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Eine Lange Nacht über Erich Mühsam
Liebe und Anarchie

Erich Mühsam (1878 - 1934) saß zwischen allen Stühlen - fast sein ganzes Leben lang. Den ernsthaften Anarchisten war er zu sehr Boheme: Er dichtete zu unpolitisch, trank zu viel und vergnügte sich zu sehr - nicht nur, so der Vorwurf, mit Frauen.

Von Rolf Cantzen | 07.04.2018
    Der1878 in Berlin geborene Schriftsteller und Politiker Erich Mühsam
    Der 1878 in Berlin geborene Schriftsteller und Politiker Erich Mühsam (picture alliance / dpa)
    Nach dem Ersten Weltkrieg beteiligte er sich an der Münchener Räterepublik, redete vor Zehntausenden von Arbeitern und Soldaten. Im Gegensatz zu vielen anderen Genossen überlebte Erich Mühsam die Niederschlagung der Räterepublik.
    Weil er mit den Kommunisten kooperierte, um den Aufstieg des Nationalsozialismus zu verhindern, wurde er von vielen anarchistischen Freunden verlassen. Weil Mühsam an der Staatskritik und am Individualismus der Anarchisten festhielt, wurde er von den Kommunsten als Kleinbürger kritisiert, - auch noch nach seiner Ermordung im KZ Oranienburg. (*)
    Doch immer beschreiben ihn Zeitgenossen als einen herzlichen, großzügigen und gütigen Menschen. Seine derzeit neu publizierten Tagebücher machen verständlich warum.
    Wiederholung vom 6./7.4.2013
    Liebe und Triebe
    Es stand ein Mann am Siegestor,
    der an ein Weib sein Herz verlor.
    Schaut sich nach ihr die Augen aus,
    in Händen einen Blumenstrauß.
    Zwar ist dies nichts Besonderes.
    Ich aber ich bewunder es.
    (Erich Mühsam: Es stand ein Mann am Siegestor ... In: War einmal ein Revoluzzer. Bänkellieder und Gedichte. Hg. Helga Bemmann , Reinbeck 1978)
    "München, d. 7. Mai 1911
    Der elende Tripper! Ununterbrochen macht er sich bemerkbar, stört mich in meinen Absichten, lähmt meine Aktionen, vergiftet meine Laune. Gestern abend war es wieder grässlich. Ich hatte Eduard Joel und Frau getroffen -; sie war sichtlich geil auf mich und bat mich, ich möchte sie heimbegleiten. Ich tat das, ging mit ihr hinauf ins Atelier und regte mich an ihren Küssen furchtbar auf. Dann zog sie sich um, und ich sah sie nackt, was mich toll machte, dass ich vor Schmerz und Wollust hätte schreien mögen."
    (Erich Mühsam: Tagebücher Band 1, Berlin 2011)
    Hubert

    Du warst ein Knabe - o, ein schöne Knabe,
    und vor dir deine Welt. ich habe
    manch Weib bisher gesehn, doch nie ein Glück.
    Und nun nun trittst du wieder mir entgegen
    ein Jüngling, dem das Leben sich enthüllte.

    (Erich Mühsam: Hubert. In: Ders.: Die Homosexualität. Eine Streitschrift. Mit einer Einführung von Walter Fähnders. München 1994)
    Anarchie und Kapitalismuskritik
    Anarchie
    " Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchistische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk.
    Aber die Menschen verlangen nach Herrschaft, weil sie in sich selbst keine Beherrschtheit haben. Sie küssen die Talare der Priester und die Stiefel der Fürsten, weil sie keine Selbstachtung haben und ihren Verehrungssinn nach außen produzieren müssen. Sie schreien nach Polizei, weil sie allein sich nicht schützen können gegen die Bestialität ihrer Instinkte. Wo ihr Zusammenleben gemeinsame Entschlüsse verlangt, da lassen sie sich vertreten (die deutsche Sprache ist sehr feinfühlig), weil sie den eigenen Entschlüssen zu trauen nicht dem Mut haben. "
    (Erich Mühsam: Anarchie. In: Wir geben nicht auf! Texte und Gedichte Hg.: Günther Gerstenberg, München 2002)
    " Die Räterepublik baut sich von unten nach oben auf. Drehpunkte sind die Orts- und Betriebsräte. Sie sind nichts als Sprecher und an die Beschlüsse der Basis gebunden. An Stelle von Staat und Kapital tritt die Selbstverwaltung der Menschen. An die Stelle zentralistischer Organisationen tritt die freie Föderation. "
    (Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, Berlin 1974)
    Ausbeutung
    Ausgezehrt, vergrämt und abgerissen
    schafft des Arbeitsvolks geschundne Zahl.
    Hungernd schiebt es knusprig fette Bissen
    in den Gierschlund Kapital.
    Und es schmatzt der aufgesperrte Rachen;
    sillbeglückt vollzieht sich die Verdauung.
    Glück ist ausgepumptes Blut der Schwachen,
    das ist altbewährte Weltanschauung.
    Doch das Kapital hat eine Schwester,
    welche man bewundert weit und breit,
    - gleichfalls aus der Gegend von Manchester -
    und ihr Name ist die Sittlichkeit.
    Wie das Kapital die Schwindsucht fördert,
    dadurch im Besitz des Wohlseins festet,
    wird von ihr der Liebe Glück gemördert
    und die Welt mit Syphilis verpestet.
    (...)

    (Erich Mühsam: Ausbeutung. In: In: Wir geben nicht auf! Texte und Gedichte Hg.: Günther Gerstenberg, München 2002)
    Der Revoluzzer
    Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet.
    War einmal ein Revoluzzer,
    im Zivilstand Lampenputzer;
    ging im Revoluzzerschritt
    mit den Revoluzzern mit.
    Und er schrie: "Ich revolüzze!"
    Und die Revoluzzermütze
    schob er auf das linke Ohr,
    kam sich höchst gefährlich vor.
    Doch die Revoluzzer schritten
    mitten in der Straßen Mitten,
    wo er sonsten unverdrutzt
    alle Gaslaternen Putz.
    Sie vom Boden zu entfernen,
    rupfte man die Gaslaternen
    aus dem Straßenpflaster aus,
    zwecks des Barrikadenbaus.
    Aber unser Revoluzzer
    schrie: "Ich bin der Lampenputzer
    dieses guten Leuchtelichts.
    Bitte, bitte, tut ihm nichts!
    Wenn wir Ihn' das Licht ausdrehen,
    kann kein Bürger nichts mehr sehen.
    Laßt die Lampen stehn, ich bitt! -
    Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!"
    Doch die Revoluzzer lachten,
    und die Gaslaternen krachten,
    und der Lampenputzer schlich
    fort und weinte bitterlich.
    Dann ist er zu Haus geblieben
    und hat dort ein Buch geschrieben:
    nämlich, wie man revoluzzt
    nämlich, wie man revoluzzt
    und dabei doch Lampen putzt.
    (Erich Mühsam: Der Revoluzzer In: Ders.: Der Bürgergarten. Zeitgedichte. Ausgewählt von Wolfgang Teichmann, Berlin und Weimar 1982)
    Der Gefangene
    Ich hab's mein Lebtag nicht gelernt,
    mich fremdem Zwang zu fügen.
    Doch ob sie mich erschlügen:
    Sich fügen heißt lügen!
    Ich soll? Ich muss? - Doch will ich nicht
    nach jener Herrn Vergnügen.
    Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
    Rebellen kennen bessre Pflicht,
    als sich ins Joch zu fügen.
    Sich Fügen heißt lügen.
    ...
    Doch bricht die Kette einst entzwei,
    darf ich in vollen Zügen
    die Sonne atmen - Tyrannei!
    Dann ruf ich's in das Volk: Sei frei!
    Verlern es, dich zu fügen!
    Sich fügen!
    (Erich Mühsam: An die Soldaten. In: Ders.: Sammlung 1898 bis 1928, Berlin 1978)
    Krieg und Militarismus
    An die Soldaten
    An die Soldaten
    Sauft, Soldaten!
    Dass das Blut
    heißer durch die Adern rinnt.
    Saufen macht zum Sterben Mut.
    Sauft! Die Zeit der Heldentaten
    fordert saftge Teufelsbraten.
    Sauft! Der heilige Krieg beginnt.
    Sauft und betet!
    Gott erhört
    liebevoll der Gläub'gen Ruf.
    Wünscht, dass er den Feind zerstört!
    Wenn ihr über Leichen tretet,
    dankt dem Herrn, zu dem ihr flehet,
    dass er euch zu Mördern schuf.

    (Erich Mühsam: An die Soldaten. In: Ders.: Sammlung 1898 bis 1928, Berlin 1978)
    Kriegslied
    Sengen, brennen, schießen, stechen,
    Schädel spalten, Rippen brechen,
    spionieren, requirieren,
    fluchen, bluten, hungern, frieren.
    So lebt der edle Kriegerstand,
    die Flinte in der linken Hand,
    das Messer in der rechten Hand
    mit Gott für Staat und Vaterland.
    Aus dem Bett von Lehm und Jauche
    zur Attacke auf dem Bauche
    Wunden - Leichen - Heldentaten
    Bravo, tapfere Soldaten.

    (Erich Mühsam: Kriegslied. In: Ders.: Der Bürgergarten. Zeitgedichte. Ausgewählt von Wolfgang Teichmann, Berlin und Weimar 1982)
    Links:
    Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V.
    Anarchistische Bibliothek, Berlin
    Wanderverein Bakuninhütte Denkmal zur verschütteten Geschichte des Anarchismus in Deutschland
    Mühsam-Tagebücher
    Projekt Gutenberg
    CD-Tipps
    Ernst Busch: Streit und Kampf
    Dreyheit: Sie fügen heißt lügen
    Georg Hause. Das Herz in der Hand. Lieder nach Texten von E. Mühsam
    Slime: Sich fügen heißt lügen
    Wollte nicht der Frühling kommen? Lothar von Versen singt Texte von Erich Mühsam
    Erich Mühsam - Gedichte vertont und gesungen von Isabel Neuenfeldt
    Dieter Süverkrüp: Ich lade Euch zum Requiem
    Literaturtipps
    Erich Mühsam. Eine Biographie. Von Chris Hirte; Hrsg. u. mit e. Vorw. vers. v. Stephan Kindynos . Aus dem besseren Deutschland Nr.1 . 2009 Ahriman-Verlag.
    Erich Mühsam war ein Dichter, ein Gestalter von Sprache und "längeren Gedankenspielen"; als solcher konnte er eine Kraft entwickeln, die ihm in der rationalen Sphäre der Gesellschaftsanalyse und -gestaltung versagt blieb. "Sich fügen heißt lügen" zitiert eine Zeile aus einem Gedicht, das er in bayrischer Haft 1919 geschrieben hat, und diese darf sicherlich zugleich als Maxime für sein Leben gelten. Mühsam war bekennender Anarchist, und die Quelle vor allem für das literarische Werk entstammte seiner moralischen Stärke und Unbestechlichkeit. Chris Hirte hat es unternommen, Leben und Werk dieses ermordeten Dichters nachzuzeichnen. 1985 erstmalig in der DDR erschienen, steht diese Biographie in der hier vorliegenden Neuauflage am Anfang der Reihe "Aus dem besseren Deutschland". Erich Mühsams Leben und Werk ist stellvertretend für dieses bessere Deutschland bzw. dessen geistigen und politischen Repräsentanten aus jener Zeit, in der noch die Weichen gestellt werden konnten.
    Rolf Cantzen. Weniger Staat - mehr Gesellschaft. Freiheit. Ökologie. Anarchismus, Grafenau 1995, Trotzdem-Verlag . (zuvor: Fischer Taschenbuch Verlag 1987).
    Erich Mühsam. Tagebücher. Bd.3 1912-1914. Herausgegeben von Chris Hirt und Conrad Piens. 2012 Verbrecher Verlag.
    15 Jahre lang, von 1910 bis 1924 hat Erich Mühsam, der berühmteste deutsche Anarchist sein Leben festgehalten ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber und niemals langweilig. Was diese Tagebücher so fesselnd macht, ist der wache Blick des Weltveränderers. Mühsam wollte Anarchie praktisch ausprobieren. Anarchie hieß für ihn: Leben ohne moralische Scheuklappen, ohne Rücksicht auf Konventionen und er bewies, dass es geht. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart.
    Mühsam Tagebuch ist ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt, es erscheint in 15 Bänden und zugleich als Online-Edition. Die gewissenhaft edierten Textbände werden im Netz unter begleitet von einem Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namenregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien, Suchfunktionen so entsteht eine historisch kritische Ausgabe!
    Erich Mühsam. Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Hg.: Christlieb Hirte, 1985 (Rixdorfer Verlagsanstalt). Anm.: Diese Auswahl erschien erstmals in der DDR. Mühsams kritische Texte zum Staatssozialismus und Marxismus bleiben weitgehend unberücksichtigt.)
    Erich Mühsam. Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Berlin. 1973 (Karin Kramer Verlag)
    Erich Mühsam: An die Soldaten. In: Ders.: Sammlung 1898 bis 1928, Berlin 1978
    E-Books
    Erich Mühsam. Gegen das Vergessen. Ausgewählte Werke und Schriften E-Book. Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet.. 2013 AuraBooks eClassica
    Erich Mühsam. Staatsräson. E-Book. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti. 2012 Henricus - Edition Deutsche Klassik
    Erich Mühsam. Unpolitische Erinnerungen. E-Book, 196 S. EPUB. 2012 Henricus - Edition Deutsche Klassik
    Erich Mühsam. Sammlung 1898 1928, E-Book 260 S. EPUB. 2012 Henricus - Edition Deutsche Klassik
    (*) In der ursprünglichen Fassung des Beitrags hieß es, Erich Mühsam sei im KZ Sachsenhausen ermordet worden. Das ist falsch. Richtig ist KZ Oranienburg. Wir haben den Fehler korrigiert.