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Eine unmögliche Liebe in Portugal

Die portugiesische Autorin Lidia Jorge beschreibt in ihrem Buch "Milene" die Geschichten zweier Familien, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Familiendynastie der Leandros besitzt alles, was eine ehrwürdige Familie in Portugal auszeichnet. Ganz anders der Familienclan der von den Kap Verden stammenden Familie Matas. Zwei Welten treffen aufeinander, wenn Lídia Jorge die spannende Geschichte einer unmöglichen Liebe erzählt.

Von Stefan Fuchs | 25.05.2006
    Wie sähe diese Welt aus, wenn die Menschen Kinder blieben? Wenn ihnen die Verbiegungen und Verhärtungen erspart blieben, die man gemeinhin Erwachsenwerden nennt? In Lídia Jorges Roman "Milene" sind Schönheit und Glück untrennbar verbunden mit der kindlichen Fähigkeit zu Erfahrungen diesseits der verhärteten Identitäten. Die Titelfigur Milene ist eine zerbrechliche und linkische Frau mit autistischen Zügen, immer in Gefahr, sich selbst zu verlieren. Nach den Maßstäben der Erwachsenenwelt gilt sie als zurückgeblieben. Aber gerade deshalb besitzt die Dreißigjährige diese Unbedingtheit in ihren Gefühlen, ist mit jener Hellsichtigkeit ausgestattet, wie sie nur Kinder haben.

    Wenn Milene gekonnt hätte, dann würde sie von keinem Menschen etwas verlangen, zu keinem Menschen etwas sagen, nur tun, was die Natur und das Leben von ihr erwarteten. Wenn sie gekonnt hätte. Aber sie konnte es nicht, sie fand sich nicht aufgeweckt genug. Wohl aber konnte sie vermeiden, Böses oder Finsteres dort zu vermehren, wo es schon vorhanden war. (..) sie war unbewusst zu dem Schluss gekommen, dass gute Menschen nicht stark waren und starke nicht gut, doch während es sehr schlechte schwache Menschen gab, waren ihr sehr starke gute Menschen noch nie begegnet. Aber warum nicht? Was hatte Güte mit Stärke zu tun? Stießen sie sich etwa gegenseitig ab?

    Milene ist eine späte Reinkarnation des Schlemihl aus Chamissos fantastischer Novelle, eine nahe Verwandte all jener Weltfremden der Romantik, die unentwegt über ihre zu großzügig geschnittenen Seelen stolpern. Ihre Existenz verdankt sie der Mesalliance ihres verstorbenen Vaters mit einer Stewardesse. In der Familiendynastie der Leandros gilt er seither als schwarzes Schaf. Zu Ansehen und Reichtum kam die Familie durch eine Konservenfabrik, die der Großvater vor nahezu einem Jahrhundert in Santa Maria de Valmares bauen ließ. Milenes leichtsinniger Vater aber hatte das Familienjuwel während der Nelkenrevolution rebellierenden Arbeitern übereignet.

    Er war zum Schluss gekommen, dass es keinen Sinn hatte, gegen den Wind der Geschichte zu kämpfen, und an einem Septembermorgen im Jahr 1975 übergab er die Schlüssel der Fabrik den neuen Verantwortlichen. Es wurde noch schlimmer. Er hatte sich vorgenommen, sich dazu uneingeschränkt zu bekennen, weshalb er den Arbeitern den Schlüssel auf einem Samtkissen überreichte, auf dem handgestickt das Wort LEANDRO stand.

    Mit dem Schauplatz des fiktiven Valmares kehrt Lidia Jorge an den Ort ihrer Kindheit im tiefen Süden Portugals zurück. Geboren im 4000 Seelen-Dorf Boliqueime im Hinterland der Provinz Algarve hat sie in nur drei Jahrzehnten die Verwüstung ihrer Heimat durch den entfesselten Massentourismus erleben müssen. Ihr Roman, der im portugiesischen Original "Der pfeifende Wind in den Kränen" heißt, thematisiert auch die kafkaesken Züge der Bauspekulation in einer Region, wo meist britische Immobilienagenturen nicht eher ruhen werden, bevor sich nicht auch der letzte Schafsstall in ein Ressorthotel verwandelt hat. Und natürlich wird auch das unmittelbar am Strand gelegene, inzwischen leer stehende Fabrikgebäude der Leandros ein Objekt ihrer Begierde.

    Der Holländer war zu dem Schluss gekommen, dass es noch andere Paradiese auf der Welt gab. Das Geld, das er in Mar de Prainhas schnell verdienen würde, konnte er in ein anderes Paradies investieren. Wenn es schon ums Zerstören ging, dann wollte er auch alles abreißen. Zwei Wochen lang würde man die Sprengung vorbereiten und innerhalb von fünfzehn Sekunden würde die Alte Fabrik in sich zusammenfallen. Sie stand unter Denkmalschutz und in einem Naturschutzgebiet, es musste also heimlich gemacht werden.

    Aber in der verlassenen Fabrik der Leandros gibt es inzwischen neues Leben. Der Familienklan der Matas hat sich dort eingemietet, Kapverdianer, die der Armut und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat entflohen sind und im ehemaligen Mutterland Portugal ihr Glück suchen. Als Gegenpol und alternativen Lebensentwurf zu der in Villen und Penthäusern residierenden und durch Interessenkonflikte zerrissenen Dynastie der Leandros zeichnet Lidia Jorge das Leben dieser Einwandererfamilie aus Afrika. Der lange Weg, den die Matas von den Kapverdischen Inseln, bis nach Europa zurückgelegt haben, scheint erfolgreich. Einer der ihren macht eine Fernsehkarriere als Sänger. Man hat das Einwandererghetto hinter sich gelassen und das leer stehende Fabrikgebäude gemietet. Aber sozialer Aufstieg bedeutet auch Entfremdung. Einer der Söhne verstrickt sich im Drogenhandel. Die Rückkehr nach Afrika, von der die Großmutter träumt, ist schon aus finanziellen Gründen ausgeschlossen.

    Warum gaben sie soviel Geld für nutzlose Dinge aus? Allein an Uhren gab es im Haus fünfundzwanzig, sie hatte sie gezählt. Für Schallplatten, Zeitschriften, Fotos? Ganze Wagenladungen voll von völlig nutzlosem Zeug. Puppen hatten ihre Urenkelinnen so viele, dass sie nicht mehr mit ihnen spielten, sie in ihren Armen wiegten oder anzogen, sie zählten sie nur noch. Sie waren Sklaven von all dem und deshalb waren sie Sklaven der Orte, wo sich all diese Dinge befanden.

    Eine harte Trennungslinie läuft in der Darstellung Lídia Jorges durch diesen Süden. Allen Vorurteilen von einem weichen Multikulturalismus zum Trotz, der die portugiesische Gesellschaft auszeichne, stehen sich in der von Baustellen übersäten und durch Schnellstraßen zersägten Ferienlandschaft zwei feindliche Welten gegenüber. Das alte Portugal der Leandros hinter seiner großbürgerlichen Fassade reagiert mit Ressentiments auf den Verlust der Kolonien und den Prozess der politischen Demokratisierung. Das Portugal der Einwanderer dagegen prägt die Angst, im Labyrinth unverständlicher Regeln anzuecken, die emotionalen Bindungskräfte der Familie in der Hektik des sozialen Aufstiegs zu verlieren. Milene, dem "großen Kind" in der Tradition der Romantik, fällt im Roman die "mission impossible" zu, diese Parallelwelten miteinander in Beziehung zu bringen. Wie Lackmuspapier macht ihre Liebe zum dunkelhäutigen Bauarbeiter Antonio Mata den untergründigen Rassismus sichtbar.

    "Küss mich", bat Milene. Sie standen in der Umgebung des Hotels Cálamo, die dunkelgrünen Klebsamenbüsche bildeten eine Hecke um sie herum. Er (..) streichelt ihr den Arm, küsste sie aber nicht. "Wenn wir unsichtbar wären.." Ja, wenn wir unsichtbar wären, würden wir sofort im Mãos Largas essen gehen. (.) Milene schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, sah er sie entsetzt an. "Das ist sehr gefährlich, Milene, wenn wir hier bleiben. Ich will dich nicht erschrecken, aber ich habe schon viele Filme wie diesen gesehen. Die nehmen alle kein gutes Ende.
    Und tatsächlich wird auch diesem schwarz-weißen Paar Gewalt angetan, wenn auch nicht so offen wie in den einschlägigen amerikanischen Filmen. Unter einem Vorwand lockt man Milene in eine Privatklinik und nimmt eine Sterilisation an ihr vor. Ihre Ehe, die sie mit Antonio am Ende eingehen kann, wird kinderlos bleiben, der Verbindung unterschiedlicher Kulturen hat man die Zukunft geraubt.

    Lídia Jorge entwickelt diese spannende Geschichte einer unmöglichen Liebe, als sei sie das Ergebnis eines vielstimmigen kollektiven Erzählens. Gerüchte, Hörensagen, was sich Frauen beim Kochen und Einkaufen erzählen, lagert sich in dichten Schichten ab, die von der Autorin vorsichtig sondiert werden, unter denen sie unermüdlich der Wirklichkeit nachspürt. Das wirkt auf den ersten Blick unprätentiös, ist aber hochartifiziell. Die Sprache schlägt bisweilen unvermittelt ins Lyrische um, die Zeichnung der Charaktere zielt immer auf symbolische Überhöhung, Gegenstände und Verrichtungen des Alltags nehmen unter dem mikroskopierenden Blick der Erzählerin einen Ausdruck des unentschlüsselbaren Geheimnisses an. Das ausdruckslose Starren der Dinge, die den Menschen etwas zuzuflüstern scheinen, ohne dass diese die Botschaft je verstünden, für Lídia Jorge folgt es aus dem Misslingen der Individuation. An diesem Geheimnis arbeitet sich ihr Schreiben ab.

    Weitere Information:
    Für "Milene" wird Lidia Jorge und ihrer deutschen Übersetzerin Karin von Schweder-Schreiner im Mai der internationale Literaturpreis "Albatros" der "Günter Grass Stiftung" verliehen, der in diesem Jahr zum ersten Mal verge-ben wurde. Der Roman umfasst 543 Seiten und ist im Suhrkampverlag zum Preis von 24 Euro 80 erschienen.