Freitag, 19. April 2024

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Eine Lange Nacht über Kostya Belyaev, Rudik Fuks & ihre Erben
Die Freiheit des Sängers

Ein Sänger und ein Produzent, beide an die 70: Kostya Belyaev und Rudik Fuks haben in den 60er- und 70er-Jahren hunderte russischer Lieder geschrieben, gesungen und aufgenommen. Ihr Repertoire: Straßen-, Gauner- und Liebeslieder. Ihre Lieder haben eine ganze Generation geprägt, obwohl sie nie im Radio liefen und nie auf Schallplatten veröffentlicht wurden.

Von Uli Hufen | 27.04.2019
    Zehn Audiokassetten liegen auf einem Tisch.
    Die Lieder von Kostya Belyaev und Rudik Fuks wurden oftmals von Kassette zu Kassette weitergegeben (dpa/ picture-alliance / Frank Kleefeldt)
    Kostya Belyaev und Rudik Fuks, ein Sänger und ein Produzent, beide an die 70. Der eine ein Odessit in Moskau, der andere ein Petersburger von Geburt, zurück aus dem amerikanischen Exil. Beide Legenden, aber auch letzte Vertreter einer Ära: Kostya Belyaev und Rudik Fuks haben in den 60er- und 70er-Jahren hunderte Lieder geschrieben, gesungen und aufgenommen. Straßenlieder, Gaunerlieder, Liebeslieder. Romanzen, Zoten, Scherze.
    Ihre Lieder haben eine ganze Generation geprägt, obwohl sie nie im Radio liefen und nie auf Schallplatten veröffentlicht wurden. Sie gingen von Hof zu Hof, von Restaurant zu Restaurant und von Kassette zu Kassette. Seit den späten 90ern finden sie ihren Weg in die Radioprogramme des neuen Russland. Kostya Belyaev erlebt so in Moskauer Boheme Clubs seinen vierten Frühling.
    Und plötzlich ist auch eine neue Generation von Sängern da, die ihre Lektionen von Belyaev und Fuks gelernt hat. Was also hieß es, cool zu sein, im Russland der 60er- und 70er-Jahre? Und: Was kann man von den Alten lernen?
    (Wdh. v. 23./24.4.2004)
    Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT.

    Das Blat-Lied
    Konzertausschnitt mit Sergej Schnurrow auf Youtube:
    "Ich mag das Wort Chanson nicht. Das Wort kommt ja aus Frankreich und bezeichnet im Grunde nur ein Lied, sonst nichts. Blatnjak gefällt mir besser – das Wort beschreibt diesen Stil viel besser. Blatnjak war in der Sowjetunion ja Undergroundmusik. Im Grunde war das unser Rock'n'Roll. Nicht im Sinne von Mode oder Stil, sondern im Sinne eines Protestes, einer Ablehnung des normalen Lebensstils." (Sergej Schnurow)
    Woher das Wort kommt, ist übrigens heftig umstritten. In jedem Fall bezeichnet Blat die Sprache der Diebe. Blatnaya Musyka wiederum oder Blat-Musik ist ein anderer Begriff für den Jargon der Ganoven. Blatnyak schließlich sind die Lieder, die von all dem handeln: von Gaunern und ihren Abenteuern, von der Zeit in Gefängnis und Lager, die kaum zu vermeiden ist, von der Sehnsucht nach der Freiheit und der Heimat. Dazu kommt eine Unzahl von Liedern, die im engen Sinne nichts mit der kriminellen Seite des Lebens zu tun haben, die aber den Gaunerliedern in ihrer anarchistischen Grundhaltung nahe stehen. Straßenlieder, freche Scherzlieder, zotige Liebeslieder und vieles mehr.
    "Das Blat-Lied zeichnet sich dadurch aus, dass es einen Abdruck der Seele des Volkes darstellt - und eben nicht nur der Physiognomie des Diebes! In diesem Sinne kann das Blat-Lied, in einer Vielzahl von Formen, Anspruch auf den Titel des Russischen Nationalen Liedes erheben. Es eröffnet jenes Schöne, das unseren Augen im Leben verborgen bleibt. Und mehr noch, das Blat-Lied ist in seinem Kern rein und unschuldig, wie ein kleines Kind, und durch seine tiefe spirituelle, moralische Note verneint es unabhängig vom eigenen Willen genau die Verbrechen, die es scheinbar so kenntnisreich besingt." (Andrej Sinjawskij)
    Underground-Musikproduzent Rudik Fuks
    "Ich habe immer Platten gesammelt, seit der Schulzeit. Wir bekamen durch unsere Eltern Musik aus der Vorkriegszeit – in der Sowjetunion erschien zu dieser Zeit ja praktisch nichts. Da war ein gewisses Vakuum – es kam einfach nichts Neues raus, was dem Stand des musikalischen Lebens der Welt entsprochen hätte. Es gab die offizielle Kultur, da gab es auch ein paar gute Sänger und Bands, die wir hörten. Aber trotzdem – das konnte uns nicht befriedigen. Wir hörten ja Radio, lasen in den Zeitungen. Wir wollten ungewöhnliche Sachen hören, die es in den Läden nicht gab, die keiner zu Hause hatte. Und das mussten wir einfach selbst machen!"
    Als Rudik Fuks 1972 das Lied "Murka" aufnimmt, welches die Geschichte eines Gaunerkönigs erzählt, der sich in Odessa in eine Agentin der Geheimpolizei verliebt, ist er ein sowjetischer Underground-Musikproduzent vor dem großen Durchbruch. Seit den 50er-Jahren kauft und verkauft Fuks Schallplatten, offizielle sowjetische und ausländische genauso wie die legendären selbst gemachten "Schallplatten auf Rippen". Unter diesem obskuren Namen zirkulierte seit 1946 in Leningrad Musik, die auf benutzten Röntgenfilm gepresst wurde.
    Der Röntgenfilm stammte aus den Polikliniken der Stadt und so erklärt sich, dass unter den Rillen dieser weichen Schallplatten die Rippen von Thorax-Röntgenaufnahmen durchschimmerten.
    Anfang der 60er-Jahre endet die Ära der Röntgen-Musik nach 15 Jahren permanenter Illegalität. Doch es ist nicht der Staat, der den Röntgen-Unternehmern den Todesstoß versetzt, sondern eine neue Technologie: Ab 1961 kommen in der Sowjetunion Tonbänder auf. Fuks gehört zu den ersten Fans der neuen Technik und weitet sein Geschäft schnell aus. Doch schon bald ist Fuks die Rolle des Vervielfältigers von ausländischer, vergriffener und verbotener Musik nicht mehr genug.
    "Ich suchte einen Interpreten, der meinen Freunden und Bekannten gefallen könnte, der aber kein offizieller Sänger war. Manchmal konnte man solche Sänger am Strand hören, einfach talentierte Gitarristen, die irgendwelche inoffiziellen Lieder sangen. So kam ich darauf, dass man einen ganz besonderen Interpreten finden könnte, unter all diesen Leuten. Also hab ich oft das Tonband mit an den Strand genommen, Sachen aufgenommen. Ich fuhr mit einem kleinen Philips-Tonband nach Odessa, um Lieder aufzunehmen. Später hab ich diese Aufnahmen in meiner Arbeit mit Severnyj benutzt. Ich habe viele Odessaer Lieder aufgenommen, Gaunerlieder – in Odessa, am Strand, auf irgendwelchen Partys."
    Arkadij Severnyi auf Youtube:
    Und dann hat Fuks einfach Glück – und findet seinen zukünftigen Starsänger. Nicht am Strand und schon gar nicht in Odessa, sondern zu Hause, in Leningrad. Eines Tages steht Arkadij Severnyj einfach vor der Tür von Fuks Wohnung und klingelt. Severnyj ist damals ein 23-jähriger Student, Fuks zwei Jahre älter und schon in der ganzen Stadt als Fartsovtschik, als Schwarzhändler und Plattensammler, bekannt.
    "Arkadij Severnyj wurde mir von Gott gesandt. Er war eigentlich ein ziemlich normaler Typ. In der Menge hätte man ihn nicht bemerkt. Er interessierte sich damals für die Gedichte von Ivan Barkov. Der lebte kurz vor Puschkin und ist berühmt für seine unanständigen Verse. Er sah die Gitarre, ich schaute ob er singen würde, dann sang er los und ich merkte, dass er eine ungewöhnliche Stimme hatte. Er sang damals mit einer hohen Stimme, später bekam er einen Tenor-Bariton, weil er viel trank, die Stimme litt darunter. Aber damals sang er mit dieser hohen Zigeunerstimme. Ich nahm das sofort auf Tonband auf, um herauszufinden, wie seine Stimme vom Band klingt. Es zeigte sich, dass seine Stimme dafür ideal geeignet war."
    Naturgemäß ist alles was Fuks tut komplett illegal. Doch scheint es in seiner Generation eine große Menge von Leuten gegeben zu haben, die für ihre Ideen und Träume nicht nur größte Hindernisse, sondern sogar Strafen zu erdulden bereit waren. 1965 wird Fuks als Spekulant zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, doch die Geschichte ist auf seiner Seite. Im November 1967 kommt er dank einer Amnestie zu Ehren des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution vorzeitig frei und nimmt seine Geschäfte sofort wieder auf.
    Zwischen 1972 und seinem frühen Tod im April 1980 nahm Arkadij Severnyj für Fuks und andere Produzenten mehr als 80 Konzerte mit insgesamt beinahe 1.000 Liedern auf. Gaunerchansons aus Odessa, Gulag-Lieder aus Vorkuta und von der Kolyma, Lieder der Weißgardisten und vieles mehr.
    Sämtliche Aufnahmen fanden in Privatwohnungen oder in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Sälen statt, oft vor einem Publikum von nicht mehr als 20, manchmal vielleicht 50 Freunden und Bekannten. Das Entscheidende aber waren die Petersburger Sammler, die zu den von Fuks organisierten Konzerten mit ihren Tonbandgeräten anrückten. Für eine an Fuks zu entrichtende hohe Summe erwarben sie das Recht, die Konzerte aufzunehmen, zu vervielfältigen und in beliebiger Zahl zu verkaufen.
    Kneipen, Restaurants und Taxifahrer waren die Knotenpunkte im Vertriebsnetzwerk der Sammler. Severnyj selbst bekam in den 70er-Jahren pro Konzert 500 oder 600 Rubel – ein Vielfaches des durchschnittlichen Monatsgehaltes jener Jahre und deutlicher Beweis für seine enorme Popularität. Doch der wachsende Erfolg hatte im Undergroundshowgeschäft der Sowjetunion in den 70ern oft genau dieselben Folgen, wie im Westen: falsche Freunde, falscher Lebensstil, Drogen, früher Tod:
    "Dieses Bohemeleben hat ihn fertig gemacht. Er hat seine Familie verloren, die Arbeit. Er hatte ja die Forstwirtschaftliche Akademie absolviert und arbeitete im Holzexport. Die Arbeit hat er dann verloren und er musste von dem leben, was man ihm fürs Singen gab. Er hatte keinen anderen Ausweg. Darum musste er diesen Mist singen, den sie ihm unterschoben. Ich konnte nichts machen. Ich dachte darüber nach, ihn mit ins Ausland zu nehmen. Aber dafür hätte man eine fiktive Ehe organisieren müssen. Als ich dann etwas vorbereitet hatte, verschwand er für eine Weile, betrunken. Ich wollte ihn mitnehmen, weil ich sah, dass er stirbt. Ich sah, dass er trinkt und als Freund fürchtete ich um ihn. Genauso ist es ja dann auch gekommen."
    1979 emigrierte Rudik Fuks nach Amerika, von wo er erst 23 Jahre später heimkehren sollte. Ein paar Monate später, im April 1980 starb sein Freund Arkadij Severnyj im Alter von nur 40 Jahren.
    Chansonier Kostya Belyaev
    Kostya Belyaev auf Youtube:
    Es ist der 30. Mai 1976 , Moskau: Der Geschäftsmann und Bohemien David Grigorjewitsch Schenderowitsch hat Geburtstag. David Schenderowitsch ist zu dieser Zeit nicht nur ein bekannter Bonvivant, sondern wie Rudik Fuks in Leningrad auch Musikproduzent. Inoffiziell natürlich. Zu seinem Geburtstag hat er sich gewünscht, dass Moskaus heißester Sänger bei ihm auftritt: Kostya Belyaev, ist 41 Jahre alt und liest dem Jubilar hier zur allgemeinen Erheiterung erstmal ordentlich die Leviten. Belyaev beschimpft seinen jüdischen Freund als gewissenlosen Geschäftemacher, Belyaev behauptet, Schenderowitsch traue weder seiner Frau noch seinem Hinterteil, habe für das Geld sogar den Sex aufgegeben und überhaupt vergessen, was das Leben schön macht.
    Und dann singt Belyaev dem Geburtstagskind Schenderowitsch 17 Lieder, die allesamt ausschließlich von eben den Dingen handeln, die das Leben schön machen. An diesem 30. Mai 1976 ist Kostya Belyaev in absoluter Hochform. Seine Stimme klirrt erbarmungslos wenn nötig, dann wieder ist sie schmelzzart und friedlich. Belyaev flucht und zischt, er haucht und quietscht und zum Glück für die Nachwelt hat einer der glücklichen Gäste dieser Party ein Tonband eingeschaltet und das Ganze aufgezeichnet.
    Zum Glück deshalb, weil das resultierende Album zu den Meisterwerken des sowjetischen Undergrounds der 60er- und 70er-Jahre gehört. "Zu Gast bei Dosya Schenderowitsch" ist eine veritable Enzyklopädie des sowjetischen Lebens jener Jahre, wie sie kein Historiker je geschrieben hat. Belyaevs Album ist eine Bibel des guten Geschmacks, ein Lehrwerk für jeden angehenden Dandy, ein Dokument überbordender Lebensfreude. Zügelloser Humor durchzieht die Platte und paart sich aufs Wunderbarste mit den gröbsten Flüchen und Pöbeleien. Es gibt Scherzlieder von und über Juden, es gibt lyrische Liebeslieder, es gibt grobe Sexlieder und sogar ein lyrisches.
    Die Leute, die bei Schenderowitsch sitzen und Belyaev zuhören, gehören keinem sektiererischen Zirkel von Musikspezialisten an, der sich an obskuren oder verbotenen Liedern berauscht, an Liedern, die sonst keiner kennt. Konstantin Belyaev singt an diesem Abend durchweg Stücke, die in der Sowjetunion der 70er-Jahre so ziemlich jeder kennt, inklusive der Parteiführung.
    Anders steht es um den besten Interpreten dieser Lieder, um Kostya Belyaev. Seinen Namen kennen in Russland im Gegensatz zu Severnyjs nur wenige. Während sich um Severnyjs Person zahllose Legenden ranken, führen Belyaevs Lieder eine Existenz, die von ihrem Schöpfer weitgehend losgelöst ist. Viele seiner Lieder sind derart populär, dass man sie heute für Volkslieder hält.
    Belyaev wurde 1934 in Odessa geboren. Von dort stammt gewiss sein ätzender, in vielem jüdisch inspirierter Humor. Doch Belyaevs Jugend ist vor allem von Krieg und Armut geprägt. 1946 tritt er in ein militärisch geführtes Internat mit intensivem Englischunterricht ein. Hier werden zukünftige Diplomaten und Agenten ausgebildet, keine Dandys. Und doch lebt und lernt Belyaev hier. 1955 geht er zum Studium nach Moskau, 1960 ist er ausgebildeter Dolmetscher und nimmt einen Job am Flughafen Scheremetjewo an. Kostya Belyaev ist endlich frei.
    "Das war Schichtarbeit – alle drei Tage eine 24 Stunden Schicht. Entsprechend hatte ich viel Zeit und begann, Gitarre zu lernen. Von Anfang an liebte ich diese ans Gangstermilieu angelehnten Lieder, Straßenlieder, Scherzlieder. Odessaer Lieder. Ich habe nie Lieder offizieller sowjetischer Komponisten gesungen, mich zog es immer zu diesen Undergroundliedern."
    Ab Mitte der 60er-Jahre hat Belyaev sein Leben ideal organisiert. Offiziell arbeitet er ein paar Stunden pro Woche als Englischlehrer für diverse Universitäten. Das ist wichtig, denn Leuten ohne Anstellung droht eine Verurteilung wegen Schmarotzertums. Nebenher gibt Belyaev gut bezahlten Privatunterricht, mit dem sich Abiturienten auf die Aufnahmeprüfungen für die Uni vorbereiten. Und er singt. Mitte der 60er Jahre entstehen die ersten Aufnahmen und dann kommt allmählich seine ganz große Zeit:
    "Die 70er-Jahre – das war mein Jahrzehnt, der Höhepunkt. Ich spielte ständig, wurde immerzu eingeladen. Es verging wirklich kein Wochenende, an dem ich nicht irgendwohin geholt worden wäre."
    Einer seiner größten Hits trägt den unverfänglichen Titel "Mein Freund der Student" und ist doch eine Gaunergeschichte ersten Ranges. Geschrieben hat das Stück Belyaevs Freund, der Dichter und Maler Igor Erenburg: Der ganze Zauber des durchgehend gereimten Textes entfaltet sich naturgemäß nur auf Russisch, aber auch eine schlichte Inhaltsangabe macht klar, welche Art von Humor Belyaev und Erenburg schätzen. Das Lied handelt von einem kleinen Ganoven, dessen Freund - der Student - Ausweise jener sowjetischen Behörde fälscht, die mit dem Kampf gegen Korruption und Diebstahl von Volkseigentum befasst ist. OBCHSS - Отдел борьбы с хищениями социалистической собственности. Ausgestattet mit diesem Ausweis begibt sich der lyrische Held schnurstracks zu einem der Manager des GUM. Das GUM ist das berühmteste Kaufhaus in ganz Russland und befindet sich direkt gegenüber vom Kreml. Der Manager hat furchtbare Angst vor einer Kontrolle, weil er seinen privilegierten Zugang zu seltenen Importwaren auf ungesetzliche Weise in bare Münze verwandelt und mit diesem Geld eine Datscha baut. So fällt es unserem Helden nicht schwer, einen schicken finnischen Anzug und andere modische Kleider zu erpressen. Als er dann in den feinen neuen Klamotten auf die Straße tritt, rennen die schönsten Moskauer Mädchen ihm mit offenen Mündern hinterher. Die Sympathien von Sängern und Zuhörern liegen wie immer in Russland klar auf der Seite der Gesetzlosen, die solche Lieder schreiben, singen und inspirieren.
    Auch Kostya Belyaev hat sich viele Jahre lang erfolgreich in der Schattenwirtschaft betätigt. Seit Ende der 70er verdiente Belyaev viel Geld, in dem er seine stetig wachsende Schallplattensammlung gegen Gebühr auf Kassetten überspielte. 1983 wurde er verhaftet:
    "Leider fanden sie bei mir zehn oder 15 Briefumschläge mit den Adressen von meinen Kunden, denen ich Musik aufnahm: meine eigenen Sachen, aber auch Rockplatten. Also haben sie mich verhaftet und erstmal alles mitgenommen."
    Belyaev verbringt ein Jahr in Moskauer Gefängnissen. Dann wird er zu vier Jahren Lager verurteilt. Nicht wegen seiner Lieder, nicht wegen staatsfeindlicher Witze, sondern wegen Spekulantentum. Und damit war seine Karriere als Sänger beendet, wie es schien. Als Belyaev 1987 nach Moskau zurückkehrt, hat die Perestroika begonnen. Jetzt ist erst mal westliche Popkultur gefragt, vor allem aber muss Geld verdient werden. Belyaev, zu dieser Zeit immerhin schon Mitte 50, arbeitet als Parkwächter und als Erzieher in einem Waisenheim, handelt eine Weile mit Kühlschränken und Videorecordern und bereitet sich wohl schon auf eine bescheidene Rentnerexistenz vor.
    Dann aber beginnt in den späten 90ern, wie aus dem Nichts, eine Renaissance des Russischen Chansons und der Blat-Lieder. Die Alten Helden sind plötzlich wieder gefragt, Belyaev spielt mit über 60 zum ersten Mal Konzerte in öffentlichen Clubs und Konzertsälen und eine neue Generation von Sängern macht sich daran, dass Genre ins 21. Jahrhundert zu befördern.
    Neue Chansons fürs 21. Jahrhundert
    Auch im Musikgeschäft hat sich einiges getan seit den großen Tagen von Rudik Fuks, Arkadij Severnyj und Kostya Belyaev. Ab Anfang der 90er-Jahre entstand in Russland eine an westlichen Vorbildern orientierte Unterhaltungsindustrie. Auf der anderen Seite steht das Ende aller Verbote und der Zensur. An deren Stelle regulierte fortan das totale Diktat des Geldes den Markt und führte zunächst zum Zusammenbruch nahezu jeder Art von anspruchsvoller Kunst vor dem Ansturm der westlichen Popkultur.
    Natürlich wird in Russland nach wie vor auch westliche Musik gehört. Doch daneben gibt es heute zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder interessante russische Popmusik. Verwirrung, Staunen, Unglauben: Im Herbst 2001 tauchte eine seltsame CD an russischen Musikkiosken auf. Weder Titel noch Cover entsprachen den gängigen Stilen der postsowjetischen Popindustrie und die Musik selbst, die tat das schon gar nicht.
    Das Cover von "Noch einmal über den Teufel" – denn genau so heißt die seltsame Scheibe, das Cover zeigt einen goldenen, vom Höllenfeuer angeleuchteten Teufel, der drauf und dran ist, einem liegenden Mann ein Getränk einzuflößen. Keine Milch, so darf man annehmen. Im Untertitel trägt die teuflische CD den Titel: "Das Beste der Sowjetischen Restaurantmusik 1975 – 76" von Graf Hortiza.
    Nach wie vor liebt das Volk diese anarchischen Chansons, nach wie vor fürchtet der russische Beamte sie wie der Teufel das Weihwasser. Der Regimewechsel im Lande hat daran nur eines geändert: Ihre Veröffentlichung auf CDs und Auftritte in Clubs sind derzeit nicht verboten. Aber auch das birgt Probleme, wie Graf Hortiza, der im wahren Leben Garik Osipov heißt, erzählt:
    "Heute ist es eine schwierige Sache, mit diesem Genre, mit diesen Chansons. Man kann damit viel Geld verdienen, aber das alles hat nichts mehr zu tun mit dem, was Severnyj, Belyaev oder auch Aleksandr Shabalovskij gemacht haben."
    Die Wiedergeburt des klassischen russischen Chansons, für die Graf Hortizas Platte ein herausragendes Beispiel ist, hat daher zwei Aspekte: Auf der einen Seite steht der Versuch, neue Chansons von hoher Qualität zu schreiben und zu singen, auf der anderen die Bewahrung und neuerliche Popularisierung des Werks der alten Meister.
    Garik Osipov auf Youtube:
    Garik Osipov ist derzeit wohl der umtriebigste und auch erfolgreichste Propagandist in Sachen russisches Chansons. Und das in vielerlei Form: Osipov wurde Ende der 90er in Moskau zunächst als Radiomoderator berühmt. Fester Bestandteil seiner Sendungen waren über Jahre hinweg die Chansons von Belyaev, Erenburg, Severnyj und vielen anderen Helden der 60er- und 70er-Jahre. 2001 nahm er dann schließlich die Platte über den Teufel auf und begann, Konzerte zu spielen.
    Die Inhalte: Gesetze gelten, wie immer in Russland, nur für diejenigen, die sich ihnen unterordnen, und wenn ein Diebstahl nur elegant genug begangen wird, dann gibt es daran einfach nichts auszusetzen. Erst recht nicht, wenn der Staat bestohlen wird, wie im Lied vom Studenten. All dies sind natürlich mythische Überhöhungen, wieder und wieder bearbeitete, uralte Motive russischer Folklore.
    Sie verwenden dabei die russische Gossensprache Mat. Das verstand sich schon allein deshalb von selbst, weil der Mat wie selbstverständlich zur Umgangssprache junger Russen wie Sergei Schnurov gehört:
    "Mat – das ist ein verbotener Wortschatz in der russischen Sprache. In Wahrheit ist er natürlich da, überall. Aber im Fernsehen hört man das nicht. Ausländern ist das schwer zu erklären – nicht weil die Gesellschaft dort offener ist, sondern weil die Leute bei uns zum Vögeln das Licht ausmachen. Verstehst du? Es ist eine besonders expressive Sprache. Wenn du Emotionen ausdrücken willst, brauchst du diese Sprache."
    Mat ist für den Ausdruck extremer Emotionen extrem gut geeignet – und das schließt extrem positive Emotionen ein. In dem Lied "Kak Zhit'" wird zum Beispiel davon erzählt, wie jemand nachts ziemlich betrunken nach Hause kommt und im Hauseingang ein weinendes Mädchen trifft. Betrunken wie er ist, neigt der Sänger zu Sentimentalitäten und fängt ein Gespräch mit dem Mädchen an, das gerade von seinem Mann verlassen wurde und nun um Rat in Sachen Liebe und Männer bittet. Schnurow antwortet darauf unsagbar grob, doch ist für den Zuhörer sofort klar, dass diese Grobheit der einzige Weg ist, Zuneigung und Verständnis auszudrücken. Stünde sie nicht zur Verfügung, müsste Schnurov an dem weinenden Mädchen vorbeigehen.
    Wie viele alte und neue Chansoniers stilisiert sich auch Shnurov zu einem ewig betrunkenen Außenseiter, der von einer verhängnisvollen Beziehung in die nächste taumelt. Im Gegensatz zu den allermeisten Kollegen verfügt Schnurow über das lyrische Talent, die Stimme und die Persönlichkeit, die nötig sind, um diese Stilisierung interessant und glaubhaft zu machen.
    "Heute dominieren ja Blat-Chansons, die mit elektronischen Instrumenten eingespielt werden. Ich wollte zeigen, dass der wahre Blatnyak anders ist. Der wurde nämlich von Live-Musikern in Restaurants gespielt. Ich wollte zeigen, dass das immer noch möglich ist. Blatnyak mit elektronischen Instrumenten, das ist als wenn man Country auf Yamahakeyboards spielen würde. Das ist lächerlich und dumm und es entspricht nicht den Traditionen."
    Und genau darum geht es letzten Endes bei der Renaissance der russischen Chansons: Traditionen, die Pflege des Erbes und seine behutsame Modernisierung. Garik Osipov, Sergey Shnurov und Mitstreiter wie Psoy Korolenko oder Alexey Kortnov haben verstanden, dass diese Traditionen relevant sind und reiche Früchte tragen können.
    Produktion dieser Langen Nacht:
    Autor: Uli Hufen, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Regie: Rita Höhne, Sprecher: Gunter Schoß, Werner Bussinger, Herlmut Gauss, Tilmar Kuhn, Webproduktion: Jörg Stroisch
    Über den Autoren Uli Hufen:
    Uli Hufen wurde 1969 in Weimar geboren, ging nach dem Fall der Mauer 1990 in den Westen und studierte Slawistik und Osteuropäische Geschichte in Köln und St. Petersburg. Seit vielen Jahren ist er als Autor tätig, berichtet für verschiedene Medien – unter anderem den WDR und den Deutschlandfunk - über Russland und die postsowjetischen Staaten.
    www.ulihufen.de