* Franz Schubert - 1. Satz: Anfang (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Den romantischen Legenden um Entstehung und Rezeption der Werke relativ früh verstorbener großer Komponisten fügen die EMI Marktstrategen eine weitere hinzu. Schuberts 9. Sinfonie sei zu Lebzeiten des Meisters am Publikum gescheitert. Das Werk sei den Menschen wohl zu sehr unter die Haut gegangen. Das jedoch steht irgendwie im Gegensatz zu der auch hier wieder gern überlieferten Geschichte, das Werk sei zu Lebzeiten des Meisters nie aufgeführt worden. Wie kann ein Werk, das die Menschen noch gar nicht gehört haben, überhaupt unter deren Haut gehen, und dann auch noch zu sehr?
Hartnäckig hält sich auch die Fabel, die auf einen mitfühlenden Schubert-Roman von 1910 zurückgeht, die Gesellschaft der Musikfreunde Wien, sonst gern mit Schubert-Uraufführungen zu Diensten, habe ihm dieses Manuskript wieder zurückgeschickt. In Wirklichkeit ist es noch heute in ihrem Besitz. Man hatte es nur zunächst beiseite gelegt, weil das Stück aufgrund seines Umfangs und seiner Schwierigkeiten möglicherweise die Fähigkeiten des Studentenorchesters am Konservatorium der Gesellschaft überfordert hätte. Diese Gefahr besteht bei den Berliner Philharmonikern natürlich nicht. Übrigens hat Simon Rattle Schuberts Neunte noch vor der Einstudierung mit den Philharmonikern mit einem Berliner Hochschul-Studentenorchester geprobt, und die jungen Teilnehmer lobten anschließend diesen dreistündigen Workshop in den höchsten Tönen als eins der Schlüsselerlebnisse in ihrer musikalischen Laufbahn. Schon da zeichnete sich ab, dass Rattle auch zu Schubert, der bis dato nicht zum Kern seines Repertoires gehörte, eine enge, ganz eigene Beziehung würde aufbauen können, und seine erste vorliegende Schubert-CD bestätigt das eindrucksvoll.
* Franz Schubert - 1. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Schuberts Neunte wurde vermutlich im Jahr nach Schuberts Tod einmal in kleinerem Kreis bei einem der Wiener Concerts spirituels aufgeführt. Sie richtig bekannt gemacht zu haben, bleibt wohl trotzdem das Verdienst Robert Schumanns, der zehn Jahre später bei Schuberts Bruder Ferdinand den Nachlass sichtete und unter anderem auch auf diese Perle stieß. Ob Schumanns schwärmerischer, positiv gemeinter Ausspruch von den "himmlischen Längen" dieses Werkes diesem nun in der Folge mehr genützt als geschadet hat, lässt sich schwer entscheiden. Simon Rattle jedenfalls hat keine Angst vor diesen himmlischen Längen. Leonard Bernstein und Giuseppe Sinopoli brauchten 50 Minuten für das ganze Werk, Karl Böhm eher 51, Günter Wand, Bruno Walter und Otto Klemperer 52 Minuten. Rattle lässt sich insgesamt fast 58 Minuten Zeit und befindet sich interessanterweise damit ganz in der Nähe der Dirigenten aus der Ecke der Historischen Aufführungspraxis (Harnoncourt, Brüggen, Norrington, Minkowski). Damit gehört seine Aufnahme zu den langsameren, doch das Verblüffende ist, man merkt es nicht. Denn es ist immer spannend. Er und seine Berliner Philharmoniker widmen sich mit allergrößtem Interesse jedem Detail, spüren dem Sinn jedes Abschnitts, jeder Phrase nach, arbeiten gerade auch die Nebenstimmen kunstvoll heraus. Der damit immer verbundenen Gefahr, sich im Einzelnen zu verlieren und dabei das Ganze zerbröckeln zu lassen, entgehen sie durch intensives Spiel, hochmusikalische Gestaltung der großen, gesanglichen Linien und ein erkennbares Geflecht von Beziehungen.
* Franz Schubert - 3. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Schuberts "Große Sinfonie" wirkt insgesamt zuversichtlich und optimistisch. Sie entstand unter dem Eindruck einer größeren Reise, die Schubert mit einem Freund von Mitte Mai bis zum frühen Herbst zu den oberösterreichischen Seen und Bergen unternahm. Das Schwärmen über diese "himmlischen" Landschaften findet sich in Briefen und eben auch in der Sinfonie. Im dritten Satz fühlt man sich an Beethovens Pastorale mit ihren fröhlichen Landleuten erinnert und im 4. Satz scheint es zu einem unkomplizierten Beisammensein verschiedener gesellschaftlicher Kreise zu kommen: hier die derb-bäuerlichen Tanzweisen, da die eher herrschaftlich-aristokratischen Militärfanfaren. Doch bei allem sommerlich-fröhlichen Jubilieren lugt sozusagen auch immer mal wieder der Sensenmann herein. Die Posaunen, hier erstmals in einer Sinfonie äußerst eigenständig eingesetzt, melden sich schon im idyllischen ersten Satz an mehreren Stellen mit der schauerlichen Botschaft von der Vergänglichkeit allen Lebens, spielen zwar noch in Dur, aber doch in der Jenseits-Tonart As-Dur, dem "Gräberton", der dem tragischen c-moll näher steht als der eigentlichen Sinfonie-Grundtonart C-dur. Und dann der 2. Satz, ein Marsch, schneller als in Beethovens Eroica, schön überdeckt von einer gegen den Marschrhythmus arbeitenden Melodiebildung, später voller Seeligkeit, der aber schließlich dann doch in einen äußerst dramatischen dissonanten Höhepunkt mündet, wie man ihn viel später erst in Bruckner- oder Mahler-Sinfonien findet. Nach diesem Höhepunkt mit bedrohlichen Kriegssignalen von Hörnern und Trompeten scheinen sich die Streicher kaum noch hervorzutrauen. Mit angstnassen Fingern zupfen sie an ihren Saiten…
* Franz Schubert - 2. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Die Berliner Philharmoniker und ihr Chef Simon Rattle gestalten Seeligkeit, überbordende Freude, Angst vor dem Abgrund oder trotzigen Lebenswillen mit gleichem Engagement. Sie haben mit ihrer Interpretation von Schuberts Großer Sinfonie in musikalischer wie klanglicher Hinsicht einmal mehr Maßstäbe gesetzt. Und wenn die Marktstrategen von "Rattles erstem Schritt zu Schubert" sprechen, dann muss man hinzufügen, dass er anders als ein kleines Kind, das seine ersten Schritte tut, schon verdammt gut laufen kann…
* Franz Schubert - 4. Satz (Schluss) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Franz Schubert: Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Berliner Philharmoniker
Simon Rattle
Label: EMI Classics
Labelcode: LC 06646
Bestellnr.: 3 39382 2
Den romantischen Legenden um Entstehung und Rezeption der Werke relativ früh verstorbener großer Komponisten fügen die EMI Marktstrategen eine weitere hinzu. Schuberts 9. Sinfonie sei zu Lebzeiten des Meisters am Publikum gescheitert. Das Werk sei den Menschen wohl zu sehr unter die Haut gegangen. Das jedoch steht irgendwie im Gegensatz zu der auch hier wieder gern überlieferten Geschichte, das Werk sei zu Lebzeiten des Meisters nie aufgeführt worden. Wie kann ein Werk, das die Menschen noch gar nicht gehört haben, überhaupt unter deren Haut gehen, und dann auch noch zu sehr?
Hartnäckig hält sich auch die Fabel, die auf einen mitfühlenden Schubert-Roman von 1910 zurückgeht, die Gesellschaft der Musikfreunde Wien, sonst gern mit Schubert-Uraufführungen zu Diensten, habe ihm dieses Manuskript wieder zurückgeschickt. In Wirklichkeit ist es noch heute in ihrem Besitz. Man hatte es nur zunächst beiseite gelegt, weil das Stück aufgrund seines Umfangs und seiner Schwierigkeiten möglicherweise die Fähigkeiten des Studentenorchesters am Konservatorium der Gesellschaft überfordert hätte. Diese Gefahr besteht bei den Berliner Philharmonikern natürlich nicht. Übrigens hat Simon Rattle Schuberts Neunte noch vor der Einstudierung mit den Philharmonikern mit einem Berliner Hochschul-Studentenorchester geprobt, und die jungen Teilnehmer lobten anschließend diesen dreistündigen Workshop in den höchsten Tönen als eins der Schlüsselerlebnisse in ihrer musikalischen Laufbahn. Schon da zeichnete sich ab, dass Rattle auch zu Schubert, der bis dato nicht zum Kern seines Repertoires gehörte, eine enge, ganz eigene Beziehung würde aufbauen können, und seine erste vorliegende Schubert-CD bestätigt das eindrucksvoll.
* Franz Schubert - 1. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Schuberts Neunte wurde vermutlich im Jahr nach Schuberts Tod einmal in kleinerem Kreis bei einem der Wiener Concerts spirituels aufgeführt. Sie richtig bekannt gemacht zu haben, bleibt wohl trotzdem das Verdienst Robert Schumanns, der zehn Jahre später bei Schuberts Bruder Ferdinand den Nachlass sichtete und unter anderem auch auf diese Perle stieß. Ob Schumanns schwärmerischer, positiv gemeinter Ausspruch von den "himmlischen Längen" dieses Werkes diesem nun in der Folge mehr genützt als geschadet hat, lässt sich schwer entscheiden. Simon Rattle jedenfalls hat keine Angst vor diesen himmlischen Längen. Leonard Bernstein und Giuseppe Sinopoli brauchten 50 Minuten für das ganze Werk, Karl Böhm eher 51, Günter Wand, Bruno Walter und Otto Klemperer 52 Minuten. Rattle lässt sich insgesamt fast 58 Minuten Zeit und befindet sich interessanterweise damit ganz in der Nähe der Dirigenten aus der Ecke der Historischen Aufführungspraxis (Harnoncourt, Brüggen, Norrington, Minkowski). Damit gehört seine Aufnahme zu den langsameren, doch das Verblüffende ist, man merkt es nicht. Denn es ist immer spannend. Er und seine Berliner Philharmoniker widmen sich mit allergrößtem Interesse jedem Detail, spüren dem Sinn jedes Abschnitts, jeder Phrase nach, arbeiten gerade auch die Nebenstimmen kunstvoll heraus. Der damit immer verbundenen Gefahr, sich im Einzelnen zu verlieren und dabei das Ganze zerbröckeln zu lassen, entgehen sie durch intensives Spiel, hochmusikalische Gestaltung der großen, gesanglichen Linien und ein erkennbares Geflecht von Beziehungen.
* Franz Schubert - 3. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Schuberts "Große Sinfonie" wirkt insgesamt zuversichtlich und optimistisch. Sie entstand unter dem Eindruck einer größeren Reise, die Schubert mit einem Freund von Mitte Mai bis zum frühen Herbst zu den oberösterreichischen Seen und Bergen unternahm. Das Schwärmen über diese "himmlischen" Landschaften findet sich in Briefen und eben auch in der Sinfonie. Im dritten Satz fühlt man sich an Beethovens Pastorale mit ihren fröhlichen Landleuten erinnert und im 4. Satz scheint es zu einem unkomplizierten Beisammensein verschiedener gesellschaftlicher Kreise zu kommen: hier die derb-bäuerlichen Tanzweisen, da die eher herrschaftlich-aristokratischen Militärfanfaren. Doch bei allem sommerlich-fröhlichen Jubilieren lugt sozusagen auch immer mal wieder der Sensenmann herein. Die Posaunen, hier erstmals in einer Sinfonie äußerst eigenständig eingesetzt, melden sich schon im idyllischen ersten Satz an mehreren Stellen mit der schauerlichen Botschaft von der Vergänglichkeit allen Lebens, spielen zwar noch in Dur, aber doch in der Jenseits-Tonart As-Dur, dem "Gräberton", der dem tragischen c-moll näher steht als der eigentlichen Sinfonie-Grundtonart C-dur. Und dann der 2. Satz, ein Marsch, schneller als in Beethovens Eroica, schön überdeckt von einer gegen den Marschrhythmus arbeitenden Melodiebildung, später voller Seeligkeit, der aber schließlich dann doch in einen äußerst dramatischen dissonanten Höhepunkt mündet, wie man ihn viel später erst in Bruckner- oder Mahler-Sinfonien findet. Nach diesem Höhepunkt mit bedrohlichen Kriegssignalen von Hörnern und Trompeten scheinen sich die Streicher kaum noch hervorzutrauen. Mit angstnassen Fingern zupfen sie an ihren Saiten…
* Franz Schubert - 2. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Die Berliner Philharmoniker und ihr Chef Simon Rattle gestalten Seeligkeit, überbordende Freude, Angst vor dem Abgrund oder trotzigen Lebenswillen mit gleichem Engagement. Sie haben mit ihrer Interpretation von Schuberts Großer Sinfonie in musikalischer wie klanglicher Hinsicht einmal mehr Maßstäbe gesetzt. Und wenn die Marktstrategen von "Rattles erstem Schritt zu Schubert" sprechen, dann muss man hinzufügen, dass er anders als ein kleines Kind, das seine ersten Schritte tut, schon verdammt gut laufen kann…
* Franz Schubert - 4. Satz (Schluss) aus der Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Franz Schubert: Sinfonie Nr. 9 "Die Große"
Berliner Philharmoniker
Simon Rattle
Label: EMI Classics
Labelcode: LC 06646
Bestellnr.: 3 39382 2