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Eine "klinische Ökonomie" bei der Entwicklungsförderung

Seine Karriere als Entwicklungsberater begann der damals 31-jährige Harvard-Dozent Jeffrey D. Sachs 1984 mit schlichten Empfehlungen: Privatisierung, Deregulierung, Preiserhöhung, Haushaltssanierung. Von der neoliberalen Schocktherapie hat er sich inzwischen distanziert und empfiehlt eine "klinische Ökonomie", die bei der Entwicklungsförderung die jeweils spezifischen Symptome des Patienten zum Ausgangspunkt der Behandlung macht. Von Elmar Altvater.

    Eine gerechtere Welt ist möglich. Dies verspricht Jeffrey Sachs im Untertitel seines Buches. Eine gerechtere Welt ist nicht unbedingt eine gerechte Welt, doch wäre es eine Welt mit weniger armen Menschen. Dies ist in den "Millenniumszielen" angepeilt, die sich die Weltgemeinschaft zum Jahrtausendwechsel selbst gesetzt haben. Aber als die Regierungen der 189 Unterzeichnerländer kürzlich Bilanz zogen, gab es nur lange Gesichter. Denn die Zahl der Armen ist in vielen Ländern gestiegen, und die globale Bilanz sieht nur deshalb einigermaßen gut aus, weil Indien und China die Armut haben mindern können.

    Dass die Millenniumsziele bis zum Jahre 2015 erreicht werden, bezweifeln inzwischen nicht nur die Globalisierungskritiker, sondern auch die deutsche Welthungerhilfe oder das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Nicht so Jeffrey Sachs. Er glaubt an die Prinzipien der globalisierten Welt, an offene Märkte, an die Wohlstandswirkung freier Kapitalflüsse auf liberalisierten Finanzmärkten und an die Institutionen des derzeitigen Regelsystems, an Welthandelsorganisation, Währungsfonds und Weltbank. Daher kritisiert er die von ihm so genannten "Globalisierungsgegner" wegen ihres "antikapitalistischen Affekts", wenn sie die Aktivitäten transnationaler Konzerne, die von Welthandelsorganisation oder Weltwährungsfonds und Weltbank erzwungene Marktöffnung oder die verheerenden Krisen der globalen Finanzmärkte an den Pranger stellen.

    Was Not tut, ist seines Erachtens "gute Regierungsführung", also Bekämpfung der Korruption, Errichtung demokratischer Institutionen und Prozeduren, Marktöffnung in den Ländern des Südens und die Erfüllung des seit inzwischen 30 Jahren vorgegebenen Ziels, mindestens 0,7 Prozent des Sozialprodukts der Industrieländer für die Entwicklungszusammenarbeit bereit zu stellen. Dass die USA diese Selbstverpflichtung nicht einhalten und das Ziel weit verfehlen, hebt Sachs immer wieder mahnend hervor und fordert gerade von der US-Regierung mehr Engagement für die Armen der Welt. Daher gesteht er trotz seiner Kritik den so genannten Globalisierungsgegnern zu, mit ihren Demonstrationen wichtige Themen auf die Agenda der oft selbstgefällig auftretenden Vertreter von Industrieländern und internationalen Organisationen gesetzt zu haben.

    " Ich begrüße es, dass die Globalisierungskritiker die Heuchelei und die eklatanten Mängel der Weltpolitik aufgedeckt und der jahrelangen Selbstbeweihräucherung der Reichen und Mächtigen ein Ende gesetzt haben. "

    Freilich kann man mit guten Gründen bezweifeln, ob mit mehr Entwicklungshilfe aus dem Norden und mit besserer "Regierungsführung" im Süden eine gerechtere Welt entstehen kann. Denn das sind die Rezepte, die seit Jahrzehnten verabreicht werden und inzwischen als "Konsens von Washington" zumindest in den Ländern des Südens einen schlechten Ruf haben. Denn sie haben die Ungleichheit der globalen Einkommens- und Vermögensverteilung erhöht, also eher eine "ungerechtere Welt" geschaffen. Dennoch bezeichnet Jeffrey Sachs diesen Weg als den der "aufgeklärten Globalisierung". Diese könne aber nur Realität werden, wenn die Politik der USA vom "Unilateralismus und Militarismus der Regierung Bush" zum Multilateralismus einer aufgeklärten Nation in der Weltgemeinschaft zurückfinde. Wenn dann noch IWF und Weltbank "ihren globalen Auftrag" ernst nähmen und die Vereinten Nationen gestärkt und obendrein der wissenschaftliche Fortschritt in den Dienst des "gesellschaftlichen Weiterkommens" gestellt würden und nachhaltige Entwicklung gefördert werde, gebe es Chancen, "die extreme Armut fortzuspülen", um "in ein Zeitalter beispielloser wirtschaftlicher Blüte einzutreten." Dieses vollmundige Versprechen gibt ein Mann von Einfluss, der von sich sagen kann:

    " Im Wesentlichen hatte ich es seit Mitte der achtziger Jahre unter anderem damit zu tun, Ländern bei ihrer Eingliederung als souveräne Mitglieder in ein neues internationales System zu helfen. … Ich wurde auch nach Argentinien, Brasilien, Venezuela und Peru eingeladen… "

    Zuvor hatte Sachs die Regierung Boliviens bei der Bekämpfung der Hyperinflation in den 1980er Jahren beraten und 1989 der polnischen Solidarnosc den Weg in die Marktwirtschaft gezeigt. Auch der russische Präsident Jelzin holte Jeffrey Sachs’ Rat ein. Angesichts dieses umtriebigen internationalen Beratungsgeschäfts ist Jeffrey Sachs als moderner Sheriff Wyatt Earp im wilden Kapitalismus bezeichnet worden, als einer, der in dem krisenhaften Durcheinander hoch verschuldeter Entwicklungsländer und in den Transformationsländern, die die sozialistischen Überbleibsel los werden wollen, für Ordnung sorgt. Dabei gibt der Autor unumwunden zu, über die Länder, die er bei der Bewältigung von Wirtschaftskrisen beraten hat, wenig oder gar nichts gewusst zu haben.

    " Als ich im Juli 1985 in der bolivianischen Hauptstadt La Paz ankam, hatte ich … im Grunde keine Ahnung. "

    Diese Offenheit ist sympathisch und zugleich entwaffnend. Ausgebildet in internationaler Ökonomie mit Schwerpunkt auf den Finanzmärkten, fehlten Sachs, wie er schreibt, praktische Erfahrungen mit Entwicklungsländern. Und dennoch stieg er in das Beratungsgeschäft ein, denn er wurde von ehemaligen Studenten geholt, die inzwischen in Bolivien und anderswo in hohe Regierungsämter aufgestiegen waren. Das ist der Mehrwert, der entsteht, wenn die Eliten der Länder des Südens ihre Kinder an US-Universitäten studieren lassen. Beziehungen sind also wichtig, aber auch Selbstbewusstsein, ein ausgeprägter Mut zur Vereinfachung und Charisma. Diese Mischung gestattet es Jeffrey Sachs, wie Candide in Voltaires polemischem Roman "Candide oder der Optimismus" aus dem Jahre 1759, all die von ihm durchaus erkannten und benannten Schrecklichkeiten in der "besten aller möglichen Welten" in einer optimistischen Weltsicht verschwinden zu lassen. Selbst die Arbeit junger Frauen in "sweat shops", in den Schwitzbuden der Entwicklungsländer, wo sie sehr häufig überausgebeutet werden, hat etwas Gutes. Sachs findet prekäre Arbeit besser als gar keine Arbeit. So bestiegen die Menschen nämlich die erste Stufe einer Leiter, auf der "nicht nur persönliche Freiheiten, sondern auch erste Möglichkeiten" entstünden, "ihre Qualifikation und das Einkommen für sich und … für ihre Kinder zu verbessern…" Was den einzelnen Menschen helfe, nutze auch den Ländern:

    " Wenn Länder ihren Fuß erst einmal auf die unterste Sprosse der Entwicklungsleiter gesetzt haben, sind sie im Allgemeinen in der Lage, auch die nächsten Sprossen zu erklimmen… "

    China, so lautet eine Kapitelüberschrift, befindet sich bereits "auf dem "Weg zum Reichtum". Dort zeigt sich allerdings auch, dass die, die bereits oben angekommen sind, mitunter der Regel folgen, die der britische Autor Ha-Joon Chan zum Titel eines viel gelesenen Buches erkoren hat: "Kicking Away the Ladder". Sie stürzen die Leiter um, damit die Nachzügler erst gar keine Chance haben, den Fuß auf die erste Sprosse zu setzen und nach oben zu kommen. Denn dort ist der Platz eng. Nicht alle können so reich werden wie die erfolgreichen Nationen. Der Wirtschaftswissenschaftler Roy Harrod hat schon in den 1950er Jahren geschrieben, dass es sich bei dem westlichen Wohlstandsmodell, das Jeffrey Sachs vor Augen schwebt, um ein "oligarchisches Gut" handelt, zu dem nicht alle Menschen und Gesellschaften demokratischen Zugang haben.

    Sachs versucht zwar, die Leiter immer wieder aufzustellen, damit alle an die Früchte des Wohlstands heran kommen können. Doch weiß er sehr wohl, dass es hohe Hürden der Entwicklung gibt: Wenn die Menschen zu arm sind, um zu sparen und aus dem Ersparten Investitionen zu finanzieren; wenn Handelsbarrieren unüberwindbar sind und die Arbeitsteilung daher nicht vertieft werden kann; wenn der technisch-wissenschaftliche Forschritt zum Rückschritt wird oder die Qualität des Landes durch ökologische Katastrophen beeinträchtigt wird, wenn der Anstieg der Produktivität zum Stillstand kommt, wenn die Bevölkerung übermäßig wächst.

    Doch Sachs lässt sich von Hindernissen dieser Art nicht beirren. Wie ein überzeugter Missionar, für den der Kapitalismus, den er gerechter gestalten möchte, eine Religion ist, hat er bei seinen Missionen in alle Weltgegenden den "Bauplan für eine Marktwirtschaft" im Gepäck und auch ein "Differenzialprogramm" zur Armutsbekämpfung dabei. Kurz, er verfügt über eine moderne Bibel, auf die er bei der Reparatur einer Volkswirtschaft zurückgreifen kann. Interessant nur, dass die beiden Länder, in denen die Armut im vergangenen Jahrzehnt beträchtlich reduziert worden ist, also Indien und China, sich niemals dem Sachs’schen Differenzialprogramm haben unterwerfen oder seinem Masterplan für eine Marktwirtschaft haben folgen müssen.

    Da wird von einem ehemaligen Drücker im Auftrag kommerzieller Beratungsgesellschaften detailliert geschildert, mit welch extremer Brutalität so manche Konzerne die Öffnung von Volkswirtschaften erzwungen haben und welches dann die Kosten für die in die Marktwirtschaft geführten Länder gewesen sind: Verschuldung, Abhängigkeit, Souveränitätsverzicht und Armut. Dieser düsteren Seite der weltwirtschaftlichen Entwicklung schenkt Jeffrey Sachs kaum Aufmerksamkeit. So zieht sein Buch viel Sympathie an, weil der Verfasser sich ehrlich bemüht zeigt, einer guten Sache, der Armutsbekämpfung nämlich, seinen Dienst zu erweisen. Er verbreitet aber auch mit seinem durch die Analyse nicht gestützten Optimismus viele Illusionen, und Illusionen kann man bekanntlich nicht essen.

    Jeffrey D. Sachs: Das Ende der Armut
    Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt
    Siedler Verlag, München, 2005. 477 Seiten, 24,90 Euro