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Eine unerschrockene Journalistin

Journalist zu sein ist in Russland ein gefährlicher Beruf. Das weiß Elena Milaschina nur zu gut. Fünf ihrer Arbeitskollegen von der Zeitung "Novaja Gaseta" wurden bereits ermordet. Milaschina führt die Arbeit ihrer Kollegen trotz großer persönlicher Risiken fort.

Von Julia Smilga | 13.11.2010
    Eigentlich wollte Elena Musikjournalistin werden. Doch ihre erste Berichterstattung in der Zeitung "Novaja Gaseta" war über den Untergang des U-Boots Kursk. So stieg Elena Milaschina sofort in den investigativen Journalismus ein. Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Dieselben zehn Jahre, die Wladimir Putin in Russland an der Macht ist. Milaschinas Rückblick ist bedrückend:

    "Ich glaube, dass seit Wladimir Putins Machtübernahme die Gesellschaft mit immer stärkeren Mitteln eingeschüchtert wurde. Nach jedem Terroranschlag - meiner Meinung nach waren es politische Terroranschläge - nutzte die Macht die Angst in der Gesellschaft, um antidemokratische Reformen durchzuführen. Nach Wohnhausexplosionen 1999 begann der zweite Tschetschenische Krieg. Nach der Geiselnahme im Moskauer Theater 2002 wurde das unabhängige Fernsehen im Lande eliminiert. Nach der Geiselnahme in Beslan 2004 wurden die unabhängigen Wahlen der Gouverneure und langsam auch der Bürgermeister abgeschafft. Die Macht nutzte jede Konsequenz mit dem Resultat, dass es heute in Russland keine demokratischen Kräfte mehr gibt."

    Ob die Missstände im Land, die Tragödie von Beslan oder der Mord an der Menschenrechtaktivistin Natalia Estemirova - Elena Milaschina nimmt kein Blatt vor den Mund. Was in der russischen Medienlandschaft nicht selbstverständlich ist. Hier gibt es kaum unabhängige Radio- und Fernsehsender :

    "Die führenden Fernsehkanäle bekommen aus dem Kreml sogenannte Themensammlungen zugeschickt. Darin steht, welche Ereignisse wie präsentiert werden müssen und welche Politiker auf den Bildschirm dürfen. Manche Oppositionspolitiker dürfen seit Jahren nicht mehr gezeigt werden."

    Die Zeitung " Novaja Gaseta” gehört zu den wenigen noch unabhängigen Printmedien. Hier werden Menschenrechtsverbrechen in Tschetschenien aufgedeckt., es wird Kritik an den Mächtigen geübt und offen über die mangelnde demokratische Entwicklung in Russland diskutiert. Der Mut hat seinen Preis - in den letzten zehn Jahren sind fünf Journalisten von der Zeitung ermordet worden. Keines der Verbrechen wurde bisher aufgeklärt, was wohl "von oben" gewollt sei, meint Elena Milaschina

    "Alle unabhängigen Untersuchungen stoßen auf eine unüberwindbare Mauer des nicht funktionierenden Rechtssystems. Und das ist die klare Position der Justiz – eine Sabotage jeglicher polizeilicher Untersuchungen, ein Widerwille, nach den Schuldigen zu suchen. "

    Das prominenteste Anschlagopfer war Anna Politkovskaja, die unerschrocken über Menschenrechtsverfolgung in Tscheschenien berichtete. Mit ihrem Mord verstummte die wichtigste Stimme des tschetschenischen Volkes. Jetzt weiß die Welt kaum etwas über die Situation in der kleinen Kaukasusrepublik. Jelena Milaschina ist eine der wenigen Journalistinnen, die über die tatsächliche Lage in Tschetschenien berichtet:

    "Es gibt keinen Krieg mehr, keine nennenswerte Partisanenbewegung. Doch wird in Tschetschenien jeden Tag, jede Minute Terror gegen das Volk ausgeübt. Die Menschen verschwinden durch Nacht und Nebelaktionen der russischen Spezialeinheiten. Sie werden gefoltert, um Informationen über die noch übrig gebliebenen Restkämpfer zu erhalten, und anschließend ermordet. Ganze Familien verschwinden aus ihren Häusern. Kein einziger Fall kommt vor Gericht. Die Menschen schweigen."
    Die totale Angst in der Gesellschaft zu schüren, das sei wohl auch das Ziel der Morde an ihren Kollegen gewesen, vermutet die Journalistin. Man soll in Russland Angst haben, die Wahrheit zu sagen. Elena Milaschina fürchtet sich seltsamerweise nicht:

    "Bei uns sind alle schutzlos. Niemand weiß, wer morgen unter die Walze gerät und zum Opfer des Systems wird. Und ich versuche, mit meinen Artikeln den Menschen zu erklären: Sorgt Euch bereits jetzt um die anderen Opfer, wartet nicht, bis es Euch trifft! Das ist mein Credo. Es geht mich alles an. Der Untergang von Kursk ist mein Untergang. Der Terroranschlag in Beslan ist mein Anschlag und alle dort umgebrachten 186 Kinder sind meine Kinder! Es ist meine Sache, was in Tschetschenien passiert und es ist meine Aufgabe, die Arbeit der Ermordeten Anna Politkovskaja und Natacha Estemirova fortzusetzen."