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Eine Vorahnung des armen Theaters der Zukunft

Bei den Sommerfestivals kommt Theater-Frankreich einmal im Jahr im Süden des Landes zusammen. Häufig entlädt sich dort, was sich vorher angestaut hat. Und das hat oft wenig mit Kunst zu tun, sondern mit den Bedingungen, unter denen sie entsteht - so es auch in diesem Jahr.

Von Eberhard Spreng | 22.07.2013
    Mit der Ankündigung überraschender Besetzungsentscheidungen hat die sozialistische Kulturministerin Aurélie Filippetti in der französischen Theaterszene Unmut erweckt. Sie will altgediente Theaterdirektoren schassen und bei Neubesetzungen eine von vielen als formalistisch und kunstfremd empfundene Frauenquote von 50 Prozent durchsetzen. Theater in Nizza, Montpellier und in Nanterre bei Paris sind derzeit Brennpunkte des Streits, in dem Meisterregisseur Patrice Chéreau in der Tageszeitung "Le Monde" mitten im Festival überraschend für die Kulturministerin Partei ergriff: Er unterstützt ihre Bemühungen um Erneuerung in den Leitungen und wirft den Kollegen vor, an ihren Chefsesseln zu kleben. Spätestens nach zehn Jahren sollte man sich verändern, sagte Chéreau in "Le Monde". Aurélie Filippetti nutze ihren Aufenthalt in der Festivalstadt, um dem Regisseur für seine mediale Unterstützung zu danken:

    "Patrice Chéreau ist ein großer Künstler, dem gerade in Aix en Provence mit "Elektra" eine grandiose Inszenierung gelungen ist. Sein Wort hat Gewicht und er ist frei in seiner Haltung. Natürlich bin ich glücklich, ja stolz, dass er meine Impulse in der Kulturpolitik unterstützt. Sie soll der permanenten Innovation in Kultur und Theater dienen."

    Der Präsident des französischen Theaterverbandes Francois le Pillouer sagte indessen, dass dem Theater aus einer ganz anderen Reform Ungemach droht: Sie könnte Regionen und Departements ermöglichen, sich aus der finanziellen Verantwortung für die Unterstützung der Kultureinrichtungen zurückzuziehen. So steht das Festival auch in diesem Jahr im Zeichen drohender Veränderungen, auf die eine wegen Personalien in sich zerstrittene Theaterszene nur schwer reagieren kann.

    Lear-Bearbeitung wird stellenweise zum Oratorium
    Vielleicht ist ein King Lear, den nur drei Schauspieler bestreiten und der nach gut eineinhalb Stunden vorbei ist, ungewollt eine Vorahnung des armen Theaters der Zukunft. Ludovic Lagarde konzentrierte sich im Boulbon-Steinbruch auf die zentrale Heide-Szene: Das Geschehen um die untreuen Schwestern wird über Lautsprecher eingespielt, die Akteure hören sie in Kopfhörern, die sie sich immer wieder von Kopf reißen, so als liefe da ein unerträgliches Radioprogramm. In die Tiefe des staubigen Spielraums hat Lagarde und sein Bühnenbildner Antoine Vasseur zahlreiche Lautsprecher gestaffelt. Ein Klangraum entsteht, die Lear-Bearbeitung wird stellenweise zum Oratorium.

    Leider spielt Johan Leysen die Titelfigur eher wie einen alten Buchalter, den man bei Unterschlagungen erwischt hat. Sein Lear ist traurig, depressiv, aber nicht tragisch. Die dramatische Fallhöhe ist in dieser fast ausschließlich auf die Kernszene eingedampften Inszenierung nicht erkennbar. 100 Minuten Langeweile, eine ungewöhnliche Erfahrung im ansonsten guten Programm dieses Jahres: So ist eine künstlerische Entdeckung der 26 Jahre junge Regisseur Julien Gosselin, der die erste französische Theaterbearbeitung des Houellebecq-Romans "Les Particules Élémentaires" mit jungen Schauspielern vorlegte. Die Truppe hielt sich in dieser ersten französischen Theaterfassung streng an den narrativen Faden der Vorlage und referiert die Geschichte um Vereinsamung und Elend in den Jahrzehnten der sexuellen Befreiung mit erfrischender Naivität und Unvoreingenommenheit. Da ist über weite Strecken der vierstündigen aber kurzweiligen Aufführung eine Generation zu erleben, die in der lakonischen Literatur eine große Ironie entdeckt.

    Einen starken Moment von Bühnenmagie entwickelte der nigerianische Choreograph Qudus Onikeku in "Qaddish", mit dem er sich mit seinem verstorbenen, noch in der Kultur der Yoruba verwurzelten Vater beschäftigt. Er konfrontiert dies dabei auch mit jüdischen Traditionen. Erbe und Abstammung sind Material für ein rituelles Tanzsolo, das in einem Pas de deux mit motorisierten Rollstuhl gipfelt. Der Stuhl, das mächtige afrikanische Symbol der Macht bewegt sich lautlos, wie beseelt auf der Bühne, provoziert den Tänzer, bedrängt ihn und lässt sich nicht beruhigen. Nie sah man auf der Bühne eine schönere Kommunikation mit einem Geist, nie eine humorvollere Hommage an die nie vergehende Vergangenheit.

    Mehr als die Theaterregisseure sind es in Avignon in allen Sektionen des Programms die Choreographen, die für eindrucksvolle Momente sorgen: "Au delà" des Kongolesen Delavallet Bidiefono, ein elektrisierendes Powerplay gegen den allgegenwärtigen Tod, Alain Platels Abschiedsgeschenk an die scheidende Leitung, die einmalige Wiederaufnahme von "Out of Context - for Pina", Pippo Delbonos musikalisch-literarisches "Amore e Carne". Zum Avignon-Allerlei dieses Jahres gehört aber auch ein kurioser Film: Thomas Ostermeier versucht sich als investigativer Journalist im Nahen Osten und fahndet nach dem Mörder von Juliano Mer Khamis, dem Gründer des Jenin Freedom Theatre. In Avignon ist eben alles möglich.


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    Internetseite des Festival d'Avignon