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Eine Notregierung in Nöten

Auch 450 Tagen nach der Wahl steht in Belgien immer noch keine stabile Regierung. Nach wie vor scheitern die Politiker an der Staatsreform: Die Flamen streben nach mehr Autonomie für ihre wohlhabenderen Regionen und die frankophonen Wallonen fürchten, dass die wirtschaftliche Kluft zwischen den Regionen Belgiens größer wird. Die meisten Belgier sind der Diskussion inzwischen überdrüssig, denn der Dauerstreit lähmt den Alltag. Doris Simon berichtet.

    Die Grundschule Les Tournesols im Stadtteil St. Josse. Jedes zweite Kind in dieser ersten Klasse stammt aus einer Romafamilie. Dass die zögernden Eltern, selber oft genug Analphabeten, ihre Kinder in die Schule schicken, liegt an Florin. Der junge Mann, selber Roma, aber voll integriert in Belgien, erklärt den Eltern, welche Vorteile der Unterricht ihren Kindern bringt. Nirgendwo gehen mehr Romakinder zur Schule als in St. Josse.

    Doch die Erfolgsgeschichte von St. Josse könnte bald ein Ende haben: Wenn Belgiens Politiker sich weiter nur mit sich selber beschäftigen. Denn das Geld für Florins Gehalt stammt aus einem Fonds, der gespeist wird aus den Gewinnen der belgischen Staatslotterie. 15 Monate nach den Wahlen warten Hilfsorganisationen, Stiftungen und Fonds immer noch auf die Entscheidung, ob und mit wie viel Lotteriegeld sie rechnen können. Projekte in ganz Belgien und in der Dritten Welt hängen so seit über einem Jahr in der Luft.

    "Kollegen, wir stellen fest, dass unser Land sich heute in einer tiefen Krise befindet."

    Wenn Politiker wie Marlene Vanderpoorten, die Sprecherin des flämischen Parlamentes, solche Sätze sagen, dann wenden sich die meisten Belgier ab. Jeder zweite Belgier will nichts mehr wissen oder hören über den Dauerstreit der Politiker, das ergab zuletzt eine Umfrage. Dass Chaos herrscht in Belgiens Politik, das wissen und das merken die Bürger selber. Ihre Kaufkraft sinkt dramatisch, dafür zahlen die Belgier mehr für ihre Energie als die meisten anderen Europäer, Unternehmen werden zugemacht und die Krise an den Finanzmärkten berührt auch Belgien - doch die Regierung regiert nicht.

    Sie ist gelähmt durch den alten Streit zwischen Flamen und Frankophonen. Die Flamen verlangen mehr Autonomie - etwa in Steuerfragen für ihre Landeshälfte im Norden, die Frankophonen fürchten, dass dies das Ende des Finanzausgleichs für den ärmeren französischsprachigen Süden bedeuten könnte.

    Seit dem Wochenende hat Belgiens glückloser und gesundheitlich angeschlagener Premier Yves Leterme ein neues Problem: Die kleine Separatistenpartei NVA, Bündnispartner von Letermes flämischen Christendemokraten, verabschiedete sich im Streit um den richtigen Weg zur Staatsreform von der großen Schwesterpartei, mit ordentlich Theaterdonner. Parteichef Bart de Wever:

    "In diesem Land wird man als Flame nur ein Staatsmann, wenn man bereit ist, seine Überzeugungen auf Eis zu legen, solange die Karriere dies erfordert."

    15 Monate lang hat die NVA flämische und frankophone Parteien gebetsmühlenartig mit Maximalforderungen nach der Aushöhlung des belgischen Staates genervt. Mehr als alle anderen geriet der große Bündnispartner, kamen die ehedem staatstragenden Christdemokraten politisch schwer unter Druck. Schließlich hatte die Partei des Premiers im belgischen Wahlkampf selber mehr Autonomie für Flandern gefordert. Aber im Wettbewerb, wer kompromissloser für Flanderns Autonomie kämpft, konnten die Christdemokraten nur um den Preis der Regierungsfähigkeit mithalten. Ultimaten wurden gestellt, Kompromissbemühungen von beiden Seiten der Sprachgrenze schon im Vorfeld kaputt gemacht.

    Misstrauen und Abstand dominieren das politische Klima zwischen dem flämischen Norden und dem frankophonen Süden. Auch bei den Frankophonen reden die Radikalen inzwischen wieder laut mit. Premier Letermes Spagat zwischen Regierung und Treue zum kleinen Bündnispartner ist nach 15 Monaten klar gescheitert. Doch nach dem Abgang der NVA klingt auch viel Erleichterung durch, etwa beim Koalitionspartner VLD, den flämischen Liberalen. Bart Somers ist deren Vorsitzender:

    "Wir Liberalen haben diesen Zirkus mit der NVA gründlich satt. Diese Partei legt uns doch seit Monaten an Fesseln. Die macht ganz deutlich, dass sie gegen echte Verhandlungen mit den frankophonen Belgiern ist. Die NVA will das Ende Belgiens, die Partei taugt nicht für einen konstruktiven Dialog zwischen den Sprachgemeinschaften. "

    Diesen konstruktiven Dialog sollen nun sechs flämische und sechs frankophone Politiker von Oktober an führen, wie er genau aussehen soll, das müssen sie noch austüfteln. Eine vom König eingesetzte Sondierungsmission hat jedenfalls ergeben, am Anfang solle ein weißes Blatt stehen -neues Futter für Belgiens gut beschäftigte Karikaturisten. Die Bürger dürfte diese x-te Runde zur Staatsreform nicht beschäftigen - außer, sie macht wirklich Lösungsvorschläge, wie der jahrzehntealte Streit zwischen Belgiens Sprachgemeinschaften im Einvernehmen entschärft werden kann.