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Eine Lange Nacht der spanischen Musik
Flamenco, Sackpfeifen und teuflische Dämonen

Der Flamenco steht fast synonym für die spanische Musik. Dabei haben sich in den verschiedenen Regionen Spaniens ganz unterschiedliche Stile und Instrumente etabliert - manchmal geprägt von sexuellen Riten und Aufmüpfigkeit.

Von Stefan Wimmer | 30.06.2018
    Eine in rot gekleidete Flamencotänzerin. Im Hintergrund schauen ihr drei Personen beim Tanzen zu.
    Eine Flamencotänzerin (Imago / Action Pictures)
    In den wilden Bergen des spanischen Nordens herrscht eine Musikkultur, die in Deutschland nahezu unbekannt ist: Im Baskenland lieben die trutzig-kämpferischen Bewohner so ausgefallene Instrumente wie die Txistu (Piccoloflöte), die Alboka (Hornpfeife) und die Txalaparta (Schlaginstrument), die wundervolle Töne erzeugen und eine jahrhundertealte Geschichte haben. Die Dorffeste sind geprägt von sexuellen Riten und Aufmüpfigkeit.
    Auch in der Provinz Asturien geht es deftig zur Sache: Dort huldigt man den Sackpfeifen, Drehleiern und Harfen – und intoniert Liebeslieder von Schäferstündchen und untreuen Ehefrauen. Auch historisch ist die Musik in Asturien hochinteressant, denn hier nahm die Reconquista ihren Ausgang, in den asturischen Berghöhlen verschanzten sich nach der maurischen Eroberung die letzten widerständigen christlichen Adeligen.
    Das Spannungsfeld zwischen Orient und Abendland ist auch im andalusischen Flamenco zu sehen: Ein Besuch bei den "peñas flamencas", - Flamenco-Stammtischen - in Sanlúcar de Barrameda (Cádiz) zeigt, wie kontrovers Flamenco von seinen Fans diskutiert wird.
    Eine Lange Nacht über die etwas andere spanische Musik.
    Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT.

    Die Musik des Baskenlandes
    Schon die Landschaft ändert sich schlagartig, wenn man von Südfrankreich aus ins Baskenland fährt und den Grenzfluss überquert: Dünen und Pinien enden plötzlich, von einem Moment auf den anderen dominieren satte, neblige Wälder, in denen dichte Atlantikwolken hängen – nicht umsonst sind die Geister dieser Wälder ein Hauptbestandteil der baskischen Mythologie.
    Über Juan Mari Beltrán:
    Der Musikologe und Multi-Instrumentalist Juan Mari Beltrán, der unweit der spanisch-französischen Grenze das Musikmuseum "Soinuenea Fundazioa" leitet, in dem Hunderte von Exponaten ausgestellt sind, ist einer der schillerndsten Figuren der baskischen Musikszene. Er hat Dutzende von Platten eingespielt und eine endlose Reihe von Konzerten gegeben. Er wurde in den 50er-Jahren Volksmusiker, spielte zunächst die Txistu, eine Piccoloflöte für eine Hand. Das ist ein Instrument aus der Zeit der Renaissance, in Nord- und Mittelspanien bis heute populär.
    Wie ein klassischer Spielmann zog Juan Mari durch die Dörfer Navarras, des Baskenlands und der Rioja.
    "Da traten die Leute ans Fenster, wenn du mit der Band durch die Straßen gezogen bist. Und bei den Tanzveranstaltungen drehten sich alle um dich wie um einen Planeten. Ganz zu schweigen von den Festen auf den Berghügeln! Da gab es Buffets mit Wurst, Sardinen, Kabeljau und Wein. Und wir spielten ein Stück nach dem anderen. Das waren fast Initiationsriten. Die Jungen und Mädchen begannen auf diesen Festen ihre amourösen Beziehungen. Und wir Musiker fieberten bei jeder Aufforderung zum Tanz mit: Wie wird das Mädchen reagieren? Wird sie ihn abweisen? Oder ist sie interessiert ?" (Juan Mari Beltrán)
    Juan Mari Beltrán wird einer der bekanntesten Spielmänner der Region und lernt neben Instrumenten wie Piccolo-Flöte, Trommel und Oboe auch die baskische Hornpfeife Alboka zu spielen, ein 20 Zentimeter langes, hornförmiges Gebilde, das schalmeiartige Quetschtöne hervorbringt:
    "Die Alboka dient zu 99,9 Prozent der Tanzmusik. Ich habe manchmal Diskussionen mit Kollegen, die sagen, die Alboka sei ursprünglich ein Hirten-Instrument gewesen. Aber das glaube ich nicht. Die Alboka hat ausschließlich mit öffentlichen Plätzen, mit Festveranstaltungen, mit Publikum zu tun. Wenn sie ein Hirten-Instrument wäre, müsste es in ihrem Repertoire auch rezitative, pastorale Stücke geben. Doch so gut wie alles, was man mit der Alboka spielt, ist Tanzmusik." (Juan Mari Beltrán)
    Eine weitere Diskussion entspinnt sich daraus, wie stark die nord- und mittelspanische Volksmusik eigentlich von den Arabern geprägt ist. Denn in den 30er-Jahren behaupteten Gelehrte wie der Hispanist Américo Castro, dass die Mauren in Spanien die treibende Kraft für die heutige Volkskultur waren. Aktuelle Forschungen – etwa auch im Bereich des Flamenco – sehen solche unilateralen Erklärungsmuster weitaus differenzierter. Doch was sagt der Praktiker?
    "Es heißt zum Beispiel, dass das Instrument Alboka arabischer Herkunft ist und sich vom Arabischen "al-buk", "die Flöte", "das Kornett", ableitet. Aber ich glaube, diese Herleitung muss nicht unbedingt richtig sein. Im Baskischen hat das Wort "Alboka" ebenfalls eine Bedeutung: Zwei Dinge liegen Rücken an Rücken aneinander, so wie die Rohrblätter. Und bei einer solchen Verbreitung und Varietät dieses Instrumententyps – es gibt Alboka-ähnliche Instrumente in Eurasien, im alten Griechenland, in Afrika – muss man nicht zwingend den Ursprung im Arabischen suchen." (Juan Mari Beltrán)
    Und es gibt noch ein weiteres Instrument im Baskenland, das uralt ist und faszinierende Klänge produziert: die Txalaparta. Die Txalaparta stammt aus der Apfelweinherstellung und ist ein Konstrukt aus zwei langen Holzbalken, die von oben mit vier Stößeln, also Stäben geschlagen werden. Zur Jugendzeit von Juan Maris war sie selbst im Baskenland fast ausgestorben.
    "Eigentlich ist die Txalaparta nichts anderes als ein zweckentfremdetes Arbeitsinstrument. Arbeit ist nie besonders schön. Nach dem Schuften hat man zwar etwas zu essen, aber dieses stundenlange Zertrümmern und Zerstampfen der Äpfel ist sehr stumpfsinnig. So hat sich die Txalaparta entwickelt. Die Menschen haben angefangen, aus den Schlägen ein rhythmisches Spiel zu machen – ein Spiel zwischen zwei Teilnehmern."
    Verfolgung und Widerstand während der Franco-Diktatur
    General Francisco Franco, der es nie verwinden konnte, dass sich sowohl die baskische Arbeiterschaft als auch das reiche baskische Handelsbürgertum im Bürgerkrieg gegen ihn entschieden hatten, begann gleich nach seinem Sieg 1939 damit, die baskische Musik zu verbieten, und auch alle anderen regionalistischen Sonderwege von der Geheimpolizei überwachen zu lassen. So war auch der Gebrauch der verschiedenen Sprachen und Dialekte – vom Baskischen über das Katalanische bis zum Galicischen – untersagt. In Francos Musikwelt herrschten schwülstige Zarzuelas, Militärmärsche, Olé-Lieder und sakrale Messen. Und die Presse wetterte gegen den Regionalismus:
    "Auf unserem Territorium gibt es schlechte Spanier, Bastard-Spanier, die selbst ihre eigene Mutter verkaufen würden, Spanier, die sich in dem wahnwitzigen Gedanken verzehren, dass ihre Regionen eigene Staaten mit eigenem Recht seien. Und die unser geliebtes Spanien nur als Stiefmutter betrachten. Im Klartext gesprochen: Basken und Katalanen, die ihre Provinzen verbaskisieren und verkatalanisieren wollen! Es ist daher nur verständlich, dass Franco – unser geliebter Führer – solche Separatismen schonungslos ausmerzt."
    Ein Pro-ETA-Grafitti an einem verlassenen Haus im baskischen Ort Zuaza
    Ein Pro-ETA-Grafitti an einem verlassenen Haus im baskischen Ort Zuaza (AFP/ Rafa Rivas)
    Für die Regionalkulturen bedeutete das, dass sie unter strengster Bewachung standen. Vor allem im Norden wurden Feste immer wieder von der Polizei gestürmt. Juan Mari erinnert sich gut an diese finstere Zeit:
    "Ich habe selbst miterlebt, wie die Guardia Civil in den Aralar-Bergen alle Teilnehmer eines Bergfestes niedergeknüppelt hat. Denn die Leute dort feierten zusammen, sangen Lieder auf Baskisch, hissten die baskische Flagge und riefen Losungen, die gegen das Franco-Regime gerichtet waren."
    Doch die Menschen mit den Krummhörnern, den Einhand-Flöten und den ganzen anderen bizarren Instrumenten ließen sich nicht unterkriegen. Spätestens mit dem Aufkommen der Studentenrevolution und der zunehmenden Erosion der Diktatur forderten die Basken immer stärker politische Freiheit ein – gegen den Zentralismus Madrids. Kunst-Kollektive formierten sich, die ersten baskischen Liedermacher debütierten mit flammenden Protestsongs, der "rock radical vasco" entstand, und schließlich trat Punk auf den Plan – wobei sich viele baskische Musiker phasenweise mit der bewaffneten Separatistenorganisation ETA solidarisierten.
    Die Trikitixa
    Die Trikitixa ist ein diatonisches Akkordeon, das um 1900 von italienischen Musikern ins Baskenland gebracht wurde und dort bald zu einem Lieblingsinstrument baskischer Seeleute und Fischer aufstieg. Kepa Junkera lernt es in seinen Jugendjahren kennen:
    "In meiner Kindheit wurde die baskische Kultur noch völlig unterdrückt. In der Schule durfte ich mich nicht Kepa nennen, die Lehrer dort gaben mir den Namen Pedro. Stellen Sie sich das mal vor: Wenn man sich in der Schule nicht so nennen darf, wie man getauft ist! In der Generation meiner Eltern war das natürlich noch viel schlimmer: Da durfte in der Öffentlichkeit gar kein Baskisch gesprochen werden. Und baskische Musik war verboten. In dieser Atmosphäre gehörte natürlich viel Mut dazu, sich überhaupt zur baskischen Kultur zu bekennen."
    Doch der junge Kepa ist mutig. Und so übt er wie ein Besessener das besondere Instrument und spielt bei Hochzeiten, Geburtstagen und auf Bergfesten.
    "Diese Feste waren unglaublich! Man merkte da sofort: Du gehörst einer eigenen Kultur an, mit eigener Sprache, eigener Gastronomie und eigenen Umgangsformen. Wenn du auf ein Bergfest gegangen bist, war das jedes Mal wie eine Entdeckungsreise. Durch die spanischen Medien weiß man ja über Städte wie New York besser Bescheid als über sein eigenes Land. Dadurch, dass das Baskenland so klein ist, traf man auch immer wieder Freunde."
    Über Kepa Junkera:
    Kepa Junkera wächst in einem armen Arbeiterviertel von Bilbao auf. Mit 23 ist er einer der besten Trikitixa-Spieler des Landes – und nimmt 1986 mit Iñaki Zabaleta, ebenfalls Trikitixa-Spieler, und José María "Motriku" am Tamburin die erste Platte auf – das Album "Infernuko Auspoa", "Blasebalg der Hölle". So wurde die Trikitixa von der katholischen Kirche unter Franco bezeichnet. Kepa macht Platten mit den verschiedensten Musikern und Stilrichtungen – mit dem portugiesischen Mandolinenspieler Júlio Pereira, dem englischen Akkordeonspieler John Kirkpatrick, mit bulgarischen und albanischen Musikern –, und schafft es bei all diesen Projekten, der Musik ein magisches Flair zu verleihen. Seine Stücke klingen nach einem Basken, der jedem Projekt seinen Stempel aufdrückt. 2004 wird ihm für sein Live-Album "K" der Grammy für das beste Folk-Album des Jahres verliehen.
    Die Musik der Asturier
    Schon geografisch hebt sich Asturien mit seinen 2.500 Meter hohen, schroffen Kalkmassiven wie ein Bollwerk von der zentralspanischen Ebene ab. Und auch die prallgrünen Weiden, Apfelplantagen und Felsschluchten erinnern eher an Nordtirol und das Karwendel als an Spanien. Durch Asturien hindurch, entlang des tosenden Atlantiks – führte traditionell die alte Pilgerroute des Jakobswegs. Dort entstand auch das erste christliche Königreich nach der muslimischen Eroberung, inmitten arabischer Dominanz.
    Über Héctor Braga
    Héctor Braga hat sich von einem Arbeiterkind aus Langreo, einem historisch wichtigem Industriezentrum in Spanien, zu einem der wichtigsten Konzertmusiker Spaniens entwickelt, speziell auf dem Gebiet der neuen Volksmusik. Er ist von seinem Großvater inspiriert, der als einfacher Minenarbeiter tätig war und ihn zu Opernaufführungen und zu Konzerten traditioneller asturischer Gruppen mitnahm. Bereits als Kind erlernt er das Musizieren auf Mandoline, Violincello und Harfe. Ihm wird nach und nach klar, wie unterschiedlich die asturische Musikkultur, die er in den Kneipen kennenlernt, im Vergleich zum restlichen Spaniens ist. So beginnt er – nachdem er am Konservatorium studiert – mit immer umfangreicheren musikgeschichtlichen Forschungen über die Volkslieder und Gesänge: Er sichtet in den Archiven alte Notensammlungen, belegt Musikethnologie und beschäftigt sich mit historischer Aufführungspraxis.
    "Asturien ist völlig anders als der Rest Spaniens. Die Gastronomie ist anders, die Musik ist anders, der Hautton und die Augenfarbe der Menschen, die Landschaft ... Asturien hat riesige Kalkberge, Massive mit 2.500 Metern Höhe und gigantischen Höhlensystemen. Statt Wein wird Sidra getrunken – etwa 60 Millionen Liter produziert die Region im Jahr. Es gibt viele Eintopfgerichte, es gibt Wildschwein, Kartoffeln, Mais, Kastanien. Und auf kleinstem Raum mehr als 40 verschiedene Käsesorten, die oftmals in Höhlen hergestellt werden. All das ist einzigartig, das kann man nicht imitieren."
    So trifft Héctor Braga bei Volksfesten auf eine Kultur, in der Tanz, Derbheit, Spektakel und Sinneslust wesentlich stärker präsent sind als im restlichen Spanien – dies alles hat sich auch in den Tänzen gehalten:
    "Die Bezeichnung "Muñeiras" stammt vom Wort "Mühle" – allerdings darf man sich das nicht so vorstellen, dass ihr Liedrhythmus etwas mit einem Mühlrad zu tun hat. Nein, die "muñeiras" heißen so, weil ihr Inhalt oft sehr anzüglich ist, und Mühlen der bevorzugte Ort für Sex waren – dort hatte man seine Ruhe und der Ort war abgelegen. Daher auch die zweideutigen Liedtexte. Diese Liedtexte beziehen sich oft auf Sex, so heißt es zum Beispiel: "Wer möchte mit mir in den Fluss springen", aber gemeint ist etwas anderes. Eine andere Strophe lautet: "María, lass mich rein, ich hab den Stier an der Hand, der mit seinen Hörnern gegen die Tür klopft." Natürlich auch doppeldeutig. Oft werden auch Erntegerätschaften in zweideutiger Weise erwähnt."
    In Asturien entstand ein unverwechselbarer geschichtlicher Mythos: Hier begann die Reconquista, die Rückeroberung der maurisch besetzten Gebiete von Süd- und Mittelspanien durch die spanischen Christen. Denn als ab 711 nach Christus die muslimischen Berber und Araber von Nordafrika aus die iberische Halbinsel eroberten und die Bevölkerung zwangsweise bekehrten, war es Asturien, das den islamischen Attacken schon früh Widerstand leistete. Hierhin flüchtete der gotische Stammesfürst Pelayo und lieferte sich aus dem Schutz der Berghöhlen heraus erfolgreiche Scharmützel mit den Nordafrikanern.
    Héctor Braga hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lieder und Romanzen, die noch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung vom asturischen Volk gesungen werden, original interpretiert wiederzugeben. So arbeitet er auch immer mit Instrumenten wie der Harfe, einem Überbleibsel aus Renaissancezeiten, und der Zamfona, der Drehleier.
    In den Inhalt der Lieder und Romanzen flossen natürlich nicht nur geschichtliche Vorgänge des Mittelalters oder der frühen Neuzeit ein, sondern auch Ereignisse der jüngeren Vergangenheit: Beredtes Zeugnis hierfür sind die politischen Kampflieder Asturiens während der 30er-Jahre, in denen es um Revolution und Faschismus geht:
    "Die asturische Musik war schon immer sehr zeitbezogen. Man muss sich ja nur mal die Lieder rund um das Jahr 1934 ansehen – ein sehr wichtiges Jahr für die asturische Geschichte! Man darf sich als Musiker nicht darauf beschränken, nur von weit zurückliegenden geschichtlichen Ereignissen wie etwa den Karlistenkriegen zu singen, man muss auch die aktuellen Auseinandersetzungen einbringen."
    Am 6. Oktober 1934 brach in Asturien der mythenträchtige Bergarbeiterstreik los. Dabei handelte es sich um den letzten groß angelegten und gescheiterten Versuch, in Europa durch einen bewaffneten Aufstand den Sozialismus einzuführen. Von Spanisch-Marokko aus wurden Kriegsschiffe voller marokkanischer Söldner, Fremdenlegionäre und regulärer spanischer Marine-Soldaten herbeigeschickt, um die Bewegung niederzuschlagen. Die traditionelle Hochburg des Sozialismus leistete auch gegen Francos Putsch von 1936 erbitterten Widerstand. Die Provinz wurde im spanischen Bürgerkrieg erst nach Monaten eingenommen. Und so bekennen sich viele Asturier bis heute zu ihrer linksliberalen-antikonservativen Einstellung.
    "Alle in meiner Familie sind Anti-Franquisten, ich inklusive, auch unter meinen Kollegen sind 95 Prozent Republikaner. Die Minenarbeiter wollten nur ihre Lebensumstände verbessern, deswegen erhoben sie sich gegen die konservativen Kräfte. Und wurden gnadenlos niedergemetzelt." (Rigu Suárez)
    Über Rigu Suárez:
    Der Sackpfeifen-Spieler Rigu Suárez ist Chef der asturischen Folk-Band Corquiéu, die sich vor knapp 20 Jahren im Küstenort Ribadesella zusammenfand.
    Die Musik der asturischen Dörfer
    "Die Frauen improvisieren das alles. Sie schlagen das Tamborin und improvisieren. Wonach hört sich dieser Gesang für dich an? Nach Nordeuropa oder eher nach Nordafrika? Nach Nordafrika, nicht wahr? Und mit den Schellen des Tambourins natürlich noch viel mehr. Also habe ich zu meiner Band gesagt: Wir konzentrieren uns jetzt auf ein authentisch asturisches Repertoire. Und ich singe nur noch, wenn Rhythmik, Melodie und Ausdrucksweisen des asturischen Dialekts in unseren Folkstücken streng eingehalten werden." (Xosé Ambas)
    Über Xosé Ambas:
    Xosé Ambás ist mit seinem Auto in die hintersten Täler Asturiens gefahren, um sich dort von alten Männern und Frauen Stücke vorsingen zu lassen. Unter Ambás' Leitung beginnt seine Band Tuenda, immer stärker diese musikarchäologischen Strukturen in ihre Songs einzubauen.
    Bemerkenswert an der authentisch-asturischen Musik in diesen halbentvölkerten Dörfern ist freilich auch die Instrumentierung, die Ambás dort vorfindet. Sie verhält sich ganz anders, als man es von offiziellen Festen und Konzerten zu Ehren der Volkskultur kennt, in denen riesige Orchester glatte Melodien spielen.
    "Die Musik in diesen Dörfern ist unglaublich einfach. Stimme und Tambourin – sonst nichts! Im Höchstfall vielleicht noch Stimme und Gaita oder Stimme und Drehleier. Aber üblich ist: Stimme und Tambourin. Die Musik besitzt auch eine ganz spezifische Geschlechterordnung. Das Tambourin wird in der Regel nur von Frauen gespielt. Wenn Männer es spielen, setzen sie sich dem Verdacht aus, schwul zu sein. Die Gaita dagegen spielen nur Männer, wenn Frauen sie spielen, würden sie als Lesben erscheinen."
    Diese Geschlechtertrennung, welche Instrumente nur von Männern, und welche nur von Frauen gespielt werden dürfen, wirkt archaisch. Doch wie sieht es mit den Texten dieser fast vergessenen Musik in den asturischen Dörfern aus?
    "Oft werden alte, lange, dramatische Gedichte gesungen, wie die Romances, aber auch kürzere, moritat-artige Strophen, wie die Coplas, die früher die Blinden oder die Hausierer gesungen haben. Noch häufiger sind jedoch sogenannte Canciones independientes, vom Sänger oder der Sängerin spontan gedichtet. Um ein Beispiel zu geben: Eine Sängerin kann zum Beispiel – wenn sie ihren Freund unter den Festgästen sieht – ein paar herausfordernde Spitzen in seine Richtung singen."
    Das Seltsamste, das Ambás jedoch vorfindet, ist das Genre der Añadas oder Añais, einer Art Wiegenlieder, in welchem dem Kind in der Wiege etwas vorgesungen wird. Doch während im mitteleuropäischen Wiegenlied der Aspekt des Beruhigens und Hätschelns im Vordergrund steht, charakterisiert die asturischen Wiegenlieder eine sonderbare Doppelbödigkeit: Hier wird zum Beispiel zwischen den Strophen dem Geliebten, mit dem man eine verbotene Affäre unterhält, eine Geheimbotschaft übermittelt, wie er sich am besten vor dem Ehemann in Acht nimmt: Meistens bezieht sich der Text auf eine Verabredung, allerdings mit der Warnung, dass der Ehemann schon auf dem Weg ist, ins Schäferstündchen zu platzen.
    Der Flamenco Andalusiens
    Flamenco-Tänzerin
    Flamenco-Tänzerin (imago stock&people)
    Um authentischem Flamenco zu begegnen, muss man den Touristen-Tanzrummel hinter sich lassen und zum Beispiel ins kleine Fischerdorf Sanlúcar de Barrameda, Provinz Cádiz, direkt am Delta des Guadalquivir, reisen. Hier gibt es authentischen Flamenco; auch Peñas flamencas, Flamenco-Stammtische: Zweimal in der Woche trifft sich bei Eduardo und Ana Serralbo eine bunt zusammengewürfelte Schar von Menschen, die eine Leidenschaft eint: die Liebe zum Flamenco. Konzentriertes Musizieren, Diskutieren und Theoretisieren sind die Hauptanliegen der Peña Puerto Lucero. Ana und Eduardo müssen regelmäßig Konzerte organisieren, Künstler einladen, Kontakt zu anderen Peñas im Land aufrechterhalten, Sponsoren ausfindig machen, Gagen zahlen, Mitgliedsbeiträge zusammenkratzen und die Logistik verwalten. Doch Ana, die als Sängerin keine immensen Summen verdient und jahrzehntelang Hausfrau war, ist es gewohnt, Dinge aus Idealismus zu tun:
    "Wir müssen uns den Flamenco erarbeiten. Vielen Leuten mag harte Arbeit nicht schmecken, aber genau darum geht es: ums Arbeiten. Ich habe mit drei Jahren angefangen, zu singen, Flamenco-Gesang habe ich also mit der Muttermilch aufgesogen. Meine Mutter hat mir schon Fandancos vorgesungen, als ich noch in ihrem Bauch war. Und den Flamenco singe ich nicht, um den Leuten zu gefallen oder viel zu verdienen, sondern weil ich ihn im Blut habe."
    Ana fasst sich als Erstes ein Herz an diesem Abend, vorsorglich versichert sie, dass sie heute eigentlich gar nicht gut bei Stimme sei, die kühle Nachtluft habe sie beeinträchtigt.
    "Die Granaína, die ich hier singe, ist Federico García Lorca gewidmet. Sie besteht aus zwei Teilen: Die Vertreibung der Mauren aus Granáda und Lorcas Ermordung. Er wurde ja in Granada von Faschisten erschossen. "Alles weinte, selbst die Alhambra, als Federico starb." Während ich eine Geschichte durchleide, übertrage ich sie aufs Publikum. Das Publikum fängt an zu weinen, weil ich etwas übertrage: Nämlich den Duende – den wir alle in uns tragen, die wir Flamenco singen."
    El Duende: Ein großes Wort, um das sich seit über 90 Jahren die gesamte Flamenco-Wissenschaft dreht, seit der Dichter Federico García Lorca in einem Vortrag 1923 diesem Phänomen auf die Spur kommen wollte. Eine kollektive Urkraft des andalusischen Volkes soll er sein, der Duende, jahrtausendealt. Das Lob, das Ana für ihren furiosen Auftritt erhält, klingt daher auch ein bisschen wie das Lob an eine Besessene, die ihre Ekstase gerade bravourös überwunden hat:
    In den letzten 25 Jahren haben seriöse Musikforscher wie zum Beispiel der Österreicher Gerhard Steingress, Professor für Soziologie an der Universität Sevilla, damit begonnen, die jahrtausendealte, zigeunerische Herkunft des Flamencos zu durchleuchten. Sie sind dabei auf erstaunliche Ergebnisse gestoßen: Etwa, dass der Flamenco musikgeschichtlich in den spanischen Volksgesängen und der katholischen Kirchenliturgie verwurzelt ist.
    Ein Foto des Schriftstellers Federico Garcia Lorca.
    Ein Foto des Schriftstellers Federico Garcia Lorca. (imago/GranAngular)
    "Der Flamenco ist im Grunde eine Reinterpretation spanischer Volksweisen und Tänze. Diese Reinterpretation begann Ende des 18. Jahrhunderts und hat dann Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer neuen stilistischen Ausdrucksform geführt, die dann als Flamenco bekannt geworden ist. Der Kult der vermuteten maurischen Hintergründe der spanischen Kultur – und dazu kommt noch die romantische Zigeunermode, die ja in ganz Europa im 19. Jahrhundert eine große Rolle gespielt hat –, also der spanische Kult, der andalusische Kult begann eigentlich schon Ende des 18. Jahrhunderts als Reaktion auf den Nationalismus in Europa und den starken Einfluss der französischen Kultur in Spanien. Das heißt, man hat versucht, eine eigene spanische Kultur zu profilieren und hat dabei vor allem auf volkstümliche Elemente gesetzt und dem Ganzen dann dazu eine spezifische zigeunerische Note gegeben. Wobei zu behaupten ist, dass der Begriff des Gitano, des Zigeuners, ein sehr weitgefasster war." (Gerhard Steingress)
    Einer der bekanntesten Interpreten ist Federico García Lorca. In seinen poetischem Schaffen wird klar, dass er auf seine Zigeunerfiguren alles projiziert, was ihn dichterisch selbst umtreibt – surrealistische Sensibilität, Poesie, Anti-Rationalismus –, und dass seine Zigeuner darüber hinaus durchtränkt sind von homosexuellen Fantasien.
    Dass der Flamenco dann Jahrzehnte nach seinem Entstehen in eine subkulturelle Halbwelt abglitt, erklärt Gerhard Steingress mit spezifischen ökonomischen Entwicklungen des frühindustriellen Spaniens:
    "Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ist diese Volkslied-Kultur in den Theatern und in den Tanzakademien an ihr Ende gelangt. Viele Theater mussten aufgrund wirtschaftlicher Krisen und auch der Veränderung des Geschmacks zusperren, sodass diese Sänger, Sängerinnen und Tänzerinnen ausweichen mussten in jene Orte und Milieus, in denen sie Publikum gefunden haben – das heißt Tavernen, Bordelle, Hinterhöfe. Dort hat sich aus dieser andalusischen Volkslied-Kultur, die ja künstlich und künstlerisch geschaffen wurde, dann eine degradierte Version entwickelt, wohingegen die Kompetenz und Konkurrenz der Sänger erfordert hat, dass ein hohes Maß an Virtuosität erreicht werden musste, und die Interpretation auch als Einnahmenquelle, als ökonomische Überlebensmöglichkeit geschaffen werden musste."
    In diesen dörflichen und städtischen Bühnen des frühen Flamencos ging es dann in der Tat wenig kunstsinnig her: Es handelte sich hier um Kaschemmen, in denen neben Gauklertricks, Hahnenkämpfen und schlüpfrigen Tanzdarbietungen eben auch die ersten Auftritte jener Urgewalten stattfanden, die heute als emblematische Sänger gelten: Männer wie Silverio Franconetti, Juan Breva und Antonio Chacón.
    Zumindest in den heutigen Peñas ist die Atmosphäre kunstfreundlicher. Und was die Anziehungskraft betrifft, die der gut 200 Jahre alte, einst in der Volkskultur heimische, dann in den Untergrund abgedrängte, heute wieder revitalisierte Flamenco auf seine Anhänger ausübt: Diese Anziehungskraft liegt im Wunsch, sein Leben mit Würde und Leidenschaft zu leben, erhobenen Hauptes, trotz all der Widerstände und Zumutungen, die uns die moderne Gesellschaft auferlegt.
    Produktion dieser Langen Nacht:
    Autor: Stefan Wimmer; Regie: Margot Litten; Ton und Technik: Helge Schwarz; Sprecher: Krista Posch, Christian Baumann, Diana Gaul, Andreas Neumann, Heinz Peter; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Webproduktion: Jörg Stroisch
    Über den Autor:
    Stefan Wimmer arbeitet in München als Schriftsteller und Journalist. Er hat sieben Jahre in Mexiko City gelebt, drei Jahre in Spanien. Bekannte Werke von ihm sind: "Die 120 Tage von Tulúm", "Der König von Mexiko", "Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas" (Heyne/Blond) und seine CD-Compilation "Mexican Boleros. Songs of Heartbreaking, Passion & Pain (1927-1957)" (Trikont). Die Lange Nacht über den mexikanischen Bolero ("Dir gehört mein Leben") von Stefan Wimmer wurde 2010 mit dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet.