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Eine Stadt steht Kopf

Eine ganze Stadt steht Kopf, wenn auf dem muschelförmigen Campo von Siena ein einzigartiges Fest gefeiert wird: der Palio, ein 700 Jahre altes Pferderennen.

Von Hildburg Heider |
    Siena im August, drei Tage vor dem Palio. Muschelförmig senkt sich die Piazza del Campo hinunter zum Rathausbau mit dem schlanken Glockenturm: ein Amphitheater im Ring gotischer Paläste. Noch servieren adrette Kellner den erschöpften Touristen Caffé und Cola. Doch schon leuchten wild die Fahnen am rötlichen Gemäuer, und die steinerne Umrandung des Campo hat sich in eine Sandpiste verwandelt.

    La Terra in Piazza!

    Hier werden zehn wilde Reiter auf ungesattelten Pferden sich ein Rennen von 100 Sekunden liefen. Ihm fiebern die Einwohner ein ganzes Jahr lang entgegen. Mit glänzenden Augen, erhobenen Fäusten, mit Tüchern in Farben ihres Stadtteils ziehen sie durch die Gassen.

    Die Geburtsstunde des Palio schlug nach dem Sieg über die Florentiner im Jahr 1260. Die Madonna höchstpersönlich soll damals ihren Mantel über Siena gebreitet haben. Seitdem ehrt man sie mit einem Pferderennen.

    Siena liegt auf drei Hügeln und - wie die meisten Etruskersiedlungen -fernab einer Wasserstraße. Schutzmauer und Stadttore sind bis heute erhalten.
    "Cor magis tibi Sena pandit. Weiter noch als dieses Tor öffnet Siena dir sein Herz",
    lautet die ironische Inschrift auf dem Nordttor, der Porta Camollía. Zu diesem Zeitpunkt erlitt Siena gegen die Erzrivalin Florenz eine Niederlage, von der es sich nicht mehr erholte.

    "Wer in Siena geboren ist, findet den Palio in der Wiege."

    "Von Geburt an", erklärt Signor Piazzesi, "wird ein Contradaiolo fest in das Contradenleben integriert. Wenn ein Kind geboren wird, gratuliert noch vor dem Vater eine Abordnung der Contrade, also des Stadtteils, mit Blumenstrauß und Halstuch."

    Die anschließende Ziviltaufe besiegelt die lebenslange Zugehörigkeit zur Contrade.

    Mehr als 40 Jahre sind seit meinem ersten Palio vergangen. Die Rituale sind immer noch die gleichen: Am dritten Tag vor dem Wettkampf ist Auslosung der Pferde vor dem Rathaus. Doch die Zulassungsbedingungen sind seit einigen Jahren verschärft: auf der gefährlichen Piste dürfen nur noch Halbblüter ab fünf Jahren teilnehmen! Aus den 22 Pferden, die von den Tierärzten für paliotauglich befunden wurden, suchen die Capitani, die Regenten eines Stadtteils während des Palio, 10 Pferde für das Rennen aus.
    Nun zieht der Bürgermeister Nummern und Namen der teilnehmenden Contraden feierlich aus je einer Lostrommel.

    Leopoldo Marenga, geboren in der Contrade des Panthers, kommt in den vier Paliotagen extra aus Livorno.

    "Wir haben das Pferd bekommen, das die größten Chancen hat den Palio zu gewinnen. Wir sind überglücklich, dass das Schicksal uns dieses Pferd gab!"

    "Wir haben Gegner, die den Palio missbrauchen und sensationell aufbauschen. Wir möchten das mittelalterliche Gepräge des Palio bewahren. Wir haben viele Feinde, wie zum Beispiel die Tierschützer, die behaupten, dass wir die Pferde dopen und sie in den Tod treiben. Sie verwechseln den Palio mit einem Stierkampf. Beim Palio ist das Pferd ein Held, ein Sieger. Es kann sogar ohne Fantino gewinnen!"

    Gleich hinter der Piazza del Campo residiert eine mächtige Institution: das Schutzkomitee des Palio, gegründet 1982, als Tierschützer das Pferderennen abschaffen wollten. Senio Sensi ist verantwortlich für die Medien. Kein Bild kommt ohne seine Genehmigung ins Fernsehen. Seit 2004 besitzen die Farben und Embleme der Stadtviertel ein staatlich geschütztes Copyright. Kein Souvenir geht über den Ladentisch ohne die Zustimmung des Komitees.

    "Manche nennen uns die Sittenwächter des Palio. Nein. Wir versuchen lediglich ein Fest zu bewahren, das der ganzen Welt gehört. Wir wollen nicht, dass der Palio in den Schmutz gezogen wird!"

    Neuerdings gibt es ein Pensionat, wo ehemalige Paliopferde ihr Gnadenbrot erhalten, und eine Probepiste, die dem Campo exakt nachgebildet ist.
    Nach den abendlichen Proberennen gehen wir zurück in die Contrade. Wir sitzen an langen Tischen auf der steilen Straße, lassen uns mit Pasta verwöhnen, und der fette Mond über San Domenico schaut zu, wie der Rote in Strömen fließt und die Männer die Contradenhymne schmettern.

    Der Tag vor dem Palio. Nach dem ersten Böllerschuss werden die Pferde zur Piazza geführt. Die Spannung steigt.
    Aufzug der berittenen Carabinieri in ihren schmucken schwarzen Uniformen. Erst im Schritt, dann im Trab - und dann der Moment, wo der Hauptmann den Säbel zieht, und auf dieses Zeichen hin die Männer hinter ihm in gestreckten Galopp fallen und mit hoch gerecktem Säbel um die Piazza jagen.

    Immer wieder flammt der Schlachtgesang auf:

    "Ob freiwillig oder mit Gewalt - wir fordern Respekt!"

    Plötzlich entwickelt sich ein Handgemenge zwischen zornentflammten Jünglingen. Wir Frauen ziehen uns auf den Platz zurück. Notfalls werden wir unsere Halstücher in den Contradenfarben in die Tasche versenken.

    Und dann ist der Tag des Palio da. Um 15 Uhr versammeln sich die Mitglieder der Gans vor dem Haus der Heiligen Katharina zur Segnung ihres Pferds.

    Neben mir bricht eine Frau verzweifelt zusammen, denn diesmal hat der Stadtteil der Gans einen Zockelgaul gelost und der gegnerische Turm ein feuriges Roß. Priester Don Mauro schreit eine Beschwörungsformel. "Als Sieger kehre heim..."

    Bei meinem ersten Palio stand ich noch mitten im Hexenkessel der Piazza del Campo, umringt von Zehntausenden Menschen. Diesmal verfolge ich das Rennen vom Dachgeschoss des Stadtarchivs aus. Zwei Stunden lang dauert der historische Umzug. Die Männer der Contraden schreiten in farbenprächtigen Kostümen fahnenschwingend über die Rennpiste.

    Immer wieder werden Ohnmächtige von Sanitätern vom Platz getragen. Bei all diesem furchterregenden Gewimmel - die Veranstalter haben das Geschehen im Griff. Es erstaunt mich immer wieder, dass keine Massenpanik ausbricht.

    Wieder wird gelost: Diesmal geht es um die Startposition. Über dem Platz breitet sich Stille. Alle halten den Atem an. Zwischen zwei Seilen reihen sich neun Pferde ein, werden immer wieder barsch in ihre Position gerufen. Das zehnte Pferd löst von hinten den Start aus.

    Die Jockeys peitschen die Pferde und prügeln die Gegner. In der abschüssigen Kurve San Martino prallen die rasenden Pferdeleiber gegen die Formel-1-erprobten Schaumstoffmatten.

    In der letzten Runde rutscht der Jockey der Giraffe vom Pferderücken - und trotzdem siegt der Stadtteil der Giraffe, ohne Reiter! Die Verlierer brechen in Tränen aus, werden ohnmächtig, gehen gedemütigt nach Hause. * Ich laufe zu einer Freundin aus der Siegescontrade, um ihr zu gratulieren. Sie nimmt ein riesiges rot-weißes Banner von der Wand und schwingt es im Kreise, immer wieder, wie in Trance.

    Bis zum Morgengrauen ziehen die Sieger durch die Stadt. Sie schwenken ihre Halstücher, saugen hektisch an Baby-Schnullern, die sie für den Fall des Sieges in der Schublade verwahren. Manch einer bindet sich sogar eine Windelhose um - im Palio zu siegen bedeutet neu geboren zu werden!