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Eine satirische Religionskritik mit Seitenhieben auf Eltern und Schulleiter

Der Protagonist in Marius von Mayenburgs neuem Stück "Märtyrer" ist ein Jugendlicher, der sich den alttestamentarischen Blut- und Schwert-Zitaten verschrieben hat. Im Gegenüber seine Lehrerin, die nur noch die Bibel liest, um ihren Widersacher mit dessen Waffen zu schlagen.

Von Eberhard Spreng | 01.03.2012
    Mutter und Sohn daheim: Seit Tagen hat er den Schwimmunterricht geschwänzt. Sie vermutet ein Drogenproblem, er hüllt sich in Schweigen und klimpert auf seiner elektrischen Gitarre. Bis es aus ihm herausbricht. Die von Bikinis nur spärlich gekleideten Körper der Mädchen seien ihm unerträglich. Später im Elterngespräch an der Schule protestiert er gegen "die schamlose Vermischung der Geschlechter unter der Wasseroberfläche". Benjamin Südel beginnt außerdem mit Bibelzitaten um sich zu werfen und verlangt eine sittliche Verhüllung der weiblichen Reize. Und weil sein Schulleiter einer der zahllosen opportunistischen Moderatoren ist, die pädagogische und moralische Prinzipien gerne lauen Kompromissen opfern, müssen die Jugendlichen in Benjamins Schulklasse tatsächlich von nun an in anderer Badebekleidung antreten. Es steht also 1:0 für den verbohren christlichen Fundamentalisten, der zuvor nichts weiter war, als ein etwas schwerer erziehbarer Schüler. Nur die Verstrauenslehrerin nimmt den Kampf mit dem jungen Fanatiker auf.

    Halten wir das aus, dass wir nicht alles wissen. Oder müssen wir dieses Vakuum sofort mit einem Märchen füllen wie kleinen Kinder, die Angst vor der Dunkelheit haben? Und muss das unbedingt etwas sein, das sich jemand vor 2000 Jahren ausgedacht hat, nur weil es so schöne, wohlvertraute Bilder sind?

    Erika Roth unterrichtet Biologie, Chemie und Erdkunde in Benjamins Klasse und damit genau jene Wissenschaften, gegen deren Erkenntnisse religiöse Fundamentalisten derzeit Sturm laufen. Die amerikanischen Kreationisten etwa. Von Szene zu Szene verhärtet sich der Kampf: auf der einen Seite ein isolierter Jugendlicher, der mit alttestamentarischen Blut- und Schwert- Zitaten um sich wirft, sich immer mehr für eine Reinkarnation des Messias hält und einen leicht körperbehinderten Klassenkameraden per Handauflegen von seinem Leiden befreien will. Auf der anderen Seite eine Lehrerin, die nun ihrerseits nur noch die Bibel liest, um ihren Widersacher mit dessen Waffen zu schlagen, und darüber ihre Beziehung und die ohnehin wackelige Unterstützung durch ihren Chef verliert. Dazwischen formieren sich die Nebenfiguren im Graubereich der faulen Kompromisse, des bequemen Opportunismus und der konfliktscheuen Leidenschaftslosigkeit.

    Regisseur Mayenburg hat seinem Stück kleine musikalische Einlagen verpasst, aus denen der modische Wohlfühl-Pietismus spricht, der heute mancherorts wieder die Kirchen füllt und seinerseits sehr gut zu der Ist-schon-Alles-OK-Mehrheitsgesellschaft passt.

    Vom Sport, über den Aufklärungsunterricht, den Religionsunterricht bis zur Geschichte der Industrialisierung, kein Wissensgebiet ist an Benjamins Schule mehr vor dem fundamentalistischen Grundsatzstreit sicher. Im Verlauf des zunehmend persönlich geführten Kampfes, entdeckt Benjamin im Namen seiner Lehrerin einen jüdischen Ursprung und in seiner Bibel antisemitische Passagen, die die Juden als Grund allen Übels diffamieren.

    Mayenburg inszeniert das auf offener Bühne, auf der alle Akteure präsent bleiben, wodurch die Geschichte sich von Szene zu Szene übergangslos entwickelt. Und er zielt auf die Komik, die sich im Konflikt zwischen stereotypen Figuren entwickeln lässt. Da wird mit einer etwas schematischen Parabel die Islam-Debatte ins christliche Gewand gekleidet: Eine satirische Religionskritik mit Seitenhieben auf unfähige Eltern und faule Schulleiter. Ein sehr zeitgenössisches und etwas billig ausgefallenes Sittenbild also. Was man aber in einem Theater gerne erführe, sind die persönlichen Gründe für Benjamins Irrfahrt durch die ideologische Folterkammer: Der fehlende Vater? Die alleinerziehende, in Nachtschichten verschlissene Mutter? Adoleszenzkrise? Gemeingesellschaftliche Sinnkrise? Mayenburg entwickelt keinen der Gründe für Benjamins Verhalten. Die Hauptfigur bleibt im Spiel des jungen Bernardo Arias Porras flach und ohne Tiefe. "Märtyrer" ist jetzt schon, neben Yael Ronens "The Day before the last Day", die zweite lustige und voll-konsensfähige Religionsplatitude im Spielplan der Schaubühne.