Freitag, 19. April 2024

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Eine Geschichte des Lesens

Alberto Manguel war schon immer ein leidenschaftlicher Leser. Schon als kleiner Junge zog er sich, wenn seine Klassenkameraden Fußball oder Verstecken spielten, lieber mit einem Buch in eine Ecke zurück. Durchaus nicht zur Begeisterung seiner Eltern:

Martin Ebel | 12.04.1998
    "Geh raus und lebe, sagte meine Mutter immer, wenn sie mich lesend fand, als hätte meine stille Beschäftigung ihrer Vorstellung vom Leben widersprochen."

    Damals war Alberto noch nicht belesen genug, um mit dem Satz des französischen Autors Gustave Flaubert zu kontern: "Lies, um zu leben!" Diesen Konter liefert er jetzt nach, mit einigen Jahrzehnten Verspätung, dafür aber um so gründlicher und auf mehr als 400 Seiten. Sein Buch "Eine Geschichte des Lesens" ist eine Liebeserklärung an das Lesen als Lebensform. Flauberts Satz steht als Motto vorne an, nebst anderen Motti anderer Lese-Enthusiasten, und im Innern seines Buches findet sich eine Fülle schwärmerischer Sätze über den Zauber, der von den schwarzen Zeichen ausgeht.

    "Wir können gar nicht anders: Das Lesen ist wie das Atmen eine essentielle Lebensfunktion", heißt es da etwa, woraus der Verlag den zug- und werbekräftigen Spruch destilliert hat: "Lesen ist wie atmen."

    Umgekehrt hieße das: Wer nicht liest, stirbt den Erstickungstod. Was wird aber aus den Vielen, die nicht lesen können? Hans Magnus Enzensberger hat einmal den Analphabeten als den Normalfall der Geschichte bezeichnet, den Leser als die Ausnahme. Nimmt man die Leser im engeren, im enthusiastischen Sinne, nämlich die Genießer poetisch gestalteter Worte, die Liebhaber von Literatur, dann schrumpft diese Minderheit,

    Ist Alberto Manguels "Geschichte des Lesens" also ein Buch für Sektierer? Versteht man darunter weniger abwertend als der Wortherkunft nach diejenigen, die einer Lehre folgen, dann trifft es zu. Und die Lehre, die Manguel verkündet, lautet schlicht und einfach: Nur wer liest, lebt.

    Lesen, führt Manguel aus, ist eine universelle Form der Wahrnehmung. Eigentlich lesen wir immer, auch wenn wir nichts davon merken:

    "Der Astronom liest am Himmel in Sternen, die längst nicht mehr existieren; japanische Architekten lesen die Beschaffenheit des Grundstücks, auf dem sie ein Haus errichten wollen, um es vor bösen Geistern zu bewahren, Jäger und Naturforscher lesen die Wildfährten im Wald; Kartenspieler lesen die Gesten und Mienen ihrer Partner, bevor sie die entscheidende Karte ziehen. Ballettänzer lesen die Notierungen des Choreographen, und die Zuschauer lesen dann die Figuren des Tanzes auf der Bühne. Teppichweber lesen die verschlungenen Muster eines gewebten Teppichs, Organisten lesen mehrere simultane Stimmen, um sie zu einem orchestralen Klang zusammenzuführen, Eltern lesen im Gesicht ihres Babys, um nach Anzeichen der Freude, der Angst oder des Staunens zu suchen. Chinesische Wahrsager lesen uralte Zeichen, die in den Panzer einer Schildkröte geritzt sind, Liebende lesen den Körper der Geliebten nachts im Dunklen unter der Decke. Psychologen helfen ihren Patienten, die eigenen befremdlichen Träume zu lesen; hawaiische Fischer lesen die Meeresströmungen, indem sie die Hand ins Wasser halten; der Bauer liest am Himmel, welches Wetter zu erwarten ist, und alle teilen sie mit den Lesern von Büchern die Fähigkeit, Zeichen zu erkennen und mit Bedeutung zu füllen."

    Natürlich geht es dem Schwarmgeist Manguel dann doch nur um die letztgenannte Form des Lesens; der Gott, den er anbetet, ist der der Literatur, der Werke wie die "Schatzinsel" und den "Ulysses" entstehen ließ, den "Huckleberry Finn", die "Odyssee" und die "Göttliche Komödie". Manguels Schwärmerei nimmt Züge einer Religion an, mit ihren Ritualen - leidenschaftliche Leser haben Leseorte, Lesehaltungen, Lesezeiten -, ihren Hausgöttern, Propheten und Aposteln, ihren Reliquien - ein bestimmtes Exemplar, eine mit eigenen Anmerkungen versehene Ausgabe - und ihren Kirchen und Heiligtümern: den Bibliotheken. Und schließlich sind Leser immer wieder verfolgt worden, ihre Reliquien verbrannt, ihre Kirchen zerstört: von der Bücherverbrennung des chinesischen Kaisers Shihuang-ti im zweiten Jahrhundert vor Christus bis in die Zukunft des Romans "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury, in dem die Feuerwehr Bücher aufspürt und den Flammen übergibt, zieht sich die Feindschaft von Macht und Literatur.

    Die Reformation Martin Luthers erklärt Manguel - einseitig, aber nicht falsch - als Revolution eines Lesers, der das Recht für sich (und dann auch für alle anderen Gläubigen) in Anspruch nahm, das Wort Gottes selbst zu lesen, ohne durch eine autoritäre Auslegung geführt und gegängelt zu werden. Der Leser ist der aufgeklärte, ja der bessere Mensch: Daran läßt Alberto Manguel keinen Zweifel. Wie aber macht man aus einer solchen Haltung ein Buch, das mehr sein will als ein Traktat? Erklären kann man Religionen ja nicht, nur wer glaubt wird selig, und die Berichte religiöser Verzückungserlebnisse haben zwar manchmal poetische, aber meist wenig informative Qualitäten. Ähnlich ist es um die Verzückungsberichte von Lesern bestellt. Wer dergleichen liest, wird allenfalls an die eigenen erinnert - wenn er solche gehabt hat, sonst geht es ihm wie dem Farbenblinden, dem wir die Rottöne des Malers Rothko oder das Blau von Yves Klein zu schildern versuchen. Den Moment des glücklichen Versinkens, des Weltverlusts und der Weltneugewinnung nacherlebbar zu machen, ist so schwer wie die unio mystica aufs Papier zu bringen. Manguel hat sein Buch deshalb nicht ohne Grund "A history of reading" genannt, die deutsche Übersetzung hat die Formulierung beibehalten: "Eine Geschichte des Lesens". Der unbestimmte Artikel ist ebenso wichtig wie das nachfolgende Substantiv.

    "Letztlich ist die wahre Geschichte des Lesens wohl die eines jeden Lesers."

    Zum Beispiel die Alberto Manguels, geboren 1948 in London, aufgewachsen in Tel Aviv und Buenos Aires, kanadischer Staatsangehörigkeit, wieder lebend und lesend in London, Verlagslektor, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, vor allem aber: Leser. Indem er - verstreut auf den vielen Seiten seines Buches - von seinem Leben erzählt, erzählt er vor allem von Lektüren. Zuerst von dem Erweckungserlebnis des Vierjährigen - "Ich war allmächtig, ich konnte lesen". Dann vom Glück des jungen Erwachsenen, von keinem geringeren als Jorge Luis Borges zum Vorleser erkoren zu werden; der damals schon blinde Direktor der Nationalbibliothek von Buenos Aires und Verfasser ganzer imaginärer Enzyklopädien streifte mit ihm, unsystematisch aber ungeheuer anregend, durch das Reich der großen Autoren, als wohnten sie allesamt um die Ecke. "Ich war nichts als sein Notizbuch, das der blinde Mann brauchte, um seine Ideen zusammenzutragen."

    Manguel schreibt von Büchern als Heimstatt, vom Lesen als Schutz vor der grauen oder bösen Welt, von dem Zauber der Bibliotheken oder dem liebsten Leseplatz von allen: im Bett.

    "Niemand würde nach mir rufen und irgend etwas von mir verlangen; mein Körper brauchte nichts, er lag unbeweglich unter der Decke. Alles was geschah, geschah im Buch, und der Erzähler der Geschichte war ich. Das Leben vollzog sich, weil ich die Seiten umblätterte. Ich kann mich wohl kaum an eine tiefere, allumfassendere Freude erinnern als den Augenblick, wenn ich kurz vor dem Ende des Buches angelangt war: Ich legte das Buch weg, um mir den Schluß für den nächsten Tag aufzuheben, ich schloß die Augen mit dem Gefühl, die Zeit angehalten zu haben."

    Das ist schön gesagt, und wer unter uns Lesern kennt es nicht, dieses Verlangen, die Lust auszukosten, indem man ihre Erfüllung noch etwas aufschiebt?

    Ein Lese-Enthusiast, ein Bruder im Buche, den Manguel noch nicht kennen konnte, weil er eine Figur eines erst in diesem Frühjahr erschienenen Buches ist, treibt diese Lust bis zum Paradox: Das schönste Buch ist für ihn das, das man nicht liest, die schönste Lektüre der Verzicht auf sie. Der Bibliothekar Feldt in Gerhard Roths Roman "Der Plan" "war davon überzeugt, daß niemand sonst Bücher so inspiriert las wie er - aber gleichzeitig würde er niemals mit irgend jemandem darüber sprechen, da er dachte, daß jeder ernsthafte Leser dieser Überzeugung war. Es gab Werke, die er nie gelesen hatte und trotzdem verehrte, wie Joyces ‘Finnegans Wake’ oder Miltons ‘Das verlorene Paradies’. Er war davon überzeugt, daß die Vorstellung, die er sich von ihnen machte, inspirierender war, als es die tatsächliche Lektüre sein würde. So blieben noch alle Möglichkeiten, ungeahnte Perspektiven des Lesens für ihn offen (vielleicht sogar die absolute Erfüllung, lesend auf das wirkliche Leben verzichten zu können)."

    Ganz verzichten darauf, zu erklären, was sich beim Lesen abspielt, will Manguel allerdings nicht. Ein Kapitel seiner "Geschichte des Lesens" widmet sich dem physiologischen Vorgängen bei der Lektüre, geht also das, wovon er meistens nur in den höchsten Tönen schwärmt, mit dem naturwissenschaftlichen Besteck an. Weit kommt man damit nicht, stellt sich bald heraus. Zwar haben sich schon die Gelehrten der Antike und des Mittelalters mit der Frage, was Lesen eigentlich sei, befaßt und allerlei kluge Theorien dazu entwickelt, die Manguel geduldig und allzu ausführlich nachzeichnet: von Galen und Euklid über Epikur und Aristoteles zu der "synthetischen" Theorie des arabischen Gelehrten Al Haytham aus dem 11. Jahrhundert, der Lesen zu einem hochkomplexen Vorgang erklärt, dessen erfolgreicher Vollzug die Koordinierung von hundert verschiedenen Fertigkeiten verlangt. Viel weiter ist die moderne Neurolinguistik auch nicht gekommen. Wir wissen inzwischen, daß unsere Augen in wilden Sprüngen, den sogenannten Sakkaden, über die Seiten springen, und in den kurzen Pausen dazwischen den Text aufnehmen. Wir wissen, in welchen Zonen des Gehirns die aufgenommenen Reize verarbeitet werden. Wie aber Schriftzeichen als Wörter begriffen und mit Bedeutung versehen, wie Wörter zu Botschaften verbunden, interpretiert und bewertet werden - das ist weiterhin ein großes Rätsel, ganz zu schweigen von der ästhetischen Dimension der Lektüre.

    "Ob sich das Lesen unabhängig vom Hören vollzieht, ob es sich in einer einzigen Gruppierung von psychologischen Vorgängen abspielt oder ob es aus einer Vielzahl solcher Prozesse besteht, wissen die Forscher noch nicht, aber viele vermuten, daß das Lesen ein ebenso komplexer Vorgang ist wie das Denken selbst."

    Warum Lesen beglückt, ist, wie wir gesehen haben, schwer mitteilbar; wie Lesen funktioniert, ist, wie wir gehört haben, kaum erklärbar - genausowenig wie der künstlerische Schöpfungsakt, mit dem es nicht wenig gemeinsam hat. Wenn schon ins Zentrum des Lesens nicht einzudringen ist - an der Peripherie gibt es genügend Beobachtungen zu machen. Und hier, im Äußerlichen, liegt die Stärke von Manguels "Geschichte des Lesens", das im "Eigentlichen" etwas unbefriedigend bleibt. Bereichernd, belehrend, amüsant und unterhaltsam ist sein Buch in jenen Partien, die sich den Umständen des Lesens widmen, dem Drumherum sozusagen. Manguel beantwortet uns eine Fülle von Fragen, die wir uns selbst nie gestellt haben, die uns aber, einmal gestellt, durchaus interessieren. Als da wären: Warum haben Bücher die Form, die sie nun einmal haben? Seit wann lesen die Menschen still? Wie kam es zur Ordnung der Bücher, zum System des Katalogisierens? Was haben Bücher und Brillen miteinander zu tun? Manguel schreibt über Lesehaltungen und Lesehilfsmittel, über das Lesenlernen und Leseverbote, über Papier und Pergament, Buchrücken und Bücherregale, über das Lesen auf der Toilette und die legendäre Bibliothek des antiken Alexandria, die eine halbe Million Papyrusrollen umfaßte. Buchhandel und Bücherdiebe, Fälscher und Zensoren, Büchersammler und Büchernarren: Es gibt nichts, was Manguel nicht einer Erörterung für wert hielte. Und meist geht er dazu von einem persönlichen Erlebnis aus.

    So saß der junge Alberto einmal in der Bibliothek seines Vaters und schlug in einem Lexikon so verwirrende Wörter wie "Gonorrhoe" nach. Der Vater tritt ein, und Alberto begreift, daß er seelenruhig weiterlesen kann: Dem Leser sieht niemand an, in welchen verbotenen Reichen er sich gerade bewegt. Dieses stille Lesen - jetzt kommt der Sprung in die Kulturgeschichte - ist historisch keine Selbstverständlichkeit. Der heilige Augustinus bemerkte es mit Verblüffung beim Mailänder Bischof Ambrosius: "Wenn er las, berichtet Augustinus, überspannten seine Augen die Seiten, und mit dem Herzen nahm er die Bedeutung auf. Seine Stimme schwieg, und seine Zunge blieb unbewegt. Jeder konnte sich ihm frei nähern, und da die Gäste meist nicht angekündigt wurden, geschah es oft, wenn wir ihn besuchten, daß wir ihn still lesend vorfanden, denn er las niemals laut." Merkwürdig genug in diesem 4. Jahrhundert, daß Augustinus es besonders hervorhebt. Üblich war damals die Rezitation, vor allem bei religiösen Texten, bei denen Lautgestalt und Bedeutung zusammengehören.

    "Die Ursprachen der Bibel - Aramäisch und Hebräisch - unterscheiden nicht zwischen dem Akt des Lesens und dem des Sprechens; beide werden durch dasselbe Wort ausgedrückt. Das volle Verständnis der heiligen Schriften, in denen jeder Buchstabe, ihre Anzahl und Reihenfolge von der Gottheit bestimmt waren, erforderte nicht nur den Einsatz der Augen, sondern den des ganzen Körpers: Er mußte sich im Rhythmus der Sätze wiegen, die heiligen Worte mußten wie ein Getränk an die Lippen geführt werden, damit nichts von ihrer göttlichen Essenz verloren ging."

    Die Bibliotheken des Altertums, vermutet Manguel, müssen von ständigem Gemurmel erfüllt gewesen sein. Aber auch profane Texte wurden vorgetragen - die meisten Menschen konnten ja selbst nicht lesen -, es waren Hörtexte. Erst im 9. Jahrhundert war das stille Lesen allgemein üblich - und damit die "ungestörte Beziehung des Lesers zum Buch".

    "Der Leser gewann Zeit, den Sinn der Worte auszukosten und ihrem Klang, den er ja kannte, in seinem Inneren nachzulauschen. Der Text, durch die Buchdeckel vor neugierigen Blicken geschützt, wurde zum Alleinbesitz des Lesers, zu seinem geheimen Wissensschatz, egal, ob er in der geschäftigen Schreibstube saß, auf dem Marktplatz oder ungestört in seiner Kammer."

    Lautes Lesen hat sich in bestimmten Zusammenhängen dennoch gehalten. So erklärt die Ordensregel des heiligen Benedikt das Vorlesen zum wesentlichen Bestandteil des Klosteralltags. In Artikel 38 heißt es:

    "Zu den Mahlzeiten der Brüder soll stets gelesen werden. Und es soll die größte Stille herrschen bei Tisch, so daß kein Flüstern und kein Laut vernehmbar ist außer der Stimme des Vorlesers. Und die Speise, deren die Brüder bedürfen, sollen sie sich gegenseitig reichen, auf daß niemand gedrängt werde, nach ihr zu verlangen."

    Dreizehn Jahrhunderte später kam in Kuba ein Zeitungsverleger auf die Idee, den Arbeitern in den Zigarettenfabriken vorlesen zu lassen. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es in einer ganzen Reihe von Fabriken solche Vorlesungen, die von den Arbeitern selbst bezahlt wurden, sehr beliebt waren und alsbald vom Gouverneur Kubas verboten wurden. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wanderten viele kubanische Arbeiter nach Florida aus und nahmen dort die Institution der Fabrik-Vorlesungen wieder auf.

    "Mein Vater", erinnert sich ein kubanischer Maler, "war Vorleser in der Zigarrenfabrik Eduardo Hidalgo Gato vom Anfang des Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre. Am Morgen las er die neusten Meldungen vor, die er aus der Lokalzeitung ins Spanische übersetzte. Die Weltnachrichten las er direkt aus den kubanischen Zeitungen, die täglich mit dem Schiff aus Havanna kamen. Von Mittag bis drei Uhr nachmittags las er aus einem Roman. Es wurde erwartet, daß er die Stimmen der handelnden Figuren imitierte wie ein Schauspieler." Arbeiter, die etliche Jahre in den Fabriken zugebracht hatten, waren in der Lage, lange Gedichte und sogar Prosatexte auswendig zu sprechen.

    Wenn wir heute zu einer Lesung gehen, obwohl wir die Bücher doch selbständig zu Hause im bequemen Sessel lesen könnten, dann, um den Autor selbst zu hören. Wenn er für ein Publikum die Worte formt, die er doch schon lange Zeit zuvor zu Papier gebracht hat, scheint es, als wohnten wir dem Schöpfungsakt noch einmal bei - oder erhaschten wenigstens einen Abglanz davon. Solche Dichterlesungen, erfahren wir bei Manguel, sind keine Erfindung der Neuzeit. Sie waren schon in der Antike üblich. Herodot las bei Olympischen Spielen vor, Tausende hörten ihm zu. Reiche Römer reservierten in ihren Villen ein eigenes Zimmer für den Vortrag von Dichtungen. Von den Zuhörern wurde keine andächtige Stille erwartet, sondern durchaus kritisches Eingreifen. Diese Lesungen mit Diskussion konnten bis zu drei Tagen dauern, und sie nahmen in einer Weise zu, die den Satiriker Martial zu folgendem bösen Kommentar veranlaßten:

    Ich frag euch, wer erträgt noch diesen Eifer? Ihr lest mir vor, wenn ich da stehe, Ihr lest mir vor, wenn ich mich setze, Ihr lest mir vor, wenn ich euch fliehe, Ihr lest mir sogar vor beim Scheißen!"

    Ende des 14. Jahrhunderts las der französische Historiker Froissart dem Grafen du Blois, der an Schlaflosigkeit litt, seinen Ritterroman "Méliador" vor, offenbar ein wirksames Schlafmittel; die Lesung dauerte sechs Wochen. Molière las seinem Dienstmädchen vor, um Pointen und Dialoge zu testen, Rousseau seine "Bekenntnisse" in Pariser Salons, weil sie nicht gedruckt werden durften, und der englische Romancier Charles Dickens machte die Lesung zu einer eigenen Kunstform. Wochenlang bereitete er seine Auftritte vor, studierte Gestik, Mimik und Stimmführung ein, um das zu erreichen, was ein Zeitgenosse so beschrieb: "Ein Mann begann haltlos zu weinen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und senkte den Kopf auf die Lehne des Sitzes vor ihm, er zuckte geradezu vor Rührung. Ein anderer lachte immerzu, wenn er spürte, daß der Auftritt einer bestimmten Gestalt bevorstand, er rieb sich jedesmal die Augen, und wenn die Gestalt dann tatsächlich auftrat, stieß er eine Art Schrei aus, als ginge ihm das über den Verstand."

    Manguel zitiert aber auch Kritiker dieser öffentlichen Lesungen. Der spanische Schriftsteller Dámaso Alonso "betrachtete Dichterlesungen als Ausdruck der snobistischen Heuchelei und der heillosen Oberflächlichkeit unserer Zeit. Verglichen mit der allmählichen Entdeckung eines Buches in stiller, einsamer Lektüre erschien ihm die flüchtige Begegnung mit einem Autor in einem überfüllten Saal als die wahre Frucht unserer besinnungslosen Hast, mit anderen Worten: unserer Barbarei. Denn Kultur ist Langsamkeit."

    Manguels Buch ist voller Lesefrüchte und Anekdoten rund ums Buch, ein Panorama von Bücherfreunden, Büchersammlern, Büchernarren. Unmöglich, sie alle zu nennen - aber der persische Großwesir Abdul Kassem Ismael aus dem 10. Jahrhundert soll nicht unerwähnt bleiben, der sich ungern von seiner Bibliothek aus 117.000 Werken trennte und sie deshalb auf Reisen einfach mitnahm: auf dem Rücken von vierhundert Kamelen, die darauf abgerichtet waren, in alphabetischer Reihenfolge zu trotten. Oder der Graf Libri, der im 19. Jahrhundert den Auftrag bekam, einen Katalog der Handschriften der Bibliotheken aller französischen Départements zu erstellen. Libri reiste durch die Lande, besuchte Bibliotheken und Archive, notierte, was vorhanden war - und nahm unter seinem weiten Umhang mit, was ihm gefiel. Dieser Kenner und Liebhaber war einer der größten Bücherdiebe aller Zeiten. Lange blieb sein Treiben verborgen, trotz mancher Beschwerden bestohlener Bibliotheken; Premierminister Guizot, der Libris Trauzeuge gewesen war, vertuschte sie regelmäßig. Erst mit der Revolution 1848 flog Libri auf, konnte aber nach England fliehen - mit 18 Bücherkisten im Gepäck. Um sich an seinem Nachfolger zu rächen, beauftragte er einen berüchtigten Fälscher, diesem eine Autographensammlung mit Briefen von Caesar, Nero, Kleopatra und sogar der biblischen Maria Magdalena anzudrehen - der Enthusiast, blind vor Begeisterung, fiel darauf rein und zahlte eine hohe Summe für das bibliophile Fake.

    Nicht alles, was Manguel zu erzählen hat, ist gleich amüsant und lehrreich; auf manche trockene Bildungsfrucht, manchen Wissensballast hat er nicht verzichten mögen. Einiges wünschte man sich knapper gefaßt, gebündelter, systematischer dargestellt. Aber ein Systematiker ist er nicht, will er nicht sein. Sein Buch ist ein Streifzug, bei dem er allerlei verstreutes gesammelt hat - und nichts anderes sagt ja das Wort Lesen in seiner ursprünglichen Bedeutung. Auch daß Manguel Legenden ungeprüft wiedergibt, verzeiht man ihm gern, sind sie doch oft schöner als die Wahrheit und passen zu einem, der die Welt im Buch der Welt vorzieht.

    Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, fügt Manguel seinem Buch noch einen "Nachsatz" an, in dem er seitenlang über ein Buch spekuliert, daß er gern schreiben würde. Es soll "Eine Geschichte des Lesens" heißen, und sofort sprudeln neue Anekdoten, Abschweifungen und Überlegungen heraus, die er im vorliegenden Buch nicht untergebracht hat. Es ist des Lesens kein Ende, will uns Manguel vielleicht damit sagen, und des Lesens über das Lesen auch nicht. Ja sogar über den Tod hinaus: Eine der vorzüglich ausgesuchten Illustrationen des Bandes zeigt das Grabmal der französischen Königin Eleonore von Aquitanien in der Abtei von Fontevrault. Da liegt sie, in Stein gehauen, auf dem Rücken - und liest in einem Buch. Bis in alle Ewigkeit.