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Eine merk-würdige Medizingeschichte

Vor einhundert Jahren, am 3. November 1906, stellte Alois Alzheimer in Fachkreisen erstmals seine "Krankheit des Vergessens" vor. Diese besondere und heute häufigste Form der Demenz wurde zwar bald nach dem Psychiater benannt, doch sie war über Jahrzehnte selbst in Vergessenheit geraten.

Von Andrea und Justin Westhoff | 02.11.2006
    Es ist keine wissenschaftlich sonderlich bedeutsame Veranstaltung, diese "37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte" in Tübingen, vor der ein Psychiater namens Alois Alzheimer das Referat hält: "Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde". Es geht um eine gewisse Auguste D., Patientin in der "Städtischen Anstalt für Irre und Epileptische" in Frankfurt am Main, die einst vom berühmten Psychiater Heinrich Hoffmann, dem "Struwwelpeter-Autor", gegründet worden war.

    "Sie fand sich in ihrer Wohnung nicht zurecht, schleppte Gegenstände hin und her, versteckte sie, zuweilen glaubte sie, man wolle sie umbringen. In der Anstalt trug ihr ganzes Gebaren den Stempel völliger Ratlosigkeit. Oft schreit sie viele Stunden lang mit grässlicher Stimme. Die Kranke war schließlich völlig stumpf, mit angezogenen Beinen zu Bett gelegen, hatte unter sich gelassen. Nach viereinhalb-jähriger Krankheitsdauer tritt der Tod ein."

    Alzheimer, Jahrgang 1864, stellt erstmals einen Fall vor, bei dem äußere Anzeichen der bereits bekannten "Dementia" mit Veränderungen im Gehirn der Verstorbenen zusammenkommen.
    Und er schließt daraus:

    "Es müssen ganz zweifellos mehr psychische Krankheiten existieren, als sie unsere Lehrbücher aufführen."

    Doch laut Protokoll haben die versammelten ärztlichen Kollegen "keinen Diskussionsbedarf".

    Die Krankheit wird zu einem denkwürdigen Stück Medizingeschichte: Das von Alzheimer "Krankheit des Vergessens" genannte Leiden war selbst lange Zeit vergessen. Erst in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde wieder von der Alzheimer'schen Krankheit gesprochen, und auf der Suche nach ihrem Namensgeber betätigten sich Wissenschaftler als Künstler, Künstler als Betroffene und auch Journalisten als Forscher. Aber der Reihe nach:


    Der Fall "Auguste D.":

    Am 25. November 1901 bringt ein völlig verzweifelter Ehemann seine Frau in die "Städtische Anstalt für Irre und Epileptische" in Frankfurt am Main. Sie habe sich in diesem Jahr stark verändert und er könne nicht mehr mit ihr umgehen.

    Der Befund scheint für den zuständigen Arzt Alois Alzheimer eigentlich klar: "Demenz" - komplette geistige Verwirrung; allerdings kennt er das bisher nur bei Patienten, die mindestens 70 Jahre alt waren. Auguste Deter aber ist erst 51. Das weckt sein besonderes Interesse. Akribisch protokolliert er die Befragungen der Patientin:

    "Wie heißen Sie?" - "Auguste." - "Familienname?" - "Auguste." - "Wie heißt ihr Mann?" - "Ich glaube... Auguste."

    Dialoge wie dieser - von Künstlern nachgesprochen - sind heute bekannt. Von dem Fall der Auguste D. wusste man in Fachkreisen ja seit dem Tübinger Vortrag vom 3. November 1906. Doch die Details waren verloren gegangen. Und so traf es sich gut, dass der Psychiater Konrad Maurer 1993 an die Psychiatrische Universitätsklinik nach Frankfurt am Main berufen wurde. Ihn faszinierte, neben dem wissenschaftlichen Hintergrund, auch die Entdeckungsgeschichte der Alzheimer-Krankheit.

    "Ich wusste ja, dass Alois Alzheimer dort gearbeitet hatte, immerhin 15 Jahre - und irgendwo musste ja die Akte sein. Aber im Stadtarchiv da konnte man nur suchen unter A.D. oder D.A., also Auguste Deter oder Deter, Auguste, der Nachname war ja nicht bekannt. Und da lag zunächst mal nichts, und dann war das 1995, und zwar am 19. Dezember, hat ja der Alzheimer seinen Todestag, und dann haben wir gesagt, so, hier hilft nur noch unsystematisches Suchen, das heißt, jeder geht einfach in den Keller und greift irgendwo hin. Und siehe da, dann hatten wir plötzlich dieses himmelblaue Stück Akte in der Hand."

    Das Besondere an Alzheimers 30 Seiten Notizen in gestochener Handschrift ist ihre Dialogform.

    "Alzheimer hat die Frage formuliert, und die Patientin hat dann geantwortet, und er hat es nieder geschrieben. Er war nämlich der Ansicht, wenn ich den Dialog wieder gebe, kann später ein Arzt am besten das Krankheitsbild rekonstruieren. Es ist ein bisschen umständlich, natürlich, wenn man den Dialog verfolgt, man könnte es ja auch zusammenfassen, aber in diesem Fall war es eine Sensation. Und dann vor allem die Dokumentation. Damals wurden von jedem Patienten Fotos angefertigt. Aber diese Fotos kann man normalerweise niemandem zumuten. Damals hat man auch die psychische Erkrankung den Patienten angesehen. Das Foto von Auguste Deter ist schon etwas Außergewöhnliches. Man hat fast das Gefühl, er hat's ein paar Mal probiert, bis er dann letztlich diese schöne Porträtaufnahme geschafft hat."

    Offensichtlich wollte Alzheimer seine Patienten nicht denunzieren.
    Konrad Maurer hat Ende der 90er, als Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik, zusammen mit seiner Frau Ulrike "die Akte der Auguste D." künstlerisch verarbeitet:

    "Wenn man den Dialog liest, dann kommt man schon gelegentlich auf die Idee, Mensch, das könnte man eigentlich auch auf der Bühne erleben. Wir hatten da ein Interview im WDR, und damals haben Schauspieler den Dialog gesprochen, so ein paar Seiten. Das hat Ulrike Hoffmann-Paul gehört von dem Theaterverlag in Berlin, und noch andere Leute, und alle haben sie gesagt, Mensch, das muss auf die Bühne. Das ist ja bühnenreif, der Dialog. "

    Tatsächlich entstanden so ein Hörspiel im WDR sowie ein Theaterstück. Viele der kuriosen Gespräche dokumentieren Auguste Deters schwere geistige Verwirrung. Doch mitunter zeigte sich auch, dass sich Auguste Deter zwischendurch ihres Leidens bewusst war - und verzweifelt.

    Es ist eine furchtbare Krankheit, zumal man in damaliger Zeit eben mit einem solchen Zustand nur in einer Irrenanstalt landen konnte.

    Und dort herrschten schlimme Zustände: Patienten vegetierten vor sich hin, bewacht von bärenstarken Pflegern, die in der Lage waren, alle möglichen Zwangsmaßnahmen durchzuführen. Es ging in der früheren Psychiatrie nicht um Behandlung, sondern darum, die "Normalen" vor Wahnsinnigen zu schützen.

    Aber der Leiter der Städtischen Anstalt in Frankfurt, Emil Sioli, vertrat einen für damalige Verhältnisse modernen Umgang mit Geistes-kranken, möglichst ohne Zwang. Und in seinem jungen Assistenzarzt Alois Alzheimer fand er einen überzeugten Mitstreiter. Konrad Maurer:

    "Man hat dann diese großen Säle gehabt, aber man hat die Patienten die Patienten dann auch gesehen, und die konnten frei herum laufen, und was ganz wichtig war, die so genannten psychosozialen Aktivitäten. Da gab's zum Beispiel auch Konzerte, dann gab's Theatergruppen, da gab's Spaziergänge und es gab natürlich auch die Gartenarbeit, das war sicherlich ein großes, schönes Gelände, und da konnten die Patienten sich auch betätigen; sie waren ja zum Teil ihr Leben lang in den Anstalten für Irre, hieß das damals, und Epileptische; und die Auguste war ja auch sehr lange, von 1901 bis 1906 dort."

    Zwangsjacken, Zwangsfütterungen und ähnliche Methoden lehnte Alzheimer ab. Er wird als besonders mitfühlend, fast liebevoll im Umgang mit seinen Patienten geschildert, dabei als beeindruckende Erscheinung: ziemlich groß und massig, dicker Bauch, Schnauzbart, Brille - und offenbar sehr lebensfroh:

    "Er war sicherlich ein Genussmensch, denn er hat diese berühmten Zigarren geraucht. So dass sich nach jeder Visite so richtige Häufchen von Zigarren gebildet hatten. Dann hat er auch gerne Rotwein getrunken, und man muss immer aufpassen, dass man die Leute nicht idealisiert. Er war sicherlich auch ein Opportunist, wenn man so will, gut."

    So war Alzheimer auch Mitglied der Rassenhygienischen Gesellschaft, was seine Karriere sicherlich förderte. Vermutlich war der Grund, dass sein späterer Chef, der Psychiater Emil Kraepelin, dies gerne sah. Während die pseudo-wissenschaftliche Organisation zweifelsohne Vorbereiter der Nazi-Ideologie war, wird Alzheimer - mit einer Jüdin verheirat - als unpolitisch geschildert.

    Die Geschichte der Alzheimer'schen Erkrankung ist von Anfang an auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte, denn Alois Alzheimer war nicht nur Arzt, sondern auch Forscher, genannt "der Irrenarzt mit dem Mikroskop". Tagsüber kümmerte er sich um die Kranken, nachts forschte er unbezahlt im Keller der Anstalt.

    Alzheimer sowie sein Freund und Kollege Franz Nissl glaubten an organische Ursachen psychischer Erkrankungen und untersuchten im Labor die Hirnrinde Verstorbener. Nissl hat großen Anteil an der "Alzheimer-Entdeckung", denn er fand eine Möglichkeit, die normalerweise graue beziehungsweise weiße Hirnmasse mit einem neuartigen Färbemittel so zu bearbeiten, dass die Nervenzellen unterm Mikroskop gut sichtbar sind.

    Die Verknüpfung von Krankenbeobachtung und patho-physiologischer Forschung ist eine besondere Leistung Alzheimers, auch auf seinem weiteren Karriereweg. Er ging an die Psychiatrische Klinik in München, gründete dort das hirnanatomische Laboratorium, auch an "seiner" neuen Krankheit blieb er dran:

    Als Auguste Deter am 9. April 1906 starb, ließ Alzheimer sich das Gehirn der Patientin zuschicken, sezierte es und entdeckte auffällige Veränderungen. Jene Teile der Hirnrinde, die Gedächtnis, Orientierung und das Gefühlsleben ermöglichen, waren stark ausgedünnt, er fand Eiweißablagerungen, "Plaques", sowie verfilzte Faserbündel und unzählige tote Nervenzellen.

    Aber eine medizinische Sensation wurde diese Entdeckung - wie gesagt - zunächst nicht. Das ist umso merkwürdiger, als die neue Krankheit sogar Alzheimers Namen bekam. Dazu Professor Maurer:

    "Damals wurden relativ viele Krankheitsbilder nach dem Erstbeschreiber bezeichnet. Alzheimer hat ja dann den Vortrag gehalten 1906 in Tübingen, und dann wurden noch ein paar Fälle angehäuft, und dann hat der Kraepelin 1910 sein Lehrbuch geschrieben, und da gab's halt ein Kapitel über die Demenz, und da hat eben der Kraepelin sich entschlossen, dass sein Oberarzt, dass er ihn ehrt und dass das Krankheitsbild nach ihm bezeichnet, Alzheimer'sche Erkrankung. "

    Als wichtig erweist sich die Namensgebung dann für die spätere medizingeschichtliche Spurensuche in Sachen Alzheimer-Krankheit, die der Journalist Michael Jürgs geleistet hat und die abermals in einen Keller führt.

    Denn 1992 fragten zuerst ein amerikanischer Neurologe und dann ein japanischer Hirnforscher in München an, ob es nicht noch Präparate von Alzheimers Arbeiten gäbe. Aus Zeitmangel sucht der Neuro-biologe Dr. Manuel Gräber zunächst widerwillig und findet schließlich im Keller von Alzheimers Neuropathologischem Institut tausende von Präparaten, fein säuberlich beschriftet und archiviert.
    Die Glasträger mit den Hirnpartikeln von Auguste Deter waren nicht etwa die Nummer 1, sondern 181. Und sie wurden erst 1997 gesichtet: Durch Maurers Fund der Akte im Keller war Gräber inzwischen auf diesen Fall aufmerksam geworden.

    Die Alzheimer-Geschichte ist eine Geschichte nicht nur des Vergessens, sondern auch des Verleugnens. Obwohl allein in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon Hunderttausende von ihr betroffen waren, wurde die Krankheit in medizinischen Lehrbüchern mit ein paar Zeilen abgetan. Menschen, die an dieser besonders schlimmen - und inzwischen der häufigsten - Form einer Demenz litten, versuchten ihr Leiden zu verstecken, und sie wurden von ihren Angehörigen versteckt. Ein öffentliches Thema wird Alzheimer erst durch das Leiden von Prominenten.

    Die erste ist 1981 Rita Hayworth. Fotos der völlig zerstörten Hollywoodschönheit schockieren die Öffentlichkeit, rütteln aber auch auf und machen bewusst, dass "Alzheimer" eine furchtbare Krankheit ist. Der Fall lässt sich in gewisser Weise mit dem von Auguste D. vergleichen, denn die Schauspielerin war bei den ersten Anzeichen auch erst 53 Jahre alt.

    Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan wandte sich 1994 selbst mit einem Brief an die amerikanische Öffentlichkeit. Er hoffe, dass durch die Bekanntgabe seiner Alzheimer-Erkrankung in der Bevölkerung eine Bewusstseinsbildung stattfinden werde und wolle vor allem auf das schwere Los der pflegenden Angehörigen aufmerksam machen, sagte er und schloss mit den Worten: "Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt".

    Wo Politiker, Künstler und andere Prominente an einer - irgendwie auch "faszinierenden" - Krankheit leiden, die Viele trifft und für die es vorerst keine Heilung gibt, ist eine Auseinandersetzung damit in Romanen, Filmen oder Theaterstücken nicht weit.

    "Das kann man sehr bei Tuberkulose nachvollziehen, da gibt's ja tolle Beispiele, Zauberberg und so weiter. Und ich habe den Eindruck, dass sich jetzt, wo wir so viele Ältere haben und so viele Demenzkranke weltweit, im Schatten dieses Krankheitsbildes eine Kultur so langsam bildet; das Krankheitsbild als solches ist natürlich von Brisanz, weil die Sprache zerfällt. "

    Mit ihrem Zerfall der Sprache, dem Persönlichkeitsverlust, dem langsamen Abschied vom Ich, ist die Alzheimer'sche Krankheit in jeder Hinsicht ein Stoff, aus dem Dramen geschrieben werden. Was der Verlust der Erinnerung bedeutet, verdeutlicht Marcel Proust in seinem Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit":

    "Erinnerung ist das Seil, heruntergelassen vom Himmel, das mich herauszieht aus dem Abgrund des Nicht-Seins."