Wo war Louise Bourgeois? Die ist wirklich aus dem Dunklen immer stärker in den Vordergrund gerückt, und der Grund ist einfach der, dass in dem Moment, wo die historischen Avantgarden zusammenbrachen, der Horizont wieder 360 Grad sich geöffnet hat. Und vor allem, wenn man sich vor Augen führt, wer eigentlich - nennen wir das eine symbolische Zahl - 1968 und das ganze Feld darum herum, wer hat am meisten profitiert? Das waren die Frauen. Vorher gab es Frauenkunst und nachher gab es Künstlerinnen.

    Müller-Ullrich: Sie sprachen ja gerade eben schon von den femininen Inhalten. Was ist denn darunter genau zu verstehen?

    Ammann: Die femininen Inhalte sind, dass Louise Bourgeois sich ganz stark auch mit den Strapazen, mit den Peinigungen der Frauen auseinandergesetzt hat. Ihr ganzes Werk und vor allem auch das Spätwerk, die gestrickten Arbeiten, die genähten Arbeiten zeigen versehrte Frauenkörper, und diese versehrten Frauenkörper beziehen sich natürlich auch weltweit auf die abscheulichsten Unterdrückungsmechanismen, die Frauen ausgesetzt waren. Und was hier gelungen ist: eine Form für dieses Intime zu schaffen – und das hat sich durchgesetzt, und deshalb ist diese Frau hundertprozentig gegenwärtig.

    Müller-Ullrich: Vom Auftreten her empfindet man sie eher als frech, vielleicht sogar bärbeißig, sie hat immer sehr viel gewagt und es drückt sich ja auch in dem Kolossalen aus, was sie geschaffen hat: Ihre Skulpturen sind immens, die passen auch nicht in jedes Museum rein. Als die Tate Gallery, die neue Tate in London eröffnet wurde, war man froh, dass man überhaupt so einen riesigen Raum hatte, von dem man wusste: Den bespielt am besten Louise Bourgeois.

    Ammann: Ja, ja. Ich meine, wenn man ihre Gesichter anschaut, auch die Fotos, die Robert Mapplethorpe gemacht hat, ich meine – dann hat man es fast schon mit einem Viersternegeneral zu tun. Also, ich meine, da ist eine geballte Ladung Energie versammelt.

    Müller-Ullrich: Herzlichen Dank für Ihre Auskünfte, Herr Ammann! Das war der Kunsthistoriker und Kurator Jean-Christophe Ammann in Frankfurt am Main, und wir sprachen über Louise Bourgeois, die gestern im Alter von 98 Jahren in New York gestorben ist.