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Eine Geschichte mit Lücken

Die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention e.V. (DGSP) ist die älteste sportmedizinische Gesellschaft weltweit, in diesem Herbst feiert sie ihr 100-jähriges Bestehen. Anlässlich dieses Jubliäums hat die DGSP eine Festschrift herausgegeben, die allerdings die Erwartungen von Sporthistorikern nur unzureichend erfüllt.

Von Erik Eggers | 27.05.2012
    Darf eine Geschichte der deutschen Sportmedizin den tragischen Tod der Siebenkämpferin Birgit Dressel im Jahre 1987 völlig ausblenden? Darf sie verschweigen, dass führende Sportmediziner wie der damalige Präsident des Sportärztebundes, Herbert Reindell, sich auf dem Sportärztekongress 1976 in Freiburg für die Freigabe der Anabolika aussprachen, obwohl die gesundheitlichen Gefahren längst bekannt waren? Darf ferner ein solches Geschichtswerk ohne den Namen des berühmtesten Anabolikums der DDR, Oral-Turinabol, und ohne Details zum Epo-Skandal an der Universität Freiburg auskommen? Das Buch "100 Jahre Deutsche Sportmedizin", das von der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention herausgegeben wird, verschweigt tragische Sportler-Schicksale und markante Zäsuren in der Dopingdiskussion. Das ist nicht nur unlauter, sondern ein geschichtspolitischer Skandal.

    Anlass des Buches ist die Gründung der institutionellen Sportmedizin im September 1912 in Oberhof. Damals gründete sich das "Deutsche Reichskomitee zur wissenschaftlichen Erforschung des Sports und der Leibesübungen", im Wesentlichen durch die Initiative von Sportmedizinern. Doch selbst diese Gründungsgeschichte ist nicht auf dem Stand der Forschung; die Erkenntnisse der Studie Jürgen Courts aus 2008 über die Anfänge der deutschen Sportwissenschaft sind nicht in das Jubiläumswerk eingeflossen.

    Das Buch vermittelt überhaupt ein euphemistisches Geschichtsbild, das man heute nicht mehr für möglich gehalten hätte. Es scheint vor allem einem Zweck zu dienen: Sportmedizinern wie Wildor Hollmann, der 42 Mal erwähnt wird, eine Ruhmeshalle zu erbauen. Andere wichtige Figuren werden nicht oder nur peripher thematisiert, etwa Armin Klümper, jener sportmedizinische Guru aus Freiburg, der in den 1970er und 1980er Jahren eine Vielzahl von Leistungssportlern betreute, unter ihnen Dressel.

    Auch das Thema der Sportmedizin im NS-Reich gereicht den Autoren nicht zur Ehre. Zwar wird die Emigration jüdischer Mediziner wie Ernst Jokl, Fritz Duras oder Rahel Hirsch thematisiert. Auch weist das Buch darauf hin, dass mit Karl Gebhardt einer der wichtigsten SS-Ärzte großen Einfluss auf die Sportmedizin im Dritten Reich nahm. Dass aber Frowalt Heiss, später Präsident des Sportärztebundes, einer der Assistenten Gehbardt in der Reichsakademie der Leibesübungen war, erzählt diese Geschichte nicht. Auch verschweigt sie, dass ein weiterer Präsident der Organisation, Hans Grebe, als Assistent am berüchtigten Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der Universität Frankfurt wirkte.

    Auf gut fünf Seiten schildert Dirk Clasing die Geschichte des Dopings. Aber auch hier fehlt jeglicher historischer Kontext, so die Rolle der Sportmediziner als Doping-Akteure. Auch hier nur ein Beispiel: So schildert Clasing zwar treffend die erste Anti-Doping-Konvention des Sportärztebundes aus 1952, aber nicht den Anlass: Den Skandal bei den Ruder-Meisterschaften, als der Sportarzt Martin Brustmann zwei Achtern Dopingpräparate verabreicht hatte.

    Das Buch krankt insbesondere daran, dass es viele Passagen aus früheren Werken Hollmanns und Kurt Tittels, einem führenden DDR-Sportmediziner, weitgehend kritiklos übernommen hat – Tittel übrigens war Arzt der DDR-Handballnationalmannschaft, deren Mitglieder schon 1969 Oral-Turinabol verabreicht bekamen.

    Jedenfalls schildert die Festschrift keineswegs die "interessante und wechselhafte Geschichte der Sportmedizin", wie der aktuelle Präsident der DGSP, Herbert Löllgen, glaubt, sondern in großen Teilen nur die vermeintlichen und tatsächlichen Errungenschaften der Zunft. Mit diesem Buch wird nicht Geschichte erzählt, sondern PR betrieben. Und deswegen ist es aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive schlichtweg unbrauchbar und wertlos.



    Besprochenes Buch:
    Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (Hrsg.), 100 Jahre Deutsche Sportmedizin. Sportmedizin im Wandel - Wandel durch Sportmedizin, Druckhaus Gera, Gera 2012, 220 Seiten, 25 Euro.