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Eine gigantische Ereignislosigkeit

Wenn Silvester vorüber ist, herrscht an den beliebten Ostseebädern ausgeprägte Ruhe bis Ostern. Wer im Januar oder Februar nach Hiddensee oder Darß fährt, der hat die Landschaft bei Wind und Wasser fast für sich allein.

Von Eva Firzlaff | 30.12.2012
    "Wie schön is dat bi uns da Hus, up unser Inselland.
    Ick send di üppen leiven Gruß, den Holt, den Bodden un den Strand.
    Der Bodden grüßt mi Tach für Tach, ein Rauschen is in` Ohr.
    Ick hör so gern den Wellenschlach, is Balsam für min Ohr ... ."


    Wenn sich ein paar Gäste im Darß-Museum in Prerow eingefunden haben, sich aufwärmen am Kamin, Kaffee oder Schokolade trinken, dann liest Doris Pagel gerne vor, was ihre Großmutter einst in ein Schulheft geschrieben hat:

    "Dat schönste ist de Ostseestrand. Vell Freud er jeden bringt.
    Ick grüß di, min leif Heimatland. So spricht ´n Darßer Kind."


    Ist es ein paar Tage knackig kalt, dann friert auch die Ostsee zu, jedenfalls in Ufernähe. Zunächst schwabbert krisseliges Eis - ähnlich wie das im Cocktailglas - auf dem flachen Wasser. Und wenn zum Frost noch ein kräftiger auflandiger Wind bläst, dann werfen die Wellen das krisselige Eis auf den Strand und türmen einen langen mehr oder weniger hoher Wall auf, der sieht aus wie eine gefrorene Welle.

    In manchen Jahren allerdings - bei ruhiger See - kann sich auch eine geschlossene Eisdecke bilden, die weit aufs Wasser raus reicht und erst zum Winterende aufbricht. Später türmen dann Wind und Wellen die Schollen am Ufer auf.

    Überhaupt: Wind und Wellen - unermüdlich tragen sie Sand ab, schleppen ihn weiter und lagern ihn wieder an. So verändern sie den Darß. Ja, sie haben ihn überhaupt erst zu dem gemacht, was er ist - eine Halbinsel. Östlich von Rostock. Im Darßwald verweist eine Tafel auf die Grenze von Altdarß und Neudarß. Und wer den ausgedehnten Darßwald in Nord-Süd-Richtung durchwandert, der kreuzt immer wieder quer verlaufende Wälle. Das waren mal Strände und Dünen, erklärt der Geologe Rolf Reinicke.

    "Der Altdarß ist eine ehemalige Insel in der freien Ostsee, durch Nehrungen jetzt verbunden mit dem Festland. Und an diesem Altdarß, dieser Insel, schüttet das Meer seit 2000 Jahren beständig nach Norden hin Sand vor. Und das passiert vor allem bei großen Sturmfluten. Da werden Strandwälle aufgebaut, dahinter Strandseen. Und dieser Neudarß ist also eine für die Ostsee wirklich nahezu einmalige Konstruktion, ein Bauwerk des Meeres, aus vielen, vielen hintereinander gelegenen Strandwällen aufgebaut. Und diese Küstendynamik, dieses beständige Vorbauen dieses Neudarß funktioniert auch heute noch. Und wir können es vom Leuchtturm wunderbar erkennen."

    Oben vom Turm sieht man gut, wie der Haken nach Norden immer länger wird. In nur 2000 Jahren hat das Meer den Darß um sieben Kilometer nach Norden erweitert. Auch das Darß-Museum in Prerow berichtet von Sturmfluten. Obwohl es ja in der Ostsee richtige Ebbe und Flut gar nicht gibt, der Begriff "Sturm-Flut" also nicht stimmt.

    "Ist falsch. Eigentlich heißt es Sturmhochwasser, weil diese Flut erzeugt wird durch unterschiedliche Windrichtungen. Wenn der Westwind ist, wird das Wasser weg gedrückt vom Strand, staut sich dann oben am finnischen Meerbusen, läuft aber immer durch das Gefälle von der Nordsee wieder nach. Wenn dann das angestaute Wasser mit veränderter Windrichtung - Nordost - wieder zurück gedrückt wird, ja, dann steigt das Wasser unheimlich schnell, kann nicht so schnell abfließen in die Nordsee, und dann ist die Sturmflut da."

    Kaum vorstellbar: beim letzten großen Hochwasser 1872 stand Prerow unter Wasser, wobei der Ort gar nicht direkt am Strand liegt.

    "Also man sagt: Bis zum Fensterkreuz unter Wasser. Hat dazu geführt, dass 3 große Segelschiffe aus dem Hafenbecken herausgetragen wurden, durch die Straßen trieben und da auch liegen geblieben sind, als das Wasser dann wieder gefallen war. Es hat viele Häuser zerstört, es hat zehn Menschen das Leben gekostet. Auf Grund dessen hat man sich dann entschlossen, den Prerowstrom, der eine Öffnung zur Ostsee hatte, ganz zu schließen und einen großen Deich zu ziehen. Es ist nie wieder so schlimm gekommen. Also 1913 war es dann noch mal ein bisschen kritisch, 1953 auch noch mal. Wir sind jetzt lange verschont geblieben. Es sind aber alle Vorbereitungen getroffen. Die Sandsäcke liegen schon bereit. "

    Einst teilte der Prerowstrom den Darß, nun ist der frühere Wasserweg zwischen Ostsee und Bodden nur noch zum Bodden hin offen. Auch an der Ostspitze der Halbinsel lagern Wind und Wellen Sand an. Und wenn man sie das in Ruhe tun ließe, wenn nicht regelmäßig die Fahrrinne nach Stralsund ausgebaggert würde, gäbe es wohl schon einen Landweg zur Insel Hiddensee. Ist aber nicht. Also nehmen wir das Schiff.

    Die Linie von Stralsund nach Hiddensee verkehrt im Winter nicht, doch ab Schapprode auf Rügen wird täglich gefahren zu allen drei Häfen der Insel: Neuendorf, Vitte und Kloster. Schon die Überfahrt kann zum Erlebnis werden, sagt der Meteorologe Stefan Kreibohm.

    "Weil es ein Erlebnis ist, mit der Fähre durchs Eis zu brechen. Wo kann man mit 'nem Eisbrecher fahren? Es gibt zwar dann so einen eingeschränkten Fährbetrieb, man muss ein bisschen aufpassen und nachschauen, ob es nicht einen Eisfahrplan gibt. Aber man kann dann - wenn Eis ist - so richtig schön durchs Eis brechen. Wie auf einer Expedition fühl man sich da, links und rechts Eis, die Fähre kämpft sich durch."

    Na gut, das mit dem Eis klappt nicht in jedem Winter. Doch Schnee ist gar nicht mal so selten.

    "Im Gegensatz zum Nordwesten Deutschlands, zur Nordsee hat die Ostsee ein deutlich kälteres Klima im Winter. Deshalb haben wir auch öfter mal Schnee. Das heißt, man kann die Kombination Meer und Schnee hier ganz oft erleben im Winter."

    Und Knut Schäfer von der Reederei schwärmt während der Überfahrt vom Winter auf Hiddensee.

    "Die sogenannte gigantische Ereignislosigkeit zum einen. Die Insel Hiddensee ist dann nahezu menschenleer. Sie haben lange Strände, können in Ruhe spazieren, können sich durch den Wind einmal richtig die Seele frei pusten lassen. Aber eben auch die unterschiedlichen Lichtverhältnisse. Man nennt Hiddensee auch Insel des Lichts. Sie haben so unterschiedliche Lichtverhältnisse, dass diese Insel auch im Winter einzigartig erscheint."

    Wohl auch deshalb hat Hiddensee so viele Künstler angezogen. Sicher der berühmteste ist der Literatur-Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann.

    "Hauptmann war ein Goethe-Fan. Er war ein schlechter Schüler, ein Schulverweigerer, aber Goethe hat er verschlungen. Goethe hat einmal den Namen Hiddensee erwähnt. Und als Hauptmann mit 23 Jahren auf Rügen zu Hochzeitsreise war, 1885 - einmal nach Hiddensee, das war ihm im Kopf eingebrannt."

    Elke Arnold. Aus dem einen Mal wurde eine lange und innige Liebe. Und sein Sommerhaus in Kloster ist nun Museum. Eines der wenigen noch im Originalzustand erhaltenen Dichterhäuser. Arbeits- und Abendzimmer, die Schlafräume, Kreuzgang und Weinkeller, Terrasse und Park.

    "Es gibt natürlich auch für ganz große Zweifler etliche Fotoserien. Zum Beispiel sitzt er hier an seinem Schreibtisch. Mit maritimen Motiven natürlich, den hat er extra für Hiddensee anfertigen lassen."
    Ein Schildchen bittet "nicht berühren" - doch die Katze, die darf sich darauf räkeln. Von Kloster - der Ort heißt so, weil hier mal ein Kloster war - doch davon ist nur der Name geblieben. Von Kloster also steigen wir bergauf. Und gucken auf halber Höhe zurück - runter auf die schmale, lange Insel, die platt vor uns liegt. Der sogenannte Inselblick, den viele Maler verewigt haben.

    "Elisabeth Büchsel zum Beispiel, die als Hiddensee-Malerin bekannt geworden ist, konnte den dann irgendwann schon gar nicht mehr sehen. Die hat so viele Aufträge bekommen, dass sie gesagt hat 'Ich mag den gar nicht mehr malen.' Aber sie hat ihn trotzdem immer wieder gemalt und immer wieder anders."

    Marion Magas wandert mit Gästen über die Insel und weiß alles über die vielen Künstler, die auf Hiddensee waren. Wir steigen weiter hoch - zum Leuchtturm. Und die schmale Treppe ganz noch oben.

    "Wir sind jetzt auf dem Leuchtturm. Da sind wir zum einen auf dem Bakenberg, der ist 72 Meter hoch, und bis zur Galerie sind es noch mal 20 Meter dazu, der gesamte Leuchtturm ist 28 Meter hoch, also kann man sagen dass wir uns 100 Meter über dem Meeresspiegel befinden."

    Tourismusdirektor Alfred Langemeier. Der Wind pfeift oben um den Leuchtturm und zerrt an denen, die sich raus auf dem Umgang wagen. Doch auch durch die Fenster sehen wir die zwei langen flachen Landnasen, die sich vom nordöstlichen Insel-Ende in den Bodden strecken.

    "Auf Nordost, das sind die beiden Anlandungsarme der Insel. Durch Abschwemmung entstanden, durch Strömung angetragen, sind das zwei Landzungen, der Neue Bessin und der Alte Bessin. Der Alte Bessin ist schon 500 Jahre alt. Der Neue Bessin ist erst ab 1930 entstanden und wächst zur Zeit mit sechs Meter pro Jahr."

    Auch hier werkeln Sturm und Wellen an der Insel. Auf alten Landkarten sieht Hiddensee aus wie eine Birne, jetzt wie ein Seepferdchen. Und ähnlich wie an Rügens Kreide-Felsen ist auch hier im vorigen Winter ein Stück der Steilküste weg gebrochen.

    Winterzeit ist auch Bernsteinzeit. Und Leute wie Henry Engels freuen sich über einen ordentlichen Wintersturm.

    "Wenn richtig Sturm ist. Also man muss Windstärke elf, zwölf haben, dass die See sich richtig aufwühlt, und dann wird er aus der Erde ausgespült. Wir finden auch Bernsteine, wo richtig noch Modder dran ist. Wenn richtig Sturm ist, wühlt die See das alles auf. Und dann hat man Muscheln, kleine Krebse, Fische usw. Und die Möwen sehen ganz genau: aha, da kommt das ganze Zeugs. Und dann springen die ins Wasser und holen sich das alles raus. Und wenn wir an Land stehen und sehen die Möwen da hinten kreisen. Dann wissen wir ganz genau: Aha, da hinten kommt der Bernstein."

    Dann zieht Henry Engels seine Wathosen an, geht weit rein ins Wasser und fischt mit großen Keschern den Seetang. Der Sturm Kyrill zum Beispiel hatte ihm zehn Kilo gebracht, zwei Wassereimer voll Bernstein, große Brocken. Das war sein bester Fang. Stolz zeigt er einen Bernstein, so groß wie ein Brot. Dieser bleibt, wie er ist. Andere verarbeitet er zu Schmuck. Ja, auch die Kullerketten, weil die nun mal gekauft werden, doch viel lieber ist ihm:...

    "Dass man den Stein in der Urform lässt. Der Stein ist dann so wie er gefunden wurde, nur poliert. Einfach nur 'ne Holzfassung. Das passt irgendwie zusammen, weil das ist alles beides Natur. Muss nicht immer wunder wie gefasst sein oder in Facettenschliff oder all so'n Schnulli, was es zu kaufen gibt. Ich finde das naturmässige viel schöner."

    Mit einer kleinen Schleifmaschine schleift er von einem Bernstein die dunkle Kruste ab. Der Bernstein scheint ziemlich weich zu sein.

    "Man kann das so vergleichen mit Kunststoff. Das ist jetzt grob auf der Maschine geschliffen, hab jetzt mal eine Seite nur angeschliffen, dass man so rein gucken kann. Das ist so das faszinierende: man sieht ja wirklich erst nach dem Polieren, was so drin ist, welche Farbe der hat. - also vorher hat der so eine Kruste fast wie ein Brötchen - genau und die muss man runter schleifen, sonst ist da nichts zu erkennen."
    Auch am Strand kann man nach einem ordentlichen Sturm Bernstein finden. In dem Geschlinge aus Seetang, das die Wellen auf den Strand geworfen haben. Nur Winter muss es sein, denn je kälter das Wasser, umso besser schwimmt der Bernstein.

    Ein großer Wintersturm war es auch, der vor 140 Jahren am Strand von Neuendorf den Hiddenseer Goldschmuck frei gespült hat. Diese berühmten Goldschmiederarbeiten sind über 1.000 Jahre alt, getragen hat sie wohl eine reiche Wikingerin. Nun werden sie im Kulturhistorischen Museum in Stralsund gezeigt. Wer weiß, was der nächste Sturm bringt ...