Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Eine verpasste Chance

Als Sportmediziner hat Wildor Hollmann zweifellos Geschichte geschrieben. Er machte Karriere an der Deutschen Sporthochschule in Köln, wirkte dort 1969 bis 1971 als Rektor, und er war Präsident des Deutschen und des internationalen Sportärzteverbandes in einer Zeit, in der die Sportmedizin zum integralen Bestandteil des Leistungssports avancierte. Nun, im Alter von 88 Jahren, hat der glänzende Rhetoriker ein Buch über sein bewegtes Leben geschrieben.

Von Erik Eggers | 31.07.2013
    Ein Buch, das auch Interessantes zur Dopinggeschichte birgt. Zum einen berichtet Hollmann über seine militärische Ausbildung im Weltkrieg. In der Luftkriegsschule in Wien habe es vor Nachtflügen stets die sogenannte "Fliegerschokolade" gegeben, die ausgezeichnet und unglaublich lange wach gehalten habe. "Sogar bei einem mehrstündigen Nachtflugdienst wurde man kaum müde. Selbst am Vormittag des nächsten Tages konnte man kaum einschlafen", schreibt Hollmann. Beigemengt war Pervitin, ein hochwirksames Methamphetamin, das in den 1950er Jahren von Sportärzten als "Prototyp" eines Dopingmittels bezeichnet wurde.

    Bemerkenswerter noch ist Hollmanns Begegnung mit Mike Agostini, einem für Kanada startenden Sprinter aus Trinidad. Dieser habe bei einem Spaziergang im Olympischen Dorf 1960 in Rom plötzlich in die Tasche gegriffen und ihm eine Handvoll blauer Kapseln präsentiert: "Doktor, kennst du diese Pillen? Davon wird man außerordentlich schnell", habe Agostini erläutert. Er, Hollmann, habe das nicht glauben können. Erst später habe er erfahren, dass es sich dabei um das Anabolikum "Dianabol" gehandelt habe, dem ersten Steroid-Klassiker im Leistungssport. Schon in Rom wären laut Agostini Anabolika im US-Leichtathletik-Team verbreitet gewesen.

    Agostini startete allerdings nicht in Rom. Deshalb fand diese Begegnung wohl schon 1959 bei den III. Panamerikanischen Spielen in Chicago statt, an denen Hollmann anlässlich eines Kongresses weilte – demnach war das CIBA-Präparat schon vier Jahre nach Entdeckung dieser chemischen Grundstruktur im internationalen Leistungssport angekommen. In Deutschland wurde es zu dieser Zeit noch klinisch erprobt.

    Die Verbreitung von Hormonen zur Leistungssteigerung machte Hollmann damals nicht öffentlich, zumindest nicht in der Zeitschrift Sportmedizin, die er seit 1959 als Chefredakteur betreute. Damit war eine frühe Chance verpasst, die deutschen Sportärzte darüber zu informieren. Es dauerte bis 1969, bis die Werferin Brigitte Berendonk mit ihrem Text "Züchten wir Monstren?" in der ZEIT die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisierte.


    ___
    Besprochenes Buch:
    Hollmann, Wildor: Ziel und Zufall. Ein bewegtes Leben. Sportverlag Strauß, Köln 2013, 390 Seiten, 44 Euro.