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Eine Welt in Scherben

2005 machte sich der serbokroatische Schriftsteller Bora Cosic auf, das Land seiner Vergangenheit zu erkunden. "Die Reise nach Alaska" dokumentiert, wie Cosic Einzelteile seiner Erinnerung sammelt und zusammenzusetzen versucht.

Von Dorothea Dieckmann | 03.05.2007
    Seit dem Beginn des Jugoslawien-Krieges war seine Heimatstadt für Bora Cosic nurmehr "die Stadt, von der aus der Krieg regiert wurde". Im Herbst 2005 machte er sich mit seiner Frau auf, das Land seiner Vergangenheit zu erkunden. Für einen Freidenker und Kosmopoliten, der die Surrealisten als seine geistigen Vorfahren bezeichnet, kann eine solche Reise kein nostalgisches Unternehmen werden:

    "Ob der Mensch hier oder dort geboren wird, ist eine Sache des Zufalls. Damit verliert der Begriff 'Heimat' oder 'Vaterland' seinen Stellenwert: alles läßt sich auf geographische Koordinaten zurückführen - profane Punkte auf der Landkarte unseres Schicksals. Und wenn ich mich heute, nach vielen Jahren, auf den Weg in mein Geburtsland mache, fühle ich mich, als wäre ich nach Afrika oder Alaska aufgebrochen. [...] So brechen wir in das Alaska unseres früheren Lebens auf, von allem befreit, reine Touristen auf dem Weg unseres Seins, Pilger in das Land dessen, was vor langer Zeit unser Leben ausgemacht hat."

    Alaska ist eine Metapher, die das scheinbar bekannte Terrain so fern rückt, dass man es wiederentdecken kann. Die literarische Weltsicht des Künstlers Cosic ist vom Prinzip der Collage bestimmt, und auch in diesem Reisebericht ist das Bild des Klebens allgegenwärtig. Die frühere Welt liegt in Scherben; die Bewohner des Landes haben ihre eigene Heimat zerstückelt, und der Besucher geht darin umher wie auf einem Flohmarkt, wo er die Einzelteile seiner Erinnerung sammelt und zusammenzusetzen versucht. Eine davon ist die an den Belgrader Markt:

    "In meiner Kindheit war der interessanteste Marktstand der eines Mannes, der mit einer Wundermasse zerbrochene Teller klebte. Ich weiß nicht, ob man den blutigen Bruch in der Küche meiner Heimat, bei dem im Haus nacheinander alles kurz und klein geschlagen wurde, mit irgend etwas reparieren, heilen, kitten kann."

    Bruch um Bruch, Grenze um Grenze muss diesmal überquert werden - zunächst von Österreich nach Slowenien und von dort in das grausam vom Krieg gezeichnete ländliche Bosnien, dem Cosic die poetischsten Passagen widmet, wenn er heute, in Zeiten eines allgemeinen Misstrauens gegen die islamische Kultur und Tradition, die weisen, verschlossenen Menschen dieser Region und die dörflichen Landschaften in Erinnerung ruft, ihre Einfachheit, ihre Bescheidenheit und vor allem ihre Schönheit. Die verschwundenen Minarette erinnern ihn an die Bäume in Tschechows Kirschgarten, die am Ende die Axt erwarten. Sie sind für ihn vom Himmel gefallene weiße Stäbe, Flaumfedern von Türmen. Und eine unstillbare Trauer über den Krieg klingt an, wenn Cosic formuliert:

    "Das war ein lichter, weicher Wald islamischer Birken, die auch in meinem ungläubigen Herzen Behagen, Wonne und kurze Glücksmomente hervorruft. Das nun musste in jenem Krieg meines serbischen, meines kroatischen Volkes zerstört werden."

    Nach Kroatien, nach Serbien geht es weiter, nachdem sich die Reisenden in Sarajevo aufgehalten haben, in der die entsetzlich erfinderische Brutalität der Belagerung und der schöpferische Geist künstlerischer Experimente zu einem gelebten Surrealismus zusammenfinden, der in Cosics Worten einer Rose auf dem Minenfeld gleicht. Auf den Trümmern von gestern, in der unsichtbaren Asche der verbrannten Bibliothek diskutieren Intellektuelle über die Situation der Stadt nach dem Krieg. Dann nähert sich der Schriftsteller den Orten seiner Herkunft und seines Erwachsenseins, und immer mehr stellt sich die Frage, ob und wo es für ihn so etwas wie Heimat gibt. Er antwortet in seiner neuen Sprache, in der er sich nicht zu Hause fühlt:

    "Meine wichtige und Ur-Heimat, das ist meine Sprache: Serbokroatisch. Das ist auch wichtig für mich, nicht Serbisch, nicht Kroatisch, nicht Bosnisch, es ist meine allgemeine Sprache, ich bin vielleicht der einzige Autor mit dieser Idee. Aber meine Sprache ist Serbokroatisch."

    Hier äußert sich mehr als nur der würdige Allgemeinplatz, dass die Identität eines Schreibenden auf der Sprache beruht. Indem Cosic auf einer unteilbaren serbokroatischen Sprache besteht, widersteht er der diplomatisch längst abgesegneten Zersplitterung. Er beharrt auf dem Fundament, das er als Schriftsteller repräsentiert, der historisch gewachsenen Einheit der Vielfalt, dem Reichtum einer aus den verschiedensten Einflüssen gespeisten Kultur diesseits der gewaltsamen Säuberung. So, wie im Krieg Dichter verfolgt wurden, die Worte aus dem so genannten feindlichen Sprachkreis verwendeten, findet die ethnische Abschottung innerhalb der Buchdeckel deutscher Verlage ihren Ausdruck, wenn es heißt, ein Text sei aus dem Kroatischen oder Bosnischen übertragen worden, ja, auch Katharina Wolf-Grieshabers schöne Übersetzung soll aus dem Serbischen erfolgt sein, folgt man der Angabe in diesem Buch. Wer es liest, wird eines Besseren belehrt. Denn dort ist die Rede von all den aufrechten, gebildeten, verrückten, unbestechlichen Künstlern und liberalen Weltbürgern aus allen Teilen Jugoslawiens, von Bogdan Bogdanovic bis Bato Cengic, von Danijel Dragojevic bis zu Radomir Konstantinovic, deren Geist keine Grenzen anerkennt.

    "Diese wenigen überlebenden Menschen der Feder und der Gedanken bilden heute ein menschliches Netz dieser Völker, die im Schmutz der schwachen Schriftlichkeit und des leichtsinnigen Nichtdenkens versunken sind. Und beweisen so, dass sie selbst die Macht dieser Gegenden sind und nicht die anderen, die offiziellen Personen der aktuellen Führung und Ideologie."

    Dennoch spricht aus Cosics Alaska-Expedition eine tiefe Verunsicherung. In Belgrad erinnert er sich nicht nur der vielen Freunde und Kollegen, die sich dem nationalen Hassgeschrei anschlossen. In den Straßen der Stadt registriert er triviale Alltäglichkeit, Zerfaserung, Chaos, eine billige, schrille Marktöffentlichkeit anstelle homogener Urbanität. Er vermisst die alten Belgrader Bürger in der buntscheckigen Masse, die ihm unbegreiflich und manchmal gar bedrohlich entgegentritt; er vermisst die Ordnung.

    "Es gab in jener langen Epoche des sozialistischen Reiches [...] ein System, wie grau auch immer, manchmal düster und deprimierend, aber bei allem ein 'systematisches System'. Heute bewegen wir uns indes in einer dezentrierten Stadt, die ihre Achse verloren hat - was geht in ihr vor?"

    Die Antwort wäre: Es ist die Verwirrung, die ein ungehindert auf starre und korrupte Strukturen eindringender Turbokapitalismus anrichtet. Cosic, der dies nicht zu erkennen scheint, hat das nihilistische Lebensgefühl des alten Sozialismus in seinem letzten Roman "Das Land Null" noch einmal mit resignierter Kälte aufgezeichnet. Im Gespräch sieht er, hoffnungsvoller, die Potenziale, die das heutige Belgrad demgegenüber zeigt:

    "Es gibt dort eine sehr starke Energie. In welche Richtung, das ist unklar, aber es gibt. Das ist etwas Neues. Es ist nicht absolut dunkel oder phlegmatisch. Und das ist ein Unterschied zwischen der Land-Null-Zeit und der Alaska-Zeit."

    Und so verlässt der Zurückgekehrte das zerteilte Land seiner Vorzeit nicht mit dem Pessimismus, der aus vielen seiner Zeilen spricht. Im Gegenteil: Wer als Leser von dieser hellsichtigen Durchquerung des nahen fernen Landes gewonnen hat, kann auf eine zweite Expedition hoffen:

    "Ich bin sehr glücklich. Ich habe viele Dinge gesehen und ich hoffe, wir fahren noch einmal dorthin. Es ist eine sehr wichtige Region. Ich wollte sehen zum Beispiel Montenegro, Kosova, Mazedonien - das ist vielleicht der zweite Teil von Alaska."