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Eine Stadt wie ein Flohmarkt

"Athen des Nordens" oder "Palermo an der Maas" - das belgische Lüttich hat viele Beinamen. Sein berühmtester Sohn ist der Krimiautor Georges Simenon, was sehr gut zu der anarchisch-gemütlichen Stadt passt, die wie eine Mischung aus Provinznest, Berlin-Kreuzberg und St. Pauli daherkommt.

Von Anna Stellmann und Michael Fischer | 15.02.2009
    "Wir sind hier an einer sehr wichtigen Stelle, denn hier ist unsere Stadt entstanden - und zwar durch einen Mord."

    Die zierliche graumelierte Frau, die auf dem Place Saint-Lambert im Zentrum der geschichtsträchtigen belgischen Universitätsstadt Lüttich ein paar Tauben füttert, deutet auf die Mitte des Platzes. Eigentlich haben wir sie nur nach dem Weg zum Stadtteil Outremeuse gefragt. Aber Aline Gilson erzählt uns erst einmal in fehlerfreiem Deutsch von dem "Wunder", wie sie es nennt, das genau auf dem Platz, auf dem wir gerade stehen, seinen Anfang nahm: in nur wenigen Jahrzehnten verwandelte sich im frühen Mittelalter die kleine Siedlung südlich von Maastricht und östlich von Aachen in eine der bedeutendsten Städte der 'niederen Lande'. In den Klöstern und Palästen florierten die Künste und Wissenschaften, was ihr den Beinamen "Athen des Nordens" eintrug.

    "Vor 1300 Jahren war hier an dieser Stelle nur ein Dorf. Der Bischofssitz war in Maastricht. Und der Bischof von Maastricht, Lambertus, der kam hierher, um die Heiden zu bekehren, das waren wir. Er ist bei einer Übernachtung ermordet worden. Es war ein Racheakt. Und was geschah? Es geschah ein Wunder. Die Leute kamen von überall an diese Stelle, wo der gute Lambertus ermordet wurde. Er wurde als heiliger Märtyrer gefeiert. Und sein Nachfolger, Hubertus, hatte die gute Idee, ihn hier beisetzen zu lassen. Und Lüttich wurde ein Pilgerort."

    Das Dorf gewann durch den Pilgerstrom so schnell an Bedeutung, dass Hubertus elf Jahre nach der Ermordung seines Vorgängers beschloss, den Bischofssitz von Maastricht nach Lüttich zu verlegen.

    "Und so sind wir durch den Mord an dem Heiligen Lambertus eine Stadt geworden. Das war im achten Jahrhundert und dann später im zehnten hat sogar der Kaiser, der nebenan in Aachen war, den Bischof zum Fürsten ernannt und deshalb haben wir auch hier den Bischofspalast, und hier an dieser großen leeren Stelle den Platz stand früher der Lütticher Dom."

    Natürlich blieb es nicht bei dem Bau des Domes, der der Französischen Revolution zum Opfer fiel. Unzählige Kirchen und Klöster zeugen bis heute von der Inbrunst christlicher Wallfahrer, die hier über die Jahrhunderte hinweg ihr Heil suchten, und Lüttich einen weiteren Beinamen eintrugen, die Stadt der 100 Glockentürme. Aline Gilson würde sie uns gerne zeigen, zumindest die nächst gelegenen, wir aber müssen weiter nach Outremeuse, einer kleinen Insel mitten in der Stadt, wo wir mit dem inoffiziellen Bürgermeister der selbsternannten "Republique libre Outremeuse", Jean-Denys Boussard, verabredet sind.

    Der Weg zur freien Republik führt an Belgiens längstem Markt, la Batte, vorbei. Kaninchen hocken in engen, übereinander getürmten Käfigen, Gänse, Hühner und Enten gackern und schnattern um die Wette. Obst- und Gemüsestände wechseln sich ab mit Auslagen für Plastikgeschirr, Putzmittel und Pantoffeln, dazwischen Fisch, Wein, Käse, Blumen Schallplatten, Bücher, Modeschmuck.

    Gegenüber von La Batte, das sich am Maasufer entlang schlängelt, liegt Outremeuse. Wir überqueren die große steinerne 'Brücke der Bögen'.

    Der Lauf der schmutzig-braun hindurch fließenden Maas, die in Frankreich entspringt und in Holland in die Nordsee mündet, führt mitten durch das Königreich Belgien. Der Fluss dient schon seit Jahrtausenden als Schnittstelle verschiedener Kulturen. Erst trennte er das germanische vom romanischen Gebiet, später zogen irische Mönche vom Meer kommend stromaufwärts, um ihren christlichen Glauben zu verbreiten. Heute stellt er eine Art Verbindung zwischen den beiden entgegen gesetzten Polen dar, die das kleine Land zunehmend auseinander zu reißen drohen: den niederländisch sprechenden Flamen, die im Norden Belgiens leben und den im Süden des Landes wohnenden, französisch sprechenden Wallonen.

    In der Ferne erhebt sich die Silhouette der ältesten Schwerindustrieregion auf dem europäischen Festland. Ineinander verschachtelte Kraftwerke, Hochöfen, Fördertürme. Vieles davon ist heute nur noch Kulisse. Die Zechen sind alle stillgelegt.

    Ende des 18. Jahrhunderts wurde Lüttich als Cité Ardente berühmt, als glühende Stadt, weil hier die Wiege für Europas Kohle- und Stahlindustrie stand. Von hier breitete sich die Industrialisierung über den gesamten Kontinent aus. In Folge kamen viele Arbeiter aus Flandern und Nordafrika, vor allem aber aus Italien, was Lüttich einen weiteren Beinamen eintrug "Palermo an der Maas".

    Später assoziierten die Belgier mit diesem Beinamen vor allem die politischen Skandale, die die Stadt immer wieder erschütterten.

    Durch den Zusammenbruch des Kohlebergbaus und die anschließende Stahlkrise verloren viele Menschen ihre Arbeit. Der Stahlkonzern Cockrill beschäftigte einmal 60.000. Seit den Massenentlassungen der 80er-Jahre sind es nur noch ein paar Tausend. Nur ein Unternehmen floriert nach längerer Krise wieder: der Waffenhersteller Fabrique Nationale, Regierungen aller Welt bekannt unter dem schlichten Kürzel FN, produziert im Lütticher Arbeitervorort Herstal das Allerheiligste belgischer Ingenieurskunst. Lüttich bildete Jahrhunderte lang die Metropole der Waffenproduzenten und Waffenhändler.

    Das Büro und Archiv des inoffiziellen Bürgermeisters von Outremeuse liegt direkt am Ende der Brücke. Ein untersetzter weißhaariger Mann in einem dunkelblauen Cape, das hervorragend in Geschichten von Charles Dickens passen würde, öffnet uns die Tür. Um Jean-Denys Boussards Hals baumelt an einer langen Kette eine handtellergroße Sonne.

    Drinnen empfängt uns ein unglaubliches Durcheinander. Akten quellen aus Schränken, Bücher stapeln sich auf Stühlen und dem Boden und lassen nur noch wenige schmale Durchgangspfade frei, Heiligenstatuten - natürlich auch der heilige Lambertus - drängen sich auf Stelltischen, Marionetten hängen von der Decke oder sitzen vereinzelt in den Regalen, eingeklemmt zwischen den Büchern. Die wenigen Wandflächen ohne Regale und Schränke sind tapeziert mit Plakaten, alten Gemälden, Heiligenbildern und Hirschgeweihen, an denen wiederum Mützen aller Art baumeln.

    Auf einem der Regalbretter, die die einzigen beiden Fenster durchziehen, sitzt eine Marionette mit großer roter Nase und einem blauem Bauernkittel. Das sei Tchantchès, erklärt Jean-Denys Boussard, bahnt sich vorsichtig einen Weg zu ihr und nimmt sie zärtlich in die Hand. Besucher würden Tchantchès für einen Mythos oder, noch schlimmer, nur für eine berühmte Marionettenfigur halten, aber für die Lütticher sei Tchantchès ein Junge aus Fleisch und Blut, redselig, rebellisch und trinkfest, ein wahrer Lütticher eben.

    " Sie sind verrückt, die Lütticher. Sie haben einen Hauch von Wahnsinn geerbt. Das macht unsere Originalität aus, die die Leute von weither anzieht. "

    Tchantchès bedeutet François auf wallonisch, der alten Sprache der Lütticher.

    "Das ist kein französischer, sondern ein romanischer Dialekt. Er stammt, wie das Französische, vom Latein ab. Er ist der Bruder der französischen Sprache, der bei den politischen Umwälzungen im Mittelalter auf der Strecke blieb. Wenn Karl der Große anders entschieden hätte, würde heute in Paris Wallonisch gesprochen, Wallonisch hätte den Platz des Französischen eingenommen."

    Um uns den Unterschied zum Französischen zu demonstrieren, singt Jean-Denys Boussard ein Lied auf Wallonisch über einen zum Tode Verurteilten, der seine Geliebte tröstet.

    Der "Sammler von Atmosphären", wie Boussard sich selbst nennt, stopft die Marionette wieder zurück ins Regal, und wir begeben uns auf einen Spaziergang durch Outremeuse. Großes Vorbild der freien Gemeinde, die 1927 von einigen Journalisten und Bürgern ausgerufen wurde, mit Präsident, Bürgermeister und Ministern, war und ist die freie Gemeinde Montmartre in Paris. Hier wie dort gaben lange Zeit vor allem Künstler den Ton an. Wie zum Beispiel die Bohème-Clique La Caque, in der Georges Simenon seinerzeit Mitglied war.

    Der Autor von Inspektor Maigret wuchs in Outremeuse auf. Die Stadt - und natürlich ganz besonders sein altes Viertel - zehren bis heute von seinem Ruhm, obwohl der berühmte Autor der Maigret-Romane Lüttich mit 19 Jahren verließ und nach Paris zog. Zum Ausgleich schickte er seinen eher reisemuffeligen Inspektor einige Male aus Fahndungsgründen in seine alte Heimatstadt

    Wir stehen vor einem kleinen Haus in der Rue des Ecoliers. Jean-Denys Boussard öffnet die Türe mit einem großen altmodischen Schlüssel. Dahinter öffnet sich ein langer, enger Gang. Über steile Treppen gelangen wir in einen kleinen, grau gestrichenen Raum, an dem Fotos der Mitglieder der Gruppe hängen. Im Nebenzimmer sitzen lebensgroße, im Stil der damaligen Zeit angezogene Puppen um einen Tisch herum. An der Wand steht ein Klavier. Eine der Puppen spielt darauf.

    Weil der Raum so klein war und die Leute so eng aufeinander saßen wie Heringe in einem Fass, nannte die Clique ihren Treffpunkt La Caque, also Heringsfass. Sie sehen hier die Freunde von Simenon und ihn selbst. Sie nannten sich die letzten Romantiker von Lüttich, die Freunde der Apokalypse. Sie spielten Karten, tranken, nahmen Drogen und sangen. Sie philosophierten, sie wollten die Welt verändern.

    Als wir wieder auf der Straße sind, öffnet sich vor uns unvermittelt eine Lokaltür und wir werden zum Tanzen aufgefordert. Die alkoholgeschwängerte, aufgekratzte Stimmung, die uns von drinnen entgegenschlägt, weckt Assoziationen von zwei Uhr nachts statt der tatsächlichen zwei Uhr am Nachmittag.

    Zwei Straßen weiter bleiben wir vor dem hohen Eingang der im frühgotischen Stil errichteten Pfarrkirche Saint-Pholien stehen. Hier wurde im März 1922 einer von Simenons alten Freunden, ein gewisser Joseph Kleine, an der Türklinke des Portals erhängt aufgefunden, erzählt Jean-Denys Boussard. Simenon ließ sich von seinem Tod zu dem Maigret-Roman 'Der Erhängte von Saint-Pholien' inspirieren. Die Polizei deklarierte den Fall damals als Selbstmord, aber es gäbe auch andere Versionen.

    "Die alten Freunde von Simenon haben mir erzählt, dass er sich nicht erhängt hat, sondern dass er erhängt wurde. Klein war drogensüchtig und hat andere betrogen, um sich seine Drogen zu finanzieren. Die Betrogenen haben ihn eliminiert und die Polizei hat den Fall nie wirklich untersucht. Man war froh, ihn los zu sein."

    Dass der berühmteste Lütticher ausgerechnet ein Krimiautor ist, passt sehr gut zu der anarchisch-gemütlichen Stadt, die wie eine Mischung aus Provinznest, Berlin-Kreuzberg und St. Pauli daherkommt. Aus diesem Grund müssen wir natürlich auch der Lütticher Polizei einen Besuch abstatten, wo wir mit Kriminalkommissar Karl-Heinz Vomberg verabredet sind. Um dorthin zu gelangen, überqueren wir wieder die 'Brücke der Bögen', nach der Simenon seinen ersten 1920 veröffentlichten Roman benannte.

    Seine Großmutter habe diese Brücke nur zwei Mal in ihrem Leben überquert, erzählt Jean-Denys Boussard, der uns noch ein Stück begleitet. Zu ihrer Hochzeit und 50 Jahre später zur Goldenen Hochzeit. In Outremeuse fand sie alles, was sie brauchte, der Rest der Stadt war ihr fremd. Während Boussard erzählt, begrüßt er immer wieder Leute, die uns entgegen kommen. Eine von ihnen ist die ehemalige grüne Europaabgeordnete Brigitte Ernst. Sie war gerade einkaufen auf "la Batte."

    "Jede Woche kommen um die 100.000 Leute aus Maastricht, Aachen, Eupen und Luxemburg hierher, um einzukaufen, aber auch, um mit uns in den umliegenden Kneipen zu trinken und zu singen."

    Die kleine Frau mit den kurz geschnittenen blonden Haaren nickt zustimmend.

    "Lüttich ist wie ein Flohmarkt voller scheußlicher Sachen. Aber mitten drin finden Sie plötzlich, was Sie schon immer gesucht haben. Die Stadt ist dreckig, schlecht verwaltet, aber es gibt sie schon seit sehr langer Zeit. Und wenn man ein bisschen kratzt, findet man geniale Orte."

    Aber sie ärgere sich darüber, wie sehr die Stadt herunter gewirtschaftet werde. Das beste Beispiel sei die neue Autobahn um Lüttich herum.

    "Dafür ist man sogar bereit, 400 Millionen € zu investieren, obwohl die meisten Leute den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrsnetzes vorziehen. Die Autobahn ist vollkommen unnütz, weil es in 30 Jahren eh kein oder kaum noch genügend Benzin geben wird. Bürgerinitiativen kämpfen dagegen, aber in Lüttich wird nur ganz selten etwas öffentlich diskutiert, nicht einmal im Gemeinderat. Die wichtigen Entscheidungen werden nicht auf demokratische Art getroffen, sondern in den wallonischen Machtzirkeln im Stil der Freimaurer. Die sind noch wichtiger als die Kreise einflussreicher Bürger, die sich in dem Club Grand Liege oder der Literarischen Gesellschaft zusammengeschlossen haben."

    Trotzdem sei das politische Leben Lüttichs nicht mehr so undurchsichtig wie noch vor 17 Jahren. Die seit Jahrzehnten regierende sozialistische Partei habe die Stadt lange wie eine Mafia kontrolliert. Anfang der 90er Jahre zerbrach das System -bezeichnenderweise nach einem Mord. Am 18. Juli 1991 erschossen zwei Männer auf einem Motorrad den damaligen Vorsitzenden der wallonischen sozialistischen Partei, André Cools, als er das Haus seiner Freundin verließ.

    Der vermutliche Auftraggeber, Cools Freund und Parteikollege Alain Van der Biest, verübte 2002 Selbstmord, erzählt Kriminalkommissar Karl-Heinz Vomberg, nachdem wir uns von Jean-Denys Boussard und Brigitte Ernst verabschiedet haben. Das riesige Gebäude, in dem uns der aus Belgiens deutschsprachigen Ostkantonen stammende Kriminalkommissar empfängt, wirkt wie ein missratener Zwitter zwischen Lagerhalle und Krankenhaus.

    "Ich denke mal, dass man heute behaupten kann, dass die Tat zum Großteil aufgeklärt wurde. Es waren ja ganz schwierige Ermittlungen, weil die Täter in Italien angeworben wurden, und aus Nordafrika stammten. Ich denke, wir haben so ungefähr alle Tatbeteiligten festnehmen können. Das einzige, was immer im Unklaren geblieben ist, waren die eigentlichen Motive."

    Dazu gibt es bis heute nur verschiedene Theorien. Eine besagt, der wallonische Minister Alain Van der Biest habe sich des übermächtigen Schattens seines Ziehvater Cools entledigen wollen.

    Eine andere geht davon aus, dass Cools in eine Reihe von Bestechungsskandalen verwickelt war, die ihm schließlich das Leben kosteten. Genaues wurde jedoch nie bekannt.

    Dennoch oder vielleicht auch deshalb entwickelte sich der Fall 'Cools' zu einer Art Synonym für die Jahrzehnte lang bestehende Hinterzimmerpolitik Belgiens. Zugleich stelle der Fall 'Cools' einen Wendepunkt in der Geschichte der Stadt dar. Das heruntergekommene Industriegebiet bilde noch immer einen idealen Nährboden für die organisierte Kriminalität, räumt Karl-Heinz Vomberg ein, aber die Politik ließe sich von ihr nicht mehr so leicht korrumpieren. Der Kriminalkommissar ist Mitarbeiter einer Sonderkommission, die gerade die Machenschaften der albanischen Mafia in Lüttich untersucht. Sie handeln mit allem, was Geld bringt: Waffen, Drogen, Autos, gefälschten Papieren und vor allem mit Frauen, die sie zur Prostitution zwingen.

    Nach unserem Besuch bei Kriminalkommissar Karl-Heinz Vomberg kehren wir im Olivetti ein. Es ist später Nachmittag, die Luft ist zum Schneiden dick vor lauter Rauchschwaden. Die Gäste sitzen dicht gedrängt wie die Heringe um kleine Tische herum und lauschen einer blondierten Dame um die 70, die - begleitet von einem Klavierspieler - voller Inbrunst ein Lied nach dem anderen in das völlig übersteuerte Mikrofon schmettert. Das Publikum ist begeistert, trotz, vielleicht auch gerade wegen der vielen schiefen Töne. Die Wände sind gepflastert mit Photos von singenden Gästen.

    Mit an unserem Tisch sitzt ein ca. 40-jähriger Mann mit wild zerzausten Haaren. Er kommt uns irgendwie bekannt vor. Als er seinen Namen nennt, wissen wir warum. Der Mann mit dem jungenhaften Gesicht ist Bouli Danners, neben den aus Lüttich stammenden zweifachen Cannes-Siegern Jean-Pierre et Luc Dardenne einer der neuen Hoffnungsträger des belgischen Kinos. Lüttich spiele in all seinen Filmen eine Rolle, erzählt uns der Schauspieler, Drehbuchautor und Filmregisseur, der auf der Maas in einem Hausboot lebt. Das gelte vor allem für seinen neuen Film Eldorado, der dieses Jahr in Cannes vorgestellt wurde.

    "In meinem nächsten Film ist die Beziehung noch enger. Alles fängt mit einer Geschichte an, die ich erlebt habe, und die wirklich typisch für Lüttich ist. Ich bin eines Tages nach Hause gekommen und habe dort zwei Einbrecher überrascht. Der eine hatte sich unter dem Bett versteckt, der andere hinter der Eingangstüre. Es gab Diskussionen, und schließlich saßen wir an meinem Tisch und rauchten einen Joint. Dann sind sie gegangen. Ich glaubte, wir wären Freunde geworden. Aber zwei Monate später sind sie wiedergekommen und haben alles mitgenommen. Mit dieser Szene beginnt mein Film über diese Art von Beziehungen, wie sie nur in Lüttich möglich sind."

    Lüttich, seit jeher kulturelles Zentrum von Wallonien, ist in ganz Belgien bekannt für seine engagierte Filmszene. Die Stadt mit nur knapp 200.000 Einwohnern beherbergt mehr Programmkinos als die Brüssel.

    Am Ende unseres Spaziergangs stehen wir wieder auf dem weitläufigen St.-Lambertus-Platz, den bis zur französischen Revolution fast vollständig der Dom zu Ehren des heiligen Lambertus ausfüllte. Heute zeugen nur noch einige Metallkonstrukte auf den Stellen der ehemaligen Säulen von dem riesigen, romanischen Bauwerk. Dazwischen ist eine künstliche Wiese angelegt, auf der Kinder Hockey spielen. Ein paar Eltern stehen am Rand mit einer Dose Bier und unterhalten sich.

    Einer von ihnen ist Louis Maraite, Chefredakteur der größten Tageszeitung von Lüttich. Der joviale Mann ist ehrenamtlicher Präsident des Lütticher Tennis- und Hockey Clubs und natürlich Fan des Fußballklubs der Stadt. Endlich, nach 25 Jahren, hat Standard Lüttich endlich wieder die Belgische Meisterschaft gewonnen, verkündet Louis Maraite stolz. Damals hatte es - wieder einmal - einen Skandal gegeben.

    "Wir waren Meister, fast sicher. Das letzte Spiel mussten wir gewinnen. Und der Trainer hat das Spiel gekauft. Der wollte die Sache sicher sein. Und das kam dann raus. Das war noch ein Skandal, bevor die Politiker begannen."

    Das alles sei lange her, heute gäbe es keine Skandale mehr in Lüttich, winkt Louis Maraite ab. Dann fährt er fort, über seinen geliebten Fußballclub zu erzählen

    "Der Präsident oder Eigentümer des Clubs ist ein Italiener der zweiten Generation, sehr sympathisch und auch ein bisschen bekannt im Fußball-Milieu. Man sagt den Namen Mafia nicht, es ist keine Mafia, es sind aber Kontakte."

    Ganz ohne Mafia oder "Kontakte" geht es eben doch nicht in Lüttich ...