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"Eine Leserin äußerte sogar etwas von einer schlaflosen Nacht"

Abend für Abend twittert Spiegel Online im Minutentakt einen neuen Satz aus dem Roman "Black Box" von Jennifer Egan. Bei den Lesern komme das "Twitteratur"-Projekt positiv an, erzählt Literatur-Redakteur Sebastian Hammelehle. Allerdings gehe jeder unterschiedlich damit um.

Sebastian Hammelehle im Gespräch mit Änne Seidel | 10.08.2013
    Änne Seidel: "Menschen sehen nur selten so aus, wie man es erwartet, selbst wenn man Fotos von ihnen kennt." - Mit diesem Satz beginnt der neue Roman von Jennifer Egan, Black Box heißt er und ist gerade auf Deutsch erschienen. Ein erster Satz, der genau 93 Zeichen lang ist, inklusive Leerzeichen. Und damit ein erster Satz, der locker in eine Twitter-Mitteilung passt. – Zur Erinnerung: die Zeichen-Obergrenze bei dem Kurznachrichtendienst liegt bei 140 Zeichen. Und genau in einer solchen Twitter-Mitteilung wurde dieser erste Satz vor einigen Tagen veröffentlicht: "Spiegel Online" twittert derzeit Abend für Abend, Satz um Satz, den kompletten Roman von Jennifer Egan. Das ist nicht das erste Experiment dieser Art – es kursiert sogar schon ein Name für diese Form der Literatur, und zwar "Twitteratur". Der Begriff geht auf eine Initiative von zwei amerikanischen Studenten zurück. Sie fassten Klassiker der Weltliteratur in 140-Zeichen-Mitteilungen zusammen. Jetzt ist es allerdings zum ersten Mal eine durchaus renommierte Autorin, die sich auf dieses Experiment einlässt. Jennifer Egan wurde 2011 immerhin mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Man denkt bei so einer Aktion natürlich schnell an einen Werbe-Gag. Deshalb die Frage an Sebastian Hammelehle, Literatur-Redakteur bei "Spiegel Online": Worin kann der literarische Mehrwert dieser "Twitteratur" bestehen?

    Sebastian Hammelehle: Für den literarischen Mehrwert ist gerade Black Box ein sehr gutes Beispiel, weil bei diesem Text die Tweets der Erzähllogik entsprechen. Sie haben ja die Geschichte einer Agentin, die einen Auftrag zu erfüllen hat, und man hat das Gefühl, während man diesen Tweets folgt, im Kopf eines ferngesteuerten Cyborgs zu sein. Die Frau hat ja ein Ohrmikrofon, eine Kamera als Auge und dann hat sie auch noch eine USB-Schnittstelle zwischen den Zehen. Und wenn man jetzt diese Tweets liest – der Erzähler bleibt ja im Unklaren -, dann wirkt eigentlich jeder Tweet wie eine Instruktion an diese Agentin, als ob sie quasi ferngesteuert von irgendeinem Mastermind oder von einem Computerprogramm instruiert ihre Aktionen ausführt. Von daher haben wir es da mit einem Buch zu tun, bei dem die Tweets tatsächlich sehr sinnvoll sind.

    Seidel: Jennifer Egan sagt selbst, dass sie sich eigentlich gar nicht mit Twitter auskennt, und wenn man das so hört, dann könnte man aber schon vermuten, dass es sich da eher um eine Vermarktungsstrategie des Verlags handelt.

    Hammelehle: Letzten Endes ist das natürlich eine Vermarktungsstrategie des Verlags wie vermutlich jede Art von Buch, das irgendwie auf ungewöhnliche Art und Weise in der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Der Witz ist ja, dass Jennifer Egan von Hand schreibt, dass sie eigentlich gar nicht am Computer arbeitet, dass sie sich jetzt aber dafür entschieden hat, diesen Twitter-Roman zu veröffentlichen.

    Seidel: Sie haben es gerade schon gesagt: Das Buch von Jennifer Egan bietet sich gut an. Welche Genres, welcher Stil könnte sich denn sonst noch anbieten fürs Twittern? Es ist ja zum Beispiel schwer vorstellbar, dass der nächste Roman von, sagen wir, Martin Walser bei Twitter erscheint.

    Hammelehle: Gerade Martin Walser ist ja sehr aufgeschlossen und dem ist da alles zuzutrauen, wobei die Sätze von Martin Walser momentan noch deutlich zu lang sind für Twitter. Das könnte sich aber ändern. Black Box wird ja momentan immer als Agenten-Thriller vorgestellt. Das tut dem Genre Kriminalroman sehr gut, wenngleich Black Box sicher kein klassischer Krimi ist, aber es würde auch jedem anderen Genre theoretisch gut tun, davon abgesehen, dass es natürlich auch ganz unterschiedliche Erzählerpersönlichkeiten gibt. Es gibt Autoren, die sehr lange Sätze machen. Sie können sich Thomas Bernhard sicher auf Twitter nicht so recht vorstellen.

    Seidel: Stichwort kürzere Sätze. Wenn Romane eigens konzipiert werden, um auf Twitter veröffentlicht zu werden, dann hat das zwangsläufig Auswirkungen auf den Schreibstil und den Schreibprozess. Ist das nicht irgendwie auch eine künstliche Einschränkung, der sich der Autor da aussetzt?

    Hammelehle: Na ja, künstlich ist sie mit Sicherheit, denn es ist ja nun mal eine künstliche Festlegung, dass ein Tweet nicht länger als 140 Zeichen sein darf. Aber wenn Sie sich jetzt überlegen, was dabei herauskommt, dann ist es natürlich sehr reizvoll, weil diese Tweets von Jennifer Egan, die haben ja was sehr Künstlerisches. Es gibt ja die Konzeptkünstlerin Jenny Holzer, die diese knappen Statements zu einer Kunstform erhoben hat. Und wenn Sie sich jetzt dagegen die Sätze von Jennifer Egan anschauen oder lesen, dann sind die sehr ähnlich zum Teil wie Jenny Holzers Sätze. Da gibt es zum Beispiel "Wut ist stärker als Misstrauen", oder "Es ist für einen Mann unmöglich, in einer Badehose besser auszusehen als in einer Badeshorts". Das hat ja so einen subtilen, leicht absurden Humor, gleichzeitig aber auch so was ganz Ewiges. Man könnte sich das jederzeit auch in so einem typischen Jenny Holzer Leuchtband oder theoretisch genauso in der banalen Form auf einer Kaffeetasse vorstellen.

    Seidel: Die Twitter-Aktion von "Spiegel Online" läuft seit Montag. Ich habe mir in den letzten Tagen das mal angeguckt und auch mal live mitgelesen und muss sagen, dass es mir persönlich zu langsam ging, da immer fast eine Minute zu warten, bis der nächste Tweet erscheint. Wie sind Ihre Rückmeldungen bisher?

    Hammelehle: Es hat natürlich etwas fast Kontemplatives, dass so ein Satz ein Satz pro Minute kommt. Das hat ja schon fast was von so einem japanischen Haiku. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Ich habe das auch selbst verglichen, ich habe das Buch gelesen und dann noch mal mir das per Tweet durchgelesen. Ich habe festgestellt, dass das meine Konzentration schärft, wenn es so langsam ist, und man hat jetzt auch bei den Lesern sehr unterschiedliche Reaktionen. Es gibt Leute, die fragen, ob da der Account gehackt wurde, ob da irgendwas nicht stimmt, weil sie irgendwie den Einstieg nicht mitbekommen haben, und dann steht da plötzlich so ein Satz, der natürlich mit dem gemeinen Kultur-Tweet nicht so recht zu vergleichen ist. Es gibt aber auch Leute, die sich sehr begeistert äußern, und eine Leserin äußerte sogar etwas von einer schlaflosen Nacht, weil sie das jetzt nachgearbeitet hat, Tweet für Tweet irgendwie in einem Rutsch. Das gibt es offenbar auch.

    Seidel: Sebastian Hammelehle, Literatur-Redakteur bei "Spiegel Online", über "Twitteratur", also Literatur, die über den Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlicht wird.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.