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Eine Vorgeschichte des "Wirtschaftswunders"

Wer zog in die Wohnungen deportierter jüdischer Mitbürger? Wer bekam die Druckerei, das Gasthaus, das Textilgeschäft? Eine Ausstellung in Nürnberg zeigt neue Einzelheiten der "Arisierungen" in Nazideutschland. Auch viele spätere Kaptiäne des "Wirtschaftswunders" gründeten ihren Erfolg auf bürokratischem Raub.

Von Wolf-Dieter Peter | 17.11.2012
    Billy Joel, Nürnberg und die NS-Zeit? Ja doch, 1995 kam Joel zu einem Konzert in die Stadt, die seine Großeltern 1934 verlassen mussten. Zuvor hatte der berüchtigte "Frankenführer" Julius Streicher mit seinem Hetzblatt "Der Stürmer" kontinuierlich gegen den "Wäschejuden Joel" gehetzt. Nach vier Jahren weiterer Drangsalierung verkaufte Großvater Karl Joel schließlich seine renommierte, anerkannte und florierende Wäschemanufaktur samt Versandhandel zwangsweise - für etwa ein Zehntel des Wertes an einen jungen aufstrebenden Unternehmer: den späteren Herrenreiter Josef Neckermann, der in die Villa Joel einzog.

    Joel musste die verlogen niedrige Kaufsumme, die Neckermann auf einem Treuhandkonto versteckt hatte, 1955 einklagen. Auch gegen die Bundesrepublik musste Joel auf Wiedergutmachung klagen: Erst 1968 sprach ein mieser Vergleich sprach dem 79-jährigen Joel 38.000 D-Mark zu, obwohl der einstige Unternehmer allein über 354.000 Reichsmark sog. "Reichsfluchtsteuer" und andere Zwangsabgaben an die Nazis bezahlt hatte. Dennoch ließen sich Karl Joel, seine Frau und Billy Joels Vater Helmut auf dem jüdischen Friedhof Nürnbergs beerdigen: in der Heimat eben.

    Das sind nur die zentralen Fakten eines Falles, den die Ausstellung "Entrechtet. Entwürdigt. Beraubt. – Die Arisierung in Nürnberg und Fürth" im NS-Dokumentationszentrum der einstigen "Stadt der Reichsparteitage" zeigt. Es ist keine Ausstellung der Regionalgeschichte – Initiator Eckart Ditzfelbinger:

    ""Betreffend 'Arisierung', das heißt der Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus der Wirtschaft gab es in Nürnberg, Franken und Fürth den größten 'Arisierungsskandal' überhaupt im damaligen Reich, der dazu geführt hat, dass der Gauleiter Julius Streicher entmachtet worden ist. Das heißt, auch in diesem Punkt ragte Nürnberg über das Reich hinaus – mit der Signalfunktion: Wir betreiben die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung am extremsten, am effektivsten – und diese Botschaft soll jeder wissen."

    In einer 700 Meter langen und 12 Meter hohen Halle zeigt das Team um Eckart Ditzfelbinger zunächst in einem als Labyrinth geführten "Irrweg" die schrittweise "Arisierung": eine Fülle von bösartigen bis gewalttätigen Attacken einerseits, präziser, gleichsam "sauberer" bürokratischer Abwicklung andererseits – und die daran beteiligten Personen. Am Ende dieser umfassenden Beraubungs- und Bereicherungsaktion haben die Ausstellungsmacher eine 40 Meter lange "Straße nazideutschen Bürokratismus" durch die Halle gezogen: über 2000 Erlasse und Verordnungen an den Wänden, damit die "Arisierung" auch ja "deutsch ordentlich" verläuft – ein erschreckender und gespenstischer Gang im Kontrast zu einem schmerzlich kleinen "Erlebniszimmer", in dem nur ein kaputter Stuhl zurückgeblieben ist. Eckart Ditzfelbinger:

    "Mit dieser Ausstellung zum 1.Mal möglich, dass sich der Laie oder Besucher dem Prozess der Beraubung der Juden überhaupt annähern und zumindest soviel mitverfolgen können, dass dies ein systematisch gesteuerter, ungeheurer Raubzug gegen eine kleine Minderheit gewesen ist, der eigentlich lückenlos durchorganisiert worden ist im Zusammenspiel der verschiedenen Behörden, der Kommunen und anderer mehr – ein ungeheuerer Vorgang, der ist natürlich nicht vom Himmel gefallen, sondern er ist der Staatsdoktrin der Nationalsozialisten geschuldet. Und das ist schon was sehr Beunruhigendes, weil es sich im 20.Jahrhundert abgespielt hat – und ohne die moderne Bürokratie mit der Erfassung, mit Listen wäre das so nicht möglich gewesen."

    Auch allgemein bekannte Namen des bundesdeutschen "Wirtschaftswunders" tauchen als Profiteure auf, etwa Photo-Porst und vor allem Gustav Schickedanz; dann natürlich eine ganze Gala von Nazi-Größen; aber eben auch viel bürgerlicher Mittelstand, der lästige jüdische Konkurrenz loswurde – bis hin zu den bei der Vertreibung wegschauenden "Mitläufern", die den Privatbesitz vieler jüdischer Mitbürger billigst gekauft oder ersteigert haben. Und wieso all dies jetzt erst?

    "Ganz wesentlicher Grund ist, dass die Dokumente nicht zugänglich waren. Die Finanzbehörden haben sie nicht herausgerückt oder haben eigentlich die Unwahrheit gesagt, wenn Forscher dort angeklopft haben. Diese Situation war gültig bis Ende der 90er Jahre, nach der deutschen Wiedervereinigung. Und dann haben sich einige Journalisten und auch einige Forscher nicht beirren lassen und haben das publik gemacht. Darauf gab es dann eine der Innenministerkonferenz der Länder, die gesagt hat: Wir haben eine starke Erinnerungskultur - und dann wurden die Akten zugänglich gemacht ab 2004 mit sehr stabilen Ergebnissen und die 1.Dissertation zur Arisierung in Nürnberg erscheint in diesen Tagen, nicht vorher. Wir zeigen darüber hinaus aber auch verantwortliche Personen, die Gauleitung Franken, die Stadtverwaltungen in Fürth und Nürnberg, die Finanzbehörden, die ja am meisten Gewinn dabei abgeschöpft haben. Aber ein wesentlicher Grund liegt eben darin, dass diese Erfahrungsgeneration erst wirklich gestorben sein muss, bis so etwas möglich ist – und sie haben beharrlich versucht, alle Erkenntnisse darüber zurückzuhalten."

    Die Ausstellung "Entrechtet. Entwürdigt. Beraubt. – Die Arisierung in Nürnberg und Fürth" ist im NS-Dokumentationszentrum Nürnberg auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände bis zum 31.Juli 2013 zu sehen.

    Im ganzen Zeitraum vertieft und bereichert ein breit gefächertes Veranstaltungsprogramm das Gezeigte:


    Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände: "Entrechtet. Entwürdigt. Beraubt. Arisierung in Nürnberg und Fürth"