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Eine sehr persönliche Totenmesse

Mit "Tonio. Ein Requiemroman" hat der niederländische Schriftsteller A.F.Th. van der Heijden ein sehr persönliches Werk veröffentlicht: Es geht um den Tod seines Sohnes.

Von Maike Albath |
    Man kann ihm komplett verfallen, dem niederländischen Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden, ihm und seinen Figuren, so kraftvoll und reich sind seine Romane, so packend ist sein literarischer Größenwahn. Wie ein Berserker rückte A.F.Th. van der Heijden, der mit vollständigem Namen Adrianus Franciscus Theodorus heißt, der Wirklichkeit bisher zu Leibe: nahm sie auseinander, setzte sie neu zusammen, übersteigerte und durchdrang sie. Das Ergebnis war ein praller Realismus, der mitunter ins Mythologische glitt, denn der Autor arbeitete mit Symbolketten und Chören, die an griechische Tragödien erinnerten; er ließ den Ödipus oder andere antike Stoffe durchschimmern. Nach seinem umfangreichen Zyklus "Die zahnlose Zeit" hatte er die auf neun Bände konzipierte Serie "Homo duplex" in Angriff genommen. Seine Schreiblust schien ungebrochen. Bis am Pfingstsonntag 2010 morgens die Klingel durchs Haus gellte.

    Unten klapperte die Glaszwischentür der Diele. Ein Stimmfetzen, unverkennbar von einem Mann, gefolgt von einem heulenden Aufschrei Mirjams. Die Katzen sprangen die Stufen hinunter und witschten auf dem Flur mit ihren dicken Schwänzen an meinen nackten Beinen vorbei, bevor sie auf den Ruf ihres Frauchens hin mit trommelnden Pfoten die Stufen hinuntersausten. Im Schlafzimmer, hinter der geöffneten Tür, klingelte mein Handy. Es lag auf Mirjams Betthälfte. Ich stürzte mich über die eigene Matratze darauf. Zu spät. In dem Moment, in dem ich auf die Taste drückte, hörte ich ihre Stimme, laut, voller Panik, im Treppenhaus. "Adri ... ! Es ist Tonio! Er liegt im Krankenhaus! In kritischem Zustand!" Ich war in wenigen Schritten auf dem Flur. In der Treppenbiegung zwischen dem ersten und zweiten Stock stand, den Arm auf dem Geländer, ein junger Polizist, der mit unbewegter Miene zu mir hochschaute. "Mijnheer, ich habe keine schöne Nachricht für Sie", sagte er. "Ihr Sohn Tonio wurde angefahren und liegt in kritischem Zustand im AMC. Meine Kollegin und ich haben den Auftrag, Sie dorthin zu bringen. Unser Bus steht vor der Tür." Ich fühlte, wie ich in ein körnig wimmelndes Halbdunkel der Art versank, wie es oft einer Ohnmacht vorausgeht. Meine Organe wurden zusammen gepresst, und ich musste mich fast übergeben.

    "Tonio. Ein Requiem-Roman" nennt van der Heijden sein neues Buch. Und dieses Mal ist es keine Fiktion, sondern krude Wirklichkeit. Dem sechzigjährigen Schriftsteller widerfährt das Schlimmste, was einem Vater passieren kann: Sein Sohn Tonio stirbt an den Folgen eines Fahrradunfalls. Ein Auto hatte ihn am Sonntagmorgen gegen halb fünf an einer gefährlichen Kreuzung erfasst und durch die Luft geschleudert. Er ist gerade zweiundzwanzig Jahre alt und das einzige Kind.

    Weil van der Heijden nichts mehr für ihn tun kann und bei der stundenlangen Notoperation mit seiner Frau Mirjam hilflos im Warteraum des Krankenhauses sitzt, und weil dann eine unfassbar dunkle Zeit anfängt, in der jeder neue Morgen zu einer Herausforderung wird, beginnt er schließlich, alles festzuhalten und aufzuschreiben. Akribisch und schonungslos. Es ist für ihn die einzige Möglichkeit, selbst am Leben zu bleiben und nicht verrückt zu werden.

    Das Ergebnis ist eine sehr persönliche Totenmesse, ein Porträt, das in seiner genauen Farbgebung mitunter an ein Gemälde erinnert, so sorgfältig studiert van der Heijden seinen Sohn. Ob es sein Gesichtsausdruck ist, seine Bewegungen, sein Körperbau oder seine Art zu lachen, der Vater spürt allen Eigenarten nach, lässt Kindheit, Schulzeit und Jugend vor seinem inneren Auge Revue passieren, beschreibt die seelische Zerrüttung und die tiefe Trauer.

    Die äußeren Ereignisse skandieren den Rhythmus dieses Requiems: der Unfall, die Nachricht davon, die Beerdigung und die Trauerfeier. Dann Gespräche mit Tonios Freunden, Besuche bei der Polizei und der Versuch, den Morgen des Unfalls genau zu rekonstruieren. Schließlich das Aufstellen des Grabsteins. Gleichzeitig verfährt van der Heijden nach dem Prinzip der assoziativen Lockerung und lässt immer wieder Details einfließen, Erinnerungen an Tonio, die wie Schnappschüsse wirken, Splitter aus der Familiengeschichte und seiner eigenen Jugend. Die Rückblenden durchtrennen den Zeitstrahl, der mit dem verheerenden Pfingstsonntag beginnt.

    Es ist der Auftakt zu einer neuen Epoche: van der Heijden ist jetzt ein verwaister Vater. Den Rahmen der ersten Kapitel bildet der quälende Tag im Krankenhaus. Immer wieder sprechen die Eltern mit den Ärzten, die Tonio die Milz entfernen, die zerfetzte Lunge zum Atmen bringen, bis sie schließlich an den komplizierten Kopfverletzungen und dem anschwellenden Gehirn scheitern. Das Krankenhausambiente ruft im Vater zwangsläufig Erinnerungen an die Geburt seines Sohnes wach. Ein blutverschmiertes, hilfloses Bündel war ihm damals in den Arm gelegt worden.

    Ein paar Tage nach der Badezimmerszene wurde, rund drei Wochen zu früh, unser Sohn geboren. Als ich vor dem Brutkasten stand, las ich von dem graurosa Pflaster auf seiner schmalen Brust wieder und wieder flüsternd seinen Namen ab, der mir immer besser zu gefallen begann. To. Ni. Io. Es hatte etwas von einer rollenden, brechenden, weiterrollenden Woge. Ni. Ein Name mit einer überwundenen Verneinung. Na schön, es war ein Wagnis gewesen, aber wie sich herausstellte, passte Tonio perfekt zu ihm. Als die Augen des kleinen blinden Mannes sich richtig öffneten, sahen sie einen genauso rund und konzentriert an wie die o’s, die fettgedruckt auf der Geburtsanzeige standen.

    Viele Jahre lang hatte der Vater, der von allen Adri genannt wird, seine Frau belagert und um ein Kind gebettelt. Als es schließlich da war, befiel ihn Angst, es nicht ausreichend beschützen zu können. Gleichzeitig wurde sein Sohn zum unsichtbaren Zentrum seines Schreibens – er sei seine "männliche Muse" gewesen, heißt es an einer Stelle. Wie unter Zwang durchlebt der Erzähler nun immer wieder die Szene, als ihm und Mirjam die Nachricht von Tonio Unfall überbracht wurde. Die gellende Klingel, die erschrockenen Katzen und der Schrei seiner Frau. Ein Riss durch sein Leben, ein brutaler Bruch mit allem, was zuvor galt. Selbst das Schreiben, die literarischen Projekte und der Genuss der Fiktion sind bedeutungslos geworden. Van der Heijdens scheint mit seinem Requiem genau dieser Gefahr des Verstummens etwas entgegen setzen zu wollen. Statt sich in ein tiefes Schweigen zu verschließen, beschwört er den Sohn wieder herauf.

    Ich fühle ihn neben mir sitzen. Ich fühle ihn vor mir stehen. Ich fühle seinen warmen Atem in meinem Nacken – in kurzen Stößen, verursacht durch sein Kichern, denn er steht hinter mir und liest halblaut mit, was ich schreibe, wie bei jenem Mal, als ich mich an einen Verleger wandte, der mich ungerecht behandelt hatte. "Sehr geehrter Herr Bücherfritze ... das ist gut." Am deutlichsten fühle ich ihn in mir, als wäre ich eine schwangere Frau. Ich bekomme einen heftigen Tritt in meine Eingeweide, dann ein paar schwächere. Es scheint, als versuchte er sich ungestüm umzudrehen.

    Im Frühjahr 94 kam er mit Mirjam nach Angoulème, wo ich einige Wochen zuvor die Arbeit an einer Reportage begonnen hatte. Tonio war fünf, fast sechs. Die Türen des TGV öffneten sich, und er sprang von der Trittstufe direkt in meine Arme. Ohne die Steinplatten des Bahnsteigs mit der Fußspitze zu berühren, hing er plötzlich an mir, lachend, küssend. Die liebevolle Heftigkeit seines Griffs kann ich mir zu jedem gewünschten Zeitpunkt des Tages in Erinnerung rufen. Ich werde Tonio in meinem Fleisch spüren, solange ich lebende Nerven habe.

    A. F. Th. van der Heijden verklärt die Vergangenheit nicht. Trotz der unfassbar großen Trauer ist keine Larmoyanz spürbar, im Gegenteil. Schonungslos geht er mit sich selbst ins Gericht. Fehler, Konflikte und Spannungen werden nicht ausgeblendet, sondern sind Teil dieser ungewöhnlichen Studie. Eine Idealisierung des verlorenen Sohnes liegt dem Schriftsteller fern.

    Tonio war begabt und fröhlich, ein bisschen zu sorglos mitunter. Gerade erst hatte er nach zwei gescheiterten Studienanfängen einen dritten Anlauf an der Universität genommen. Fotografie war seine große Leidenschaft. Wie viele junge Leute seiner Generation hatte er den Abschied vom Elternhaus eine Weile hinaus gezögert – und der Mutter immer noch Wäscheberge vor die Tür gelegt. Eine Eigenschaft des Jungen wird dem trauernden Vater auch von Freunden immer wieder vor Augen geführt: Tonio sei sehr liebevoll und fürsorglich gewesen.

    Wie Detektive spüren die Eltern seinen letzten Schritten nach. Wie hat er die Tage vor dem Unfall verbracht, wen hat er getroffen, was hat er gedacht und gefühlt? Wie viel konnte er in seinem kurzen Leben überhaupt schon erlebt haben? Lange beschäftigt Mirjam und Adri ein namenloses Mädchen, das Tonio bei ihnen im Haus für eine Bewerbungsmappe fotografiert hatte. Eine Liebesgeschichte schien sich anzubahnen, denn der Sohn bat seine Eltern, zum Zeitpunkt des Fototermins möglichst nicht da zu sein. Sie taten ihm den Gefallen und verschwanden für ein paar Stunden. Anschließend ärgerte sich der Vater über weiße Styroporplatten, die Tonio überall hatte herum liegen lassen. Angesichts der Lage scheint ihm diese Wut jetzt nichtig. Sein größter Wunsch ist, dass sein Sohn wenigstens eine letzte Liebesnacht hätte erleben können. Nach einer Weile stöbern Mirjam und Adri das Mädchen auf, deren Aufnahmen Tonio ihnen stolz präsentiert hatte. Sie heißt Jenny und ist tief verstört von der Nachricht. Auch die Eltern nehmen diese Recherchen, mit denen sie in das Innerste ihres Sohnes vordringen, furchtbar mit. Immer wieder malt sich Adri aus, wie er Tonio hätte beschützen können.

    Die Ampel springt auf Grün. Jetzt werde ich dir ernsthaft ins Gewissen reden. Ich rate dir ... nein, ich flehe dich an ... hier links abzubiegen, in die De Lairessestraat. Ein Stück weiter, hinter der Kreuzung mit der Jacob Obrecht, rechts in die Banstraat. Dann schnell noch nach links – bis zu deinem Elternhaus in der Johannes Verhulst. Die ganze Hauswand ist frei, um dein Rad abzustellen. Junge, du bist müde, du hast getrunken, du fällst mitsamt deinem Rad vor Schläfrigkeit schon um. Verzichte auf dieses ganze Ende nach De Baarsjes. Okay, Jim wird enttäuscht sein, aber er merkt es schon von allein und wird früher oder später ins Bett gehen. Erklär es ihm morgen. Du denkst vielleicht, du wärst voll da, weil du über Jenny nachdenkst, aber im Grunde döst du nur träge-verliebt vor dich hin. Zugegeben, um diese Zeit gibt es kaum Verkehr, aber ... du musst noch über die Kreuzung Eerste Constantjn Huygens/Overtoom ... nach links ... Vor allem die Taxis fahren dort wie Idioten. Du hast den Hausschlüssel. (Er hängt, wenn ich mich nicht irre, am selben Ring wie der Fahrradschlüssel.) Sonst schleichst du auch immer lautlos die Treppe hinauf. Du wirst uns nicht wachmachen. Außerdem, ich sitze senkrecht im Bett, geweckt von einem rumorenden Magen als Folge von zuviel Knoblauch, wie eine Katze, die einen Haarball herauswürgt. Es geht auf halb fünf zu, sehe ich auf meiner Uhr. Zwischen den Vorhängen noch kein Licht.

    Es nützt nichts, Adri kann die Wirklichkeit nicht umschreiben. Stattdessen werden die Eltern jedes Mal neu mit der Ungeheuerlichkeit des Todes konfrontiert. Ihre Abende verlaufen immer nach demselben Ritual: Nur mit hochprozentigen Alkoholika halten sie ihren neuen Zustand aus. Adri fragt sich, ob er vielleicht zu großes Glück hatte – seine erfolgreichen Bücher, seine nie versiegende Kreativität, die erfüllte Ehe, die innige Beziehung zu seinem Sohn – und damit sein Schicksal herausgefordert haben könnte.

    Das griechische Motiv der Nemesis schwingt mit, wenn er sich selbst der Hybris bezichtigt, sein Glück allzu selbstverständlich hinnahm und sogar auf mehr spekulierte, worauf die Rache der Götter folgen musste. Aber das ist eine von vielen Gedankenspielereien, die ihm angesichts der Unerklärlichkeit des Unglücks durch den Kopf schießen. Im selben Atemzug ist das Buch auch eine große Verteidigung der Familie als Lebensform.

    Vor Krisen sind Adri und Mirjam nicht gefeit, aber nach einer schwierigen Phase in Tonios Kleinkindzeit waren sie nur noch enger zusammen gewachsen. Wie ein Bollwerk hatte sich das Dreierbündnis aus Vater, Mutter und Sohn gegen die Zumutungen der Wirklichkeit abschotten können. Selbst jetzt entfernen sich Mirjam und Adri nicht voneinander, so einsam jeder mit seinem Schmerz auch bleibt. Mit grausamer Gleichgültigkeit schreiten die Tage voran. Dinge müssen geregelt werden. Es gibt einen bizarren Streit mit Mirjams Mutter, einer verwirrten alten Dame, die den jungen Toten als Konkurrenz erlebt – als hätte ihr Tonio die Schau gestohlen, kurz bevor sie einen denkwürdigen Abgang hatte hinlegen wollen. Zu Herzen geht die Gebrochenheit des 90-Jährigen Großvaters, ihres Ex-Mannes, der vor der Verfolgung durch die Nazis aus Osteuropa nach Holland geflohen war und mit seinem Enkel eine innige Beziehung pflegte. Immer wieder wird der Charakter des Schmerzes beschrieben, von dem es keine Erlösung gibt.

    Entsetzen. Es gab kein anderes Wort dafür. Mein Entsetzen war ein stilles, kaltes Entsetzen. Blut, Tränen, sonstige Körperflüssigkeit – alles schien, der Oberfläche entzogen, in mein erkaltetes Inneres gelenkt zu werden, um dort zu gefrieren.
    Auch als Toten habe ich Tonio voll und ganz zu akzeptieren – und für ihn zu sorgen. Ich wusste, dass ein Kind, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte, sterblich sein würde, mochte es auch noch so gesund zur Welt kommen. Diese Sterblichkeit habe ich damals, mit Magenkrämpfen, hingenommen. Einkalkuliert. Ich hatte sogar das Risiko seines frühzeitigen Todes, so klein die Gefahr auch war, akzeptiert. Jetzt die Zähne zusammengebissen, notfalls klappernd. Laß den Kopf ruhig hängen, aber richte ihn wieder auf. Indem ich Tonio zeugte, war sein früher Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt, und verloren. Mirjam ist unverändert die einzige Frau, mit der ich je ein Kind gewollt habe. Jetzt, da ihr Sohn tot ist, muss ich unverändert für ihn sorgen, genau wie für sie.

    Tonio ist ein konzentriertes Buch geworden, präzise und von erschütternder Offenheit, ohne aufdringliche Selbstentblößung, ohne Selbstmitleid und dennoch voller Gefühle für den verlorenen Sohn. Die Totenklage ist bestürzend und nötigt dem Leser höchsten Respekt ab. Dieser Erzähler überlässt sich nicht der Ohnmacht, sondern versteht den Tod seines Sohnes auch als einen Appell, einen Auftrag.

    Während van der Heijden in seinen Romanzyklen Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" und Hugo Claus’ "Kummer von Flandern" zum Vorbild nahm und sich durch ein umfangreiches Personal, verschiedene Erzählebenen und unzählige Handlungsschleifen, durch Allegorien, metaliterarische Kommentare, barocken Sprachgebrauch und lustvoll verschlungene Satzperioden auszeichnete, ist er hier viel zurückgenommener. Es herrscht keine Polyphonie der Stimmen, kein überbordender Barock. In einem behutsam vorantastenden Tonfall durchmisst van der Heijden die dunkle Zeit der Trauer. Ähnlich wie in seinem Romanwerk bestimmen auch hier Bewusstseinswellen und Erinnerungsschübe den Umgang mit seinem Sujet. Obwohl auf der Handlungsebene nicht viel passiert, gibt man sich auch als unbeteiligter Leser dieser Klage anheim und leidet mit dem Verfasser. Bereits die Tatsache, bei jedem Leben den Tod als Möglichkeit mitdenken zu müssen, erscheint unerträglich.

    Das Skandalon des Todes wiegt umso schwerer, als sich die natürliche Generationenfolge umkehrt: Tonio wird seinen Vater nicht begraben können, stattdessen ist der Vater dazu verurteilt, mit dieser Bürde weiter zu leben. So furchtbar das Los dieser Eltern ist, so allgemeingültig ist van der Heijdens Requiem.

    Als Leser fällt einem unweigerlich ein zweiter Vater ein, der den Tod eines Kindes zu beklagen hatte und darüber schrieb: David Grossmann war mitten in der Arbeit an seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht, als sein achtzehnjähriger Sohn am letzten Tag des Libanonkrieges 2006 ums Leben kam. Anders als bei van der Heijdens Buch handelt es sich hier um ein breit angelegtes Epos über Israel; ein ganzes Gesellschaftspanorama wird aufgefächert. Aber die Betroffenheit durch den Verlust ist dieselbe. Auch für Großmann bot die Literatur den einzigen Faden, durch den er mit dem Leben verbunden blieb. Van der Heijden bezieht sich nicht auf Großmann, ebenso wenig wie auf Joan Didion, die mit ihrer autobiografischen Selbstbefragung Das Jahr des magischen Denkens dem Tod ihres Mannes und der tödlichen Erkrankung ihrer Tochter standzuhalten versuchte und ähnlich wie der holländische Schriftsteller in Gedanken immer wieder dieselben Szenen durchspielte, in der Hoffnung, das Ende möge ein anderes sein.

    Van der Heijden stellt aber vielen Kapiteln ein Motto voran. Mehrfach sind es Gedichtzeilen von Gerrit Kouwenaa. In ihrer Knappheit vermitteln diese Verse die Ausweglosigkeit der Lage. "Man muss dem fotografen noch die blutlache zeigen/ ihn seines hauses entwöhnen, sein farbband erneuern", heißt es einmal lapidar. Van der Heijden zitiert auch Ben Johnson, der ebenfalls einen Sohn verlor. Es hilft ihm wenig. Jedes Leid scheint unvergleichlich. Den einzigen Beistand bietet dem Schriftsteller die Erinnerung. Und das ist das Tröstliche an diesem traurigen Buch: Am Ende bleibt die Sprache, um von den Toten zu erzählen.


    A.F.Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman
    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
    670 Seiten, 29,60 Euro