Rainer-Berthold Schossig: Kennen Sie "Wimmelbücher"? Der Kinderbuchzeichner Ali Mitgutsch hat sie vor Jahrzehnten schon erfunden, sie wimmeln einfach von ganz normalen Menschen und Tieren, von Alltag und Leben. Die "Wimmelbücher" der Münchnerin Rotraut Susanne Berner sind inzwischen ebenfalls Kindern nicht nur in Deutschland, sondern auch vielerorts auf der Welt bekannt. Doch in den USA wird ihr "Winter-Wimmelband" nun nicht erscheinen können. Denn der Kinderbuchverlag Boyd Mills Press wollte nicht nur jeden Hinweis auf Zigarettenkonsum auf ihren Bildern tilgen, sondern verlangte auch, dass bei einem gerade mal 7,5 Millimeter groß getuschten Männerakt im Museum der Mini-Penis wegretouchiert werde.
Vorauseilender Gehorsam gegenüber evangelikalen Fundamentalisten? Die Kinderbuch-Zeichnerin Rotraut Susanne Berner sagte dazu heute gegenüber "Kultur heute", wie sich fühlt:
"Ich muss ganz ehrlich sagen, da das eine solche Petitesse ist im wahrsten Sinne des Wortes, sehe ich mich da eigentlich in gar keiner Gesellschaft. Ich finde es eigentlich hanebüchen. Es ist ja nicht ein Protagonist meines Buches, der da irgendwie mit offener Hose herumläuft, sonder es ist eine kleine Kunstfigur in einem Museum. Ich hatte ja dann dem Verleger vorgeschlagen, einen schwarzen Balken drüber zu drucken. Damit wäre ich einverstanden gewesen.
Dann hätte man die Zensur sehen müssen, und dann wäre das ja eventuell sogar noch viel auffälliger und ein Gesprächsanlass gewesen."
Kunst darf zensiert werden, aber sie darf nicht nackt sein - zumindest nicht in amerikanischen Kinderbüchern anscheinend. Die Münchner Kinderbuch-Macherin Rotraut Susanne Berner über Zensurversuche an ihrem neuen "Winter-Wimmelbuch".
Es kann, wie gesagt, in den USA nicht erscheinen. Der als liberal, wie gesagt, geltende Kinderbuchverlag Boyd Mills Press in Pennsylvania verlangte schwerwiegende Bildzensuren, weil er, und wahrscheinlich stecken radikal-evangelikale Angriffe dahinter, einen [im Hörprotokoll unverständlich, d. Red.] Schaden befürchtet. Das klingt absurd und zugleich gefährlich, denn solche Proteste sind in den USA inzwischen an der Tagesordnung.
Frage an Friedrich Wilhelm Graf, Professor für systematische Theologie und Ethik in München, derzeit Wissenschaftskolleg Berlin: Es handelt sich ja wirklich um frontale Angriffe, wenn auch auf kleinem Niveau, auf die literarische und Meinungsfreiheit. Was sind die Wurzeln der evangelikalen Bewegung, und welchen politischen Einfluss haben solche Organisationen in den USA?
Friedrich Wilhelm Graf: Also, der Begriff Fundamentalismus ist ein amerikanischer Begriff, der entsteht im frühen 20. Jahrhundert. Das sind Leute, die sagen, wir wollen wirklich "the fundamental truth" des christlichen Glaubens verteidigen, gegen historische Relativierungen, gegen kritische Lektüre der normativen Schriften und so weiter. Und wenn man sich jetzt erklärt, warum sich das so schnell durchgesetzt hat, dann brauchen Sie ein komplexes Bündel von Argumenten.
Das Erste ist, der Fundamentalismus erzeugt Übersichtlichkeit. Sie haben klare Strukturen - drinnen, draußen. Sie haben, wenn Sie so wollen, Feindbildproduktion. In einer Welt, die sich sehr schnell ändert, in einer Welt, in der sie mit vielfältigen, neuen Risiken konfrontiert sind, ist Fundamentalismus ein attraktives Angebot.
Zweites Argument: Fundamentalismen bieten in aller Regel den Leuten neben einem stabilen Weltbild auch dichte Netze der Solidarität. Die sind hoch organisiert, die bieten Schutz, die bieten Sozialdienstleistungen, auch das ist etwas in den USA sehr, sehr wichtiges.
Und das Dritte ist, dass diese amerikanischen Fundamentalismen, da gibt es ja viele verschiedene, dass die sich ganz moderner Kommunikationsmedien bedienen, denken sie nur ans Stichwort sozusagen Fernsehprediger, diese ganze Fernsehreligion. Und insofern haben wir es in gewisser Hinsicht mit Modernisierungsphänomenen der Religion zu tun. Also, man darf nicht sagen, es ist mittelalterlich, sondern es sind höchst moderne, antiomoderne Phänomene.
Schossig: Aber gerade diese Modernität, Herr Graf, die führt ja wirklich zu frontalen Angriffen, zum Beispiel auf die literarische und die Meinungsfreiheit. Welchen politischen Einfluss haben inzwischen solche Organisationen und solche Netzwerke in den USA?
Graf: Na gut, wir wissen, dass sie politisch sehr effektiv sind, dass sie Wahlen, jedenfalls auf Bundesebene, entscheiden können. Wir wissen, dass sie immer stärker sozusagen die Autonomie von Wissenschaftsinstitutionen, von Bildungsinstitutionen infrage stellen, also Stichwort Kreationismusdebatte beispielsweise. Und wir wissen, dass sie Druck ausüben und zwar höchst effektiv. Sie können sagen, die nehmen ihre Kundenautonomie wahr, indem sie sagen, diese Produkte kaufen wir nicht, und wir wollen auch nicht, dass diese Produkte in entsprechenden Kontexten sichtbar sind. Ja, das ist insofern eine spezifische Form von Zensur, die wir erlebt haben. Die Verlage reagieren inzwischen sozusagen von vornherein so, sie wollen sich nicht in die Situation bringen, dass sie Produkte produzieren, die am Markt nicht nachgefragt werden, weil die Leute mit Boykott reagieren.
Schossig: Also doch mittlerweile eine Gefahr nicht nur für einzelne Verlage, sondern für die Verlagskultur, für die literarische Kultur, im Grunde für die Demokratie?
Graf: Na, ich würde nicht gleich sagen, für die Demokratie, aber jedenfalls sozusagen für eine liberale, offene Gesellschaft, in der Sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass Sie ganz unterschiedliche Weltanschauungen propagieren können und so weiter - dafür ist es sicherlich eine Gefahr.
Schossig: Herr Graf, der Anlass unseres Gesprächs ist die Zensur eines Minipenis' in einer Kinderbuchillustration. Das sind ja Kleinigkeiten. Aber wie den Anfängen wehren? In den Religionsgemeinschaften vielleicht selbst, oder was schlagen Sie vor?
Graf: Man kann dem in bestimmter Hinsicht nicht wehren. Religion kann nur durch Religion verändert werden. Jeder versucht ja, Intervention von außen wird nur Mentalitäten verfestigen, verhärten. Es ist so eine religiöse Hardcore-Kultur, die da im Moment triumphiert, und zwar auf allen Seiten. Das erleben Sie ja auch in ganz anderen religiösen Lebenswelten, dass das Harte, das unbedingt Bindende, das Fordernde, das Echte Konjunktur hat.
Schossig: Soweit der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf über echte evangelikale Moral und einen neuen, atlantischen Fundamentalismus.
Vorauseilender Gehorsam gegenüber evangelikalen Fundamentalisten? Die Kinderbuch-Zeichnerin Rotraut Susanne Berner sagte dazu heute gegenüber "Kultur heute", wie sich fühlt:
"Ich muss ganz ehrlich sagen, da das eine solche Petitesse ist im wahrsten Sinne des Wortes, sehe ich mich da eigentlich in gar keiner Gesellschaft. Ich finde es eigentlich hanebüchen. Es ist ja nicht ein Protagonist meines Buches, der da irgendwie mit offener Hose herumläuft, sonder es ist eine kleine Kunstfigur in einem Museum. Ich hatte ja dann dem Verleger vorgeschlagen, einen schwarzen Balken drüber zu drucken. Damit wäre ich einverstanden gewesen.
Dann hätte man die Zensur sehen müssen, und dann wäre das ja eventuell sogar noch viel auffälliger und ein Gesprächsanlass gewesen."
Kunst darf zensiert werden, aber sie darf nicht nackt sein - zumindest nicht in amerikanischen Kinderbüchern anscheinend. Die Münchner Kinderbuch-Macherin Rotraut Susanne Berner über Zensurversuche an ihrem neuen "Winter-Wimmelbuch".
Es kann, wie gesagt, in den USA nicht erscheinen. Der als liberal, wie gesagt, geltende Kinderbuchverlag Boyd Mills Press in Pennsylvania verlangte schwerwiegende Bildzensuren, weil er, und wahrscheinlich stecken radikal-evangelikale Angriffe dahinter, einen [im Hörprotokoll unverständlich, d. Red.] Schaden befürchtet. Das klingt absurd und zugleich gefährlich, denn solche Proteste sind in den USA inzwischen an der Tagesordnung.
Frage an Friedrich Wilhelm Graf, Professor für systematische Theologie und Ethik in München, derzeit Wissenschaftskolleg Berlin: Es handelt sich ja wirklich um frontale Angriffe, wenn auch auf kleinem Niveau, auf die literarische und Meinungsfreiheit. Was sind die Wurzeln der evangelikalen Bewegung, und welchen politischen Einfluss haben solche Organisationen in den USA?
Friedrich Wilhelm Graf: Also, der Begriff Fundamentalismus ist ein amerikanischer Begriff, der entsteht im frühen 20. Jahrhundert. Das sind Leute, die sagen, wir wollen wirklich "the fundamental truth" des christlichen Glaubens verteidigen, gegen historische Relativierungen, gegen kritische Lektüre der normativen Schriften und so weiter. Und wenn man sich jetzt erklärt, warum sich das so schnell durchgesetzt hat, dann brauchen Sie ein komplexes Bündel von Argumenten.
Das Erste ist, der Fundamentalismus erzeugt Übersichtlichkeit. Sie haben klare Strukturen - drinnen, draußen. Sie haben, wenn Sie so wollen, Feindbildproduktion. In einer Welt, die sich sehr schnell ändert, in einer Welt, in der sie mit vielfältigen, neuen Risiken konfrontiert sind, ist Fundamentalismus ein attraktives Angebot.
Zweites Argument: Fundamentalismen bieten in aller Regel den Leuten neben einem stabilen Weltbild auch dichte Netze der Solidarität. Die sind hoch organisiert, die bieten Schutz, die bieten Sozialdienstleistungen, auch das ist etwas in den USA sehr, sehr wichtiges.
Und das Dritte ist, dass diese amerikanischen Fundamentalismen, da gibt es ja viele verschiedene, dass die sich ganz moderner Kommunikationsmedien bedienen, denken sie nur ans Stichwort sozusagen Fernsehprediger, diese ganze Fernsehreligion. Und insofern haben wir es in gewisser Hinsicht mit Modernisierungsphänomenen der Religion zu tun. Also, man darf nicht sagen, es ist mittelalterlich, sondern es sind höchst moderne, antiomoderne Phänomene.
Schossig: Aber gerade diese Modernität, Herr Graf, die führt ja wirklich zu frontalen Angriffen, zum Beispiel auf die literarische und die Meinungsfreiheit. Welchen politischen Einfluss haben inzwischen solche Organisationen und solche Netzwerke in den USA?
Graf: Na gut, wir wissen, dass sie politisch sehr effektiv sind, dass sie Wahlen, jedenfalls auf Bundesebene, entscheiden können. Wir wissen, dass sie immer stärker sozusagen die Autonomie von Wissenschaftsinstitutionen, von Bildungsinstitutionen infrage stellen, also Stichwort Kreationismusdebatte beispielsweise. Und wir wissen, dass sie Druck ausüben und zwar höchst effektiv. Sie können sagen, die nehmen ihre Kundenautonomie wahr, indem sie sagen, diese Produkte kaufen wir nicht, und wir wollen auch nicht, dass diese Produkte in entsprechenden Kontexten sichtbar sind. Ja, das ist insofern eine spezifische Form von Zensur, die wir erlebt haben. Die Verlage reagieren inzwischen sozusagen von vornherein so, sie wollen sich nicht in die Situation bringen, dass sie Produkte produzieren, die am Markt nicht nachgefragt werden, weil die Leute mit Boykott reagieren.
Schossig: Also doch mittlerweile eine Gefahr nicht nur für einzelne Verlage, sondern für die Verlagskultur, für die literarische Kultur, im Grunde für die Demokratie?
Graf: Na, ich würde nicht gleich sagen, für die Demokratie, aber jedenfalls sozusagen für eine liberale, offene Gesellschaft, in der Sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass Sie ganz unterschiedliche Weltanschauungen propagieren können und so weiter - dafür ist es sicherlich eine Gefahr.
Schossig: Herr Graf, der Anlass unseres Gesprächs ist die Zensur eines Minipenis' in einer Kinderbuchillustration. Das sind ja Kleinigkeiten. Aber wie den Anfängen wehren? In den Religionsgemeinschaften vielleicht selbst, oder was schlagen Sie vor?
Graf: Man kann dem in bestimmter Hinsicht nicht wehren. Religion kann nur durch Religion verändert werden. Jeder versucht ja, Intervention von außen wird nur Mentalitäten verfestigen, verhärten. Es ist so eine religiöse Hardcore-Kultur, die da im Moment triumphiert, und zwar auf allen Seiten. Das erleben Sie ja auch in ganz anderen religiösen Lebenswelten, dass das Harte, das unbedingt Bindende, das Fordernde, das Echte Konjunktur hat.
Schossig: Soweit der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf über echte evangelikale Moral und einen neuen, atlantischen Fundamentalismus.