Archiv


Eine schier grenzenlose Präsenz

Leuchtkästen sind das Markenzeichen des Kanadiers Jeff Wall: Auf ihnen präsentiert er seine großformatigen Diapositive, die häufig Bezüge auf ältere Bilder der Kunstgeschichte enthalten. Inzwischen umfasst das Schaffen des 60-jährigen Künstlers rund 130 Werken. Eine große Retrospektive ist derzeit in San Francisco zu sehen ist, aber auch die Deutsche Guggenheim in Berlin wartet zum 10-jährigen Bestehen mit einer kleinen Ausstellung auf.

Von Anne Quirin |
    Gerade einmal neun Bilder sind in der Ausstellung zu sehen. Und damit ist die Ausstellungsfläche bereits bis an ihre Grenzen ausgereizt. Das liegt zum Einen daran, dass die Galerie Deutsche Guggenheim mit ihren 500 m2 nicht gerade groß ist. Zum anderen erfordern die plakatgroßen Bilder von Jeff Wall eben ihren Platz, denn ein jedes besitzt eine schier grenzenlose Präsenz und erzählerische Dichte. Jeff Wall hat von Anfang an, seit mit der Fotografie begann, solche Solitäre kreiert. Serien sind eine Ausnahme in seinem Schaffen.

    Als er in den späten Siebzigern anfing, großformatige Diapositive in Leuchtkästen zu präsentieren, tat er das in einer Zeit, in der Farbe in der Kunstfotografie verpönt war. Das Bunte wurde allein mit platten Werbebildern assoziiert. Mitte der neunziger dann, als das Farbfoto den Olymp der Kunst lange erklommen hatte, begann Jeff Wall, auch in Schwarz-Weiß zu arbeiten und wechselt seitdem immer wieder zwischen beiden Möglichkeiten.

    "Es ist unmöglich im Voraus zu wissen, ob ich etwas in Farbe oder Schwarz-Weiß mache. Es ist immer eine Überraschung. Das nächste Bild, das ich vielleicht mache oder plane oder hoffe zu machen, stelle ich mir vielleicht in schwarz-weiß vor. Aber wenn ich anfange daran zu arbeiten, könnte es doch farbig werden, wegen der Bedingungen des Ortes oder der Situation."

    Vier neue schwarz-weiß Fotos sind in der Ausstellung erstmals zu sehen. Drei davon muten filmisch an. Es sind Weitwinkelaufnahmen, die bis ins Detail inszeniert und streng durchkomponiert wirken. Sie zeigen Straßenszenen: eine Gruppe Arbeitsloser, die am Rande einer Industriesiedlung warten. Eine triste Häuserreihe, vor der eine handvoll Bewohner "abhängen". Und Jungs, die auf einer brachliegenden Wiese Krieg spielen. Alle drei Orte sind öde ungestaltete Ecken, wie sie in jeder Stadt zu finden sind. Auch die Menschen werden nicht als Individuen gezeigt, sondern als Chiffren für Isolation und soziale Kälte.

    Die Ideen für seine Motive findet Wall regelrecht auf der Straße, was erklärt, wieso seine Bilder auf den ersten Blick so banal und beiläufig wirken.

    "Zum Beispiel die Krieg spielenden Jungen und dieser Ort haben mich sofort gefesselt. Dieser große Kastanienbaum, der Platz davor, der Dreck, das Haus auf der linken Seite - das alles sah einfach richtig aus, also habe ich es genommen. Weil ich das so einfach machen kann und mich dafür entschieden habe es so zu tun, habe ich die Verantwortung aber auch die Freiheit alles zu gestalten."

    In den seltensten Fällen lichtet Wall die Situationen so ab, wie er sie vorgefunden hat. Meistens baut er sie in seinem Studio oder auf der Straße nach und fügt Dinge hinzu oder entfernt sie. Mit einem ganzen Team von Assistenten, Beleuchtern und Darstellern verbringt er oft Tage oder Wochen damit, den richtigen Winkel, den richtigen Ausschnitt im richtigen Licht festzuhalten. Und genau daher rührt der besondere Reiz, der die Bilder von Jeff Wall so charakteristisch macht: Die rätselhafte Spannung zwischen Zufall und Konstruktion, Authentischem und Fiktivem. Und auch der Kontrast zwischen den herben Inhalten, wie Obdach- oder Arbeitslosigkeit, und der gigantischen Darstellungsweise, die an opulente Historiengemälde erinnert und einfach eine Lust am Betrachten weckt.

    "Ich glaube nicht, dass man ein Bild genießt wie ein Stück Schokolade, das ist was anders, eine kompliziertere Form des Genießens, die Gegensätze beinhaltet. Es kann verstörend wirken, wenn man ein Bild genießt das etwas zeigt, das man im wirklichen Leben niemals genießen würde - und auch nicht sollte. Aber wenn wir solche Bilder nicht hätten, dann hätten wir die Kunst der letzten tausend Jahre nicht. Also seit wir sie haben, brauchen wir sie offensichtlich für irgendwas."

    Die Ausstellung zeigt auch drei der für Jeff Wall typischen Leuchtkastenbilder, allesamt ebenfalls Straßenszenen. Ein Beispiel ist 'rainfilled suitcase' das gleich gegenüber des Eingangs hängt. Ein kaputter Koffer auf dem Bürgersteig, vollgelaufen mit Regenwasser. Darin schwimmen ein paar Kleidungsstücke, drumherum liegen Papierfetzen und leere Pappbecher. Der Alltag, den der von draußen kommende Ausstellungsbesucher hinter sich zu lassen glaubte, setzt sich drinnen fort. Und es lohnt sich, diesem Pfad zu folgen - auch für neun Bilder.