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Eine Spurensuche

Die Schriftstellerin Gertrude Stein gilt zwar als eine der wichtigsten Begründerinnen der Literaturmoderne, viel gelesen wird ihr verschlossenes, geheimnisvolles Werk aber nicht. In einem dreiteiligen Essay nähert sich die Journalistin Janet Malcolm der Autorin und ihrer drei Jahre jüngeren Lebensgefährtin Alice B. Toklas.

Von Astrid Nettling | 21.01.2009
    Wunderbar das Schwarzweißphoto auf dem Umschlag: Zwei ältere Damen stehen im Abstand von etwa einem Meter einander gegenüber und schauen sich an. Beide sind klein. Zierlich, elegant mit Hut und vogelhaft scharfem Profil die eine, korpulent, rustikal gekleidet, mit grauem Cäsarenkopf die andere. Es sind die 60-jährige Schriftstellerin Gertrude Stein und ihre um drei Jahre jüngere Lebensgefährtin Alice B. Toklas aufgenommen 1934 auf einer Lesereise in den USA. Zwei ältere Damen, beide Meisterinnen der Selbstinszenierung: die Hohepriesterin literarischer Moderne auf der einen, die Tempelhüterin des Steinschen Oeuvres auf der anderen Seite. Im krassen Missverhältnis zur persönlichen Extravertiertheit der beiden freilich steht die Verschlossenheit des literarischen Werks von Gertrude Stein selber. Wie die Autorin des vorliegenden Buches lakonisch bemerkt, vermittelt es zumeist "dem Leser das Gefühl, als ungebetener Gast in der falschen Nacht ein dunkles Haus zu betreten". Und wer möchte schon bei einer solchen Tat ertappt werden? Kein Wunder, dass Gertrude Stein, wiewohl die "Mutter der Moderne", gleichwohl zu den ungelesensten Autoren der Moderne zählt. "Zwei Leben: Gertrude und Alice" hat Janet Malcolm ihren dreiteiligen Essay genannt als einen Versuch, mit Hilfe biographischer Schlüssel dennoch Eingang in das Haus zu finden.

    " Von allen Schriftstellern könnte sie diejenige sein, deren Werk am meisten der Interpretation durch ihre Biographie bedarf. Selbst ihre hermetischsten Texte sind im Kern autobiographisch. Das "Ich" öffnet zwar nicht die Tür zur Deutung dieser Texte - dafür bräuchte man eine Brechstange -, gewährt aber manchmal Zutritt zu einer Art Vorzimmer der Mutmaßungen. "

    So gibt die Autorin unter dem Beistand namhafter amerikanischer Gertrude-Stein-Kenner, deren Recherchen sie ausführlich zu Wort kommen lässt, Einblick in so manche biographische Details, über die die Schriftstellerin selbst jeden Hinweis verwehrt hat. Sei es über ihr Verhältnis zum Judentum, das so gut wie keinen Niederschlag in ihrem Werk gefunden hat, sei es über ihre freundschaftliche Beziehung zu dem französischen Antisemiten Bernhard Faÿ, der Zugang zu den höchsten Stellen des Vichy-Regimes hatte und während des Zweiten Weltkriegs, als die beiden Jüdinnen Stein und Toklas im nazibesetzten Frankreich lebten, seine schützende Hand über sie hielt, oder sei es über ihre unglückliche frühe Liebe zu May Bookstaver, deren Spuren Alice B. Toklas zwar vollständig auszumerzen versuchte, die aber dennoch in den nach wie vor unveröffentlichten Notizbüchern wie in den Werken The Making of Americans, Drei Leben und ihrem erst posthum erschienenen, frühen Roman Q.E.D. zu finden sind. Biographische Details, die das Bild von einem rundum glücklichen und geglückten Leben korrigieren, auf das Gertrude Stein Zeit ihres Lebens hartnäckig bestanden hat und das trotzdem weit mehr als eine bloße Selbstmystifikation der Schriftstellerin darstellt. "Wenn man über sich selbst oder jemanden schreibt klingt es als sei man sehr unglücklich aber allgemein gesprochen hat jeder Lebende eine ziemlich vergnügte Zeit im Leben und was immer geschieht es wird auch weiterhin so sein", heißt es an einer Stelle in Jedermanns Autobiographie. Für Janet Malcolm eine Schlüsselstelle, die viel über die Persönlichkeit Gertrude Steins sowie die conditio ihres Schreibens verrät: d.h. über ihre Kunst, eine immer auch glücksversagende Wirklichkeit nicht wirklich wirksam werden zu lassen. Oder freudianisch gesprochen: dem Lustprinzip gegenüber dem Realitätsprinzip unerschütterlich den Vorrang einzuräumen und dennoch Kultur, nämlich große Literatur, hervorzubringen. Oder zenbuddhistisch formuliert: ungeachtet aller dunklen Lebenswirklichkeiten zum Glanz eines heiteren So-und-nicht-anders-Seinkönnens der Dinge zu finden, denn so Gertrude Stein - "rose is a rose is a rose is a rose". Im zweiten und überzeugendsten Teil ihres Essays rekonstruiert Janet Malcolm die Möglichkeitsbedingungen solchen Schreibens wiederum biographisch und zwar ausgehend von dem 925 Seiten starken, recht düsteren Roman mit kaschiert autobiographischen Zügen The Making of Americans, den Gertrude Stein 1903 als knapp Dreißigjährige beginnt, in dem sie neben ihrer unglücklichen frühen Liebe ebenso den frühen Krebstod ihrer Mutter verarbeitet. Auch dies eins ihrer nur von wenigen gelesenen Meisterwerke, das nicht nur ein für alle Mal die Grenzen des Genres sprengt, sondern zugleich den Prozess schriftstellerischer Selbstfindung abbildet, in dem sich "Trauer, Wut und Selbstzweifel austoben mussten, bevor die heiteren Gewissheiten der gereiften Autorin ihren Platz finden konnten", wie Janet Malcolm formuliert. Ein achtjähriger Kraftakt, der ihr Schreiben schließlich in jenes "lebenslange, heiter-eigensinnige Zelebrieren des Naheliegenden und Trivialen" münden lässt als ihre Reverenz an den unverlierbaren Glanz des Daseins und durch den sie 'die' Gertrude Stein wurde, wie man sie kennt bzw. die der Leser nach der Lektüre von Malcolms ebenso erfrischendem wie aufschlussreichem Essay gewiss Lust bekommen wird, doch einmal selbst kennenzulernen.

    " Wenn sie einen Raum betrat, schien sie zu leuchten, und das Werk, selbst in seinen hermetischsten Teilen, besitzt eine Strahlung, die einen auch dort weiterlesen lässt, wo man normalerweise aufhört, wenn der Text keinen Sinn hergibt. "


    Janet Malcolm: Zwei Leben: Gertrude und Alice
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 166 S., 19,80 Euro