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Eine Reise ins Buch

So ganz neu ist die entscheidende Idee in Cornelia Funkes "Tintenwelt"-Büchern nicht, die in den USA längst Kultstatus besitzen - hierzulande aber immer noch etwas verächtlich als reine Jugendlektüre abgetan werden. Es ist eine Idee, die Bücherfreunde seit jeher fasziniert, weil sie die passiv erscheinende Tätigkeit des Lesens mit ungeahnter Wirkmächtigkeit ausstattet.

Von Gisa Funck | 22.11.2005
    Schon in Funkes Vorgängerroman "Tintenherz" spielte die zauberhafte Fähigkeit, Figuren aus Büchern durch Vorlesen lebendig machen zu können, eine zentrale Rolle. Diesmal nun, im Nachfolger "Tintenblut" läuft diese ungewöhnliche Transformation genau umgekehrt ab. Wieder geht es um den Buchbinder Mo und seine Tochter Meggie: beide außergewöhnlich gute Vorleser. Doch statt wie in "Tintenherz" Figuren aus Büchern in unsere Welt herüber zu lesen, katapultieren sich Mo und Meggie nun selbst in ihr Lieblingsbuch hinein: in die sagenhafte "Tintenwelt".

    Der Leser als Handelnder seiner eigenen Lektüre: mit diesem Einfall landete schon Michael Ende 1979 einen weltweiten Bestseller. Doch anders als sein Held "Bastian Bux" aus der unendlichen Geschichte wechselt die 13-jährige Meggie in Tintenblut ganz vorsätzlich ins Reich ihrer Lieblingsfantasie. Meggie möchte endlich selbst erleben, worüber sie schon so viel gehört hat. In ihrem Abschiedsbrief an die Eltern heißt es:

    " Liebster Mo! Liebe Resa! Bitte macht euch keine Sorgen. Ich will gar nicht lange in der Tintenwelt bleiben. Ich will nur den Weglosen Wald sehen und den Speckfürsten, den Schönen Cosimo und vielleicht auch noch den Schwarzen Prinzen - und den Dichter Fenoglio. Fenoglio wird mich wieder zurück schreiben in eure Welt. Ihr wisst, dass er das kann! Bis bald, ich küsse euch tausendmal, Meggie. "

    Es versteht sich von selbst, dass solch ein Abschiedsbrief natürlich keineswegs dazu geeignet ist, die Eltern von Meggie zu beruhigen. Stattdessen folgen Vater Mo und Mutter "Resa" der Tochter lieber ins Phantasiereich der mittelalterlichen "Tintenwelt" nach, um dort nach Meggie zu suchen.

    "Tintenblut" greift damit ein typisches Motiv traditioneller Sagen auf: das Sehnsuchtsmotiv einer ebenso abenteuerlichen wie symbolisch auslegbaren Suche. Denn nicht nur Meggies Eltern haben in Funkes Fantasy-Roman einen geliebten Menschen verloren, den sie wieder finden möchten. Auch alle anderen Hauptfiguren in "Tintenblut" befinden sich auf der Suche nach jemandem.

    Meggie möchte ihren verschollenen Freund "Staubfinger" wieder finden, den berühmtesten Feuerspucker der Tintenwelt. Staubfinger möchte seine wunderschöne Frau Roxane und seine zwei Töchter wieder sehen, von denen er zehn Jahre lang getrennt war. Und ein paar düstere Bösewichte wiederum sind Staubfinger auf den Fersen, weil sie mit ihm noch eine Rechnung aus der vorherigen Geschichte "Tintenherz" offen haben.

    Auf diese Weise entspinnt sich ein Reigen der gegenseitigen Verfolgung, den Cornelia Funke in Kriminal-Manier jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt: mal aus der Sicht von Staubfinger, mal aus Meggies Perspektive - dann wieder aus dem Blickwinkel ihrer Eltern. Wie in einem guten Krimi hat der Leser dadurch immer einen kleinen Wissensvorsprung vor den auftretenden Figuren voraus - und kann sich wie ein Detektiv eines weit verzweigten Falles fühlen.

    Allerdings sind die Fronten zwischen Gut und Böse in Funkes Tintenwelt schnell ausgemacht. Wie für Sagen und Märchen üblich, bietet auch ihr Fantasy-Roman einen tröstlich-übersichtlichen Kosmos in Schwarz und Weiß. Es gibt zwei miteinander verfeindete Königreiche: ein friedliches und ein militantes. Und es gibt die genretypischen Prinzen, Prinzessinnen, Ritter, Spielleute, Bösewichte und Elfen, die ebenfalls durch Superlative klar voneinander unterschieden sind.

    In "Tintenblut" sind die Figuren entweder wunderschön oder gleich furchtbar hässlich. Entweder hochbegabt oder vollkommen ungeschickt. Entweder charakterlich edel oder unrettbar böse. Meistens sagt sogar schon der Name alles über den Charakter aus. Die Bösen haben düstere Namen wie: "Schlitzer", "Brandfuchs", "Russvogel" oder "Natternkopf". Die Guten heißen eher wohlklingend "Cosimo", "Minerva" oder "Wolkentänzer".

    Und eigentlich wäre "Tintenblut" ein nicht weiter bemerkenswerter, konventionell gestrickter Fantasy-Roman, hätte Cornelia Funke darin nicht doch noch einen originellen Kniff eingebaut. Ihre Hauptheldin Meggie begegnet in der Tintenwelt nämlich niemand Geringerem als dem Schöpfer der gesamten Geschichte: dem Dichter "Fenoglio". Fenoglio hat das Buch "Tintenwelt" einst geschrieben. Nun steckt er selbst in seiner eigenen Phantasiewelt als Figur fest - und ärgert sich regelmäßig und postmodern-amüsant darüber, dass Vieles sich darin ganz anders entwickelt, als er es ursprünglich vorgesehen hatte:

    " Fenoglio gefiel seine Welt, sie gefiel ihm eigentlich sehr - obwohl er hatte feststellen müssen, dass keineswegs alles so lief, wie er es geplant hatte. (…) Vor allem der eine der beiden Fürsten in der Tintenwelt machte ihm Sorgen - der Natternkopf. Südlich des Waldes saß er, hoch über dem Meer, auf dem Silberthron der Nachtburg. Keine schlechte Figur, nein, wirklich nicht. Ein Bluthund, ein Menschenschinder - aber schließlich sind die Bösewichter das Salz in einer Geschichtensuppe. Wenn man sie im Zaum hält. Zu diesem Zweck hatte Fenoglio dem Natternkopf den Speckfürsten entgegengesetzt, einen Fürsten, der lieber über die derben Späße der Spielleute lachte statt Kriege zu führen (…) Wer hätte ahnen können, dass der einfach sterben würde wie ein Kuchen, den man zu früh aus dem Ofen geholt hatte. (…) Selber Schuld, dachte Fenoglio, als er sich einen Weg durch das Gedränge bahnte. Ich hätte eine Fortsetzung schreiben sollen. Aber ich könnte es auch jetzt noch schreiben. Hier und jetzt. Und alles ändern, wenn ich nur einen Vorleser hätte! "

    Dadurch, dass der Autor Fenoglio selbst als Figur in seiner eigenen Geschichte "Tintenwelt" auftritt, erhält die Klischeehaftigkeit von Funkes Personal eine wohltuende, ironische Brechung. Schließlich muss Fenoglio sich Meggie gegenüber immer wieder dafür verteidigen, warum er eine Figur in seinem Buch einst so und nicht anders entworfen hat. Darüber hinaus leiht die 13-Jährige dem Dichter schon bald ihre Vorlese-Stimme, damit Fenoglio den unheilvollen Verlauf seiner Geschichte im Nachhinein korrigieren kann.

    Diese nachträglichen Korrekturversuche gewinnen im Buch umso mehr an Brisanz, als Funkes Bösewichte tatsächlich richtige Bösewichte von Format sind. Wie schon in "Tintenherz" kommt es auch in "Tintenblut" zu vielen Grausamkeiten, ohne dass die Autorin die Gewalt doch allzu effekthascherisch beschrieben hätte. Folter, Gemetzel, Trauer und Tod sind in Meggies Abenteuern allgegenwärtig. Und anders als in traditionellen Märchen oder den meisten Fantasy-Romanen kann man sich als Leser in "Tintenblut" auch keineswegs sicher sein, dass die positiven Helden am Schluss siegreich überleben werden.

    Indem Cornelia Funke in ihrem neuen Roman erneut das Märchen-Diktum eines von vorneherein absehbaren Happy Ends unterläuft, erzeugt sie eine Spannung, die einen unweigerlich in Bann schlägt. Und bei ihren Prachtexemplaren von Fieslingen könnte man dann manchmal glatt vergessen, dass "Tintenblut" insgesamt natürlich doch nur wieder die uralte Mär von einer heilen Welt erzählt. Einer Welt, die zwar tödlich gefährlich ist, aber eben auch beruhigend übersichtlich - mit Protagonisten, denen man schon an der Nasenspitze ansieht, auf welcher Seite sie stehen.

    Cornelia Funke: "Tintenblut"
    Cecilie Dressler Verlag
    Hamburg 2005
    720 Seiten; 22,90 Euro