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Eine Welt im Umbruch

"Thomas Platter verläßt das heimatliche Wallis und entdeckt auf der anderen Seite des Grimselpasses in den tiefergelegenen Regionen der Schweizer Berge die Zivilisation oder das, was man dafür hält: Ziegeldächer, Kachelöfen und Gänse, die das Kind aus dem Hochland nicht kannte. Der Bergbauernbub, nunmehr unterwegs in Richtung Deutschland, findet diese Gänse zunächst beinahe ebenso furchterregend wie einen dämonischen Jungen namens Carl, der dem Kleinen eine Münze aufdrängt, um ihn grausam auf den bloßen Hintern schlagen zu dürfen, ihm das Goldstück aber wieder abnimmt, sobald das Opfer sich die Hosen wieder angezogen hat."

Sabine Arnold |
    Acht oder neun Jahre alt ist Thomas Platter, als er 1507 die Heimat in den Schweizer Hochalpen verläßt. 1499 in Grächen im Wallis zur Welt gekommen, hatte er früh seinen Vater verloren. Die Mutter konnte ihn nicht ernähren, und so hütete das Kind Ziegen in den Alpen. Der kleine Tomilin hungerte oft. Nicht nur die Natur war unwirtlich, auch die Menschen. Damit er ein Gebet lernen sollte, schlug ihn ein Priester so stark, daß er sich später daran erinnerte, wie ihn der Lehrer: "by den oren zoch, das ich schrei, wie ein geiß am messer stäket."

    Körperliche Gewalt gehörte für einen Menschen des Mittelalters zum Alltag. Auch die Mißhandlungen des dämonischen Carl oder die Prügel seines Vetters Paulus brachten den kleinen Thomas Platter nicht davon ab, seinen Weg fortzusetzen, die Welt zu erkunden. Ein Glückssucher, dessen Ziel es war, eine Schule zu besuchen. Wie der Junge auf die Idee kam, daß es gut ist, lesen und schreiben zu können, wir wissen es nicht. Intellektuelle Förderung hatte er nie genossen. Der Wunsch kam aus ihm selbst, es drängte ihn. Die Geschichte war offenbar reif für Menschen, die sich von ihrem Schicksal emanzipierten.

    Mit Menschen wie Thomas Platter ging das Mittelalter zu Ende. Eine neue Zeitepoche begann, in der der Mensch sein Leben durch Bildung und Arbeit selbst formt. Der Zeitgeist verlangte auch eine neue Religion, die lehrte, daß der Mensch nicht nur von Gott in die Welt gesetzt worden ist, sondern sich auf diesem Platz vor seinem Schöpfer durch Taten rechtfertigen muß. Diese Verbindung von Protestantismus und Arbeitsethos bestimmte auch das Leben von Thomas Platter. "Eine Welt im Umbruch" hat der französische Historiker Le Roy Ladurie die Geschichte des Schweizer Bergbauernjungen genannt. "Der Aufstieg der Familie Platter im Zeitalter der Renaissance und Reformation" lautet der Untertitel. Der Historiker stützte sich bei seiner Arbeit auf eine faszinierende Quelle: die Lebenserinnerungen des Thomas Platter, die Platters Sohn Felix im Jahr 1572 nach den Erzählungen seines inzwischen 73jährigen Vaters niederschrieb. Felix und der zweite Sohn, Thomas der jüngere, hinterließen ihrerseits Tagebücher, die sie selbst wohl im Bewußtsein, Zeugen eines Epochenumbruchs zu sein, niederschrieben. Nimmt man die Lebensspannen der drei Männer zusammen, so umfassen sie eine Zeitraum von 129 Jahren, inbegriffen das gesamte 16. und das beginnende 17. Jahrhundert. Eine Zeit des ständigen demographischen und ökonomischen Wachstums, in der sich die drei Generationen im städtischen Leben in Basel etablieren können.

    Le Roy Ladurie hat diese drei Quellen zu einer ganz besonderen Geschichte des 16. Jahrhunderts verarbeitet. Im Spiegel der Familiengeschichte gelingt dem Autor eine Darstellung der mitteleuropäischen Geschichte in ökonomischer, sozialer und kultureller Perspektive, die wie ein Roman zu lesen ist und doch die Präzision eines geschichtwissenschaftlichen Werkes besitzt, denn der Historiker versteht es meisterhaft die Lebensgeschichten in einen Gesamtkontext einzureihen: "Es war dies die Zeit, in der die Slaven bereits dem militärischen Druck Rußlands ausgesetzt waren. Kopernikus hatte damals in Frauenburg schon begonnen, am Entwurf eines heliozentrischen Weltbildes zu arbeiten, und die Wende zur Moderne, die man die kopernikanische nennen wird, begann sich abzuzeichnen."

    "Aber Platter hatte andere Sorgen", schließt Ladurie diesen Absatz. In der Tat, denn der Junge probierte gerade sein erstes Bier in Polen und war damit beschäftigt, sein bloßes Überleben mehr schlecht als recht zu sichern. Wenig später allerdings brachte ihn das Leben in die Nähe von Zwingli und Calvin, er traf Erasmus von Rotterdam, knüpfte Kontakte zu Cratander, dem Baseler Buchdrucker, zu dem Gelehrten Beatus Rhenanus und anderen.

    Bis zu seinem 19. Lebensjahr schlägt sich Thomas aber bettelnd und mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben. Erzählerisch und geradezu en passant macht der Historiker immer wieder deutlich, daß es parallele geschichtliche Zeiten gibt. Die Geschwindigkeit eines individuellen Lebens muß nicht immer und in allen Punkten mit der sozialen und kulturellen Zeit Schritt halten, obwohl es sich andererseits wieder in einen historischen Mainstream einfügt. In diesem Sinne ist Thomas Platter im wahrsten Sinne ein Renaissancemensch. Ihm ist die Welt die beste Lehrstatt und die beste Universität. Mit unermütlicher Neugier, Wissensdurst, Fleiß und Glück wird er mit 36 Jahren schließlich Schuldirektor, Baseler Bürger und einer der gebildetsten Männer der Stadt. Zwischendurch ist er Bergsteiger, Schüler, Bettler, Student, Sänger, Seiler, Setzer, Korrektor und Professor für alte Sprachen. Seine Leidenschaft aber galt der neuen Wissenschaft, der Medizin, und was er selbst nicht mehr erreichen konnte, wollte er in seinem Sohn Felix vollenden. Der Junge sollte Arzt werden: "Die Entscheidung seines Sohnes für ein Medizinstudium findet sein uneingeschränktes Wohlgefallen, und er ermutigt ihn, sich Hefte mit botanischen und heilkundlichen Notizen anzulegen. Im Vertrauen gesteht der alte Platter einem Kostgänger: ‘Der bub wird ein artzet geben und will villicht Gott, wil ich nit dohin hab kommen kennen, daß er dohin komme, und sein Beruf sye.’

    So verbindet sich individuelles Streben mit dem der Familiendynastie, in der der einzelne sich durch die anderen bestätigt. Und so ist Thomas Platter, der Selfmademan, bereit, mit Geld über alle Hürden hinwegzuhelfen, die sich dem Glück seines Felix in den Weg stellen. In ihrer Beziehung läßt sich so manche Parallele entdecken zu den Nachkriegsgenerationen des 20. Jahrhunderts.

    Während des Sommers 1552 festigt sich Thomas’ lange schon reifender Entschluß. Felix Schwestern sind alle drei gestorben, er ist der einzige Sohn. Man kann also problemlos einen beträchtlichen Teil des Familienvermögens in ihn investieren, ohne befürchten zu müssen, die anderen Geschwister dadurch zu benachteiligen. Den Jungen nach Montpellier, auf eine der besten Medizinfakultäten der Welt und gewiß auf die hervorragendste nördlich der Alpen zu schicken, bedeutet, ihm ein Doktorat unter den günstigsten Bedingungen und sogar in kürzester Zeit zu sichern.

    War der alte Platter bereits über 20 Jahre alt, als er lesen und schreiben lernte, so ist sein Sohn erst 15 als er das Medizinstudium beginnt. In der Erzählung von Le Roy Ladurie ist die Generationengeschichte der Platters spannend in jeder Hinsicht. Vater Thomas treibt das Gründerfieber um, der Aufbruch aus der Unmündigkeit und die Etablierung seiner Familie. Erst sein Sohn Felix hat aufgrund der fundierten Bildung, die sein Vater ihm zukommen läßt, die Einsicht in die Bedeutung seiner Zeit. Er drängt den Vater, ihm sein Leben zu erzählen, und macht selbst detaillierte Tagebuchaufzeichnungen.

    Auch Felix empfindet seine Verpflichtung gegenüber der Familie, er spezialisiert sich auf die Heilung der Pest, die alle seine Schwestern dahinraffte und auch vier seiner Halbgeschwister ums Leben brachte. Felix bleibt sein Leben lang Sohn. Er wird Baseler Stadtarzt, und als sein Vater 1582 stirbt, fördert er seinen Halbbruder Thomas den Jüngeren, damit er Professor für Medizin, Botanik und Anatomie wird. Felix hält den Bruder auch zum Tagebuchschreiben an. Aber das Bewußtsein der Epochenschwelle ist für den 1574 geborenen Thomas bereits nicht mehr lebensbestimmend. Seine Aufzeichnungen sind selten und lustlos. Für den Sozialhistoriker Emmanuel Le Roy Ladurie muß der Fund der Tagebücher wie ein Geschenk des Himmels gewesen sein. Er begegnete ihnen in Montpellier, wo Felix Platter studiert hatte und Ladurie 400 Jahre später als Universitätsassistent arbeitete. Einige Jahrzehnte lang trug er die Tagebücher mit sich herum, bis er sie in die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 16. Jahrhunderts einordnete. Ein brilliantes Stück Geschichtsschreibung.