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Eine Zeit, in der alles möglich schien

"Lokalhelden", so der Debütroman von Jörg Harlan Rohleder, - "das sind Joints und Nirvana, das sind die 90er-Jahre und die letzten Jahre der Unbekümmertheit". So kündigt der Piper-Verlag diesen Erstling an, den Rohleder im Alter von 34 Jahren gewagt hat.

Jörg Harlan Rohleder im Gespräch mit Lerke von Saalfeld | 02.11.2010
    Lerke von Saalfeld: Es ist eine Reise à la recherche du temps perdu, denn auch wenn man jung ist, tun sich bereits Vergangenheiten auf, über die sich Patina gelegt hat, auch wenn sie jüngst passieret und manches Herz zerbrochen haben. Ich habe den Autor gefragt, wie kam es zu diesem Roman, was hat ihn bewegt:

    Jörg Harlan Rohleder: Matthias Landwehr, ein Agent in Berlin, fragte mich schon vor Jahren in Berlin, ob ich nicht ein Buch schreiben wollte, nachdem er Texte von mir gelesen hatte. Eigentlich wollte ich ein Sachbuch schreiben mit dem Titel "How To Fake Modern Life", aber dann kam ich nie dazu, weil ich auch journalistisch schreiben musste und als "Vanity Fair" eingestellt wurde, für die ich als Reporter arbeitete, rief mich Matthias gleich an dem Tag an und meinte, jetzt wird's Zeit, das Buch zu schreiben; wobei da wenige Monate zuvor die Wall Street zusammengebrochen war - wir schreiben das Jahr 2008 - und dann meinte er, ein Sachbuch zu schreiben, in dem es darum geht, wer die fetteste Jacht oder den schönsten Schönheitschirurgen bekommen kann, ist jetzt nicht gerade so das, was der Markt gerade möchte. Und dann meinte er: Schreib doch lieber mal einen Roman, schreib doch einen Roman über deine Jugend, über die 90er-Jahre, über die es noch keinen wirklichen Coming-of-Age-Roman gibt. Und dann dachte ich zuerst, ja na, meine Jugend ist auch nicht wirklich besonders oder so anders als andere. Aber er meinte: Ja, genau deswegen, weil nicht nur Kinder der 90er-Jahre Ähnliches erlebt haben, sondern Menschen in Deutschland, die an der Peripherie oder am Rande von Großstädten aufwachsen, wahrscheinlich alle Ähnliches erlebt haben'.

    von Saalfeld: Sie haben in einem Interview, gesagt die 90er-Jahre, das sei ein "menschliches" Jahrzehnt, das "maßlos unterschätzt" wurde. Ich frage mich, was ist daran das Menschliche und worin besteht die maßlose Unterschätzung?

    Rohleder: In den 90er-Jahren, wenn man es sich zeitgeschichtlich betrachtet, natürlich gibt es den Bosnienkrieg, aber es wurde sich zum Beispiel mehr um Aids gekümmert. Ich glaube einfach, dass es ein menschliches Jahrzehnt war, wenn man die Zeit der 90er-Jahre vom Fall der Mauer bis zu den Zwillingstürmen rechnen will. Die letzten zehn Jahre waren sicher mit mehr Hass und mehr Angst erfüllt als die 90er-Jahre, und auch die 80er-Jahre davor.

    Von Saalfeld: Das ist genau der Punkt, wo bei mir das Problem einsetzt. Ich finde es sehr schön dargestellt, wie Sie diese Jugendgang in Stuttgart-Echterdingen darstellen. Das ist mir auch nicht ganz unvertraut, da ich in Stuttgart lebe, aber auch in Berlin. Ich kenne das Kleinstädtische wie das Großstädtische. Und Sie nannten gerade diese Eckdaten, Mauerfall und Twin Towers, gut, es gab den Bosnienkrieg, es gab den Beginn des Irakkriegs.

    Rohleder: Es gab auch Ruanda.

    Von Saalfeld: Mir ist aufgefallen, bei Ihren Jugendlichen, das ist ja Ihre Generation ab 14 Jahren bis zum Abitur, kommt Politik so gut wie nicht vor. Man könnte fast sagen, es ist eine selbstverliebte Generation.

    Rohleder: Es ist ein Jahrzehnt - so habe ich das erlebt - , für das Pop wichtiger war als Politik. Die Generationen vor uns hatten schon die wichtigen Kämpfe ausgetragen und für uns blieb dann einfach mehr Leben übrig.

    Von Saalfeld: Ist das Leben? Die Discos, das Skaten, das Saufen, das Kotzen, die Drogen. Ich dachte, oh, verdammt noch mal, wenn man sich darüber als Generation definiert, das ist nicht so viel?

    Rohleder: Ich glaube, dass viele Generationen erst danach als Generation definiert werden. Da gebe ich Ihnen recht, es war unpolitischer. Ich habe versucht, das nicht zu werten. Auch im Sinne: Ach, in der Tagesschau kommt was vom Bosnienkrieg, und uns interessiert das nicht. Eigentlich hatte ich das nicht so gemeint. Natürlich gab es einen Irakkrieg, aber wir haben das damals nicht so mitbekommen, es war nicht so wichtig für uns. Ich glaube, dass es auch anderen Menschen so ging.

    Von Saalfeld: Ich hätte da gar nicht nachgebohrt, wenn Sie nicht selbst sich als "Generation" definieren. Gut, 68er Generation, zu der ich gehöre, darüber muss man nicht reden. Dann gab es den Versuch mit Generation Golf - auch nicht gut tragbar...

    Rohleder: Wollte ich gerad sagen, also die Generation Golf war ja definitiv konsumorientierter, als wir das waren.

    Von Saalfeld: Aber warum muss man sich unbedingt als Generation definieren wollen?

    Rohleder: Wollt ich nicht.

    Von Saalfeld: Gut, bei 68, da weiß man, worum es geht.

    Rohleder: Absolut. Aber das ist allen Generationen danach natürlich unfassbar ungerecht gegenüber.

    Von Saalfeld: Aber Sie sagen, es gab eine Aufbruchsstimmung im Sinne von: Uns gehört die Welt. Sie zitieren auch die Rede des Rektors bei der Abiturfeier, er sagt: "Euch steht alles offen."

    Rohleder: In dem Fall ist das eine Freiheit und ein Aufbruch, der von außen mehr gesehen wurde, als von uns. Ich glaube, dass viele meiner Mitschüler und auch ich diese Freiheit so nicht gesehen haben. Bevor es dann in der Globalisierungskritik umschlug, war das ja eine Zeit, in der alles möglich schien. Aber es war nicht so, dass wir dasaßen und dachten, wow, das sind die tollen Chancen, auf die wir immer gewartet haben, sondern es war eher anders rums, sodass es eher eine Chance zu viel war für viele meiner Freunde.

    Von Saalfeld: Ich finde es eigentlich ein eher deprimierendes Buch. Wenn man sieht diese Figur, der "Stettener" ein Lokalmatador, der als Heroinleiche landet. Ich glaube, das ist von Ihnen sehr realistisch beschrieben, auch sehr schön in den Dialogen, die sie entwickeln, wie die sich in ihrem Sound unterhalten, aber es ist für mich genau das Gegenteil von dieser Aufbruchsstimmung, sondern man hängt in dem Kaff herum und schlägt sich die Zeit um die Ohren.

    Rohleder: Aber das ist gerade das, was ich meinte. Diese Aufbruchsstimmung ist quasi von außen, von den Eltern, von den Lehrern oder was für diese Aufbruchsstimmung steht oder was als theoretische Möglichkeit da ist und gleichzeitig wir, die mit dieser Freiheit und diesen Chancen nicht viel anfangen konnten. Das ist in der Tat traurig.

    Von Saalfeld: Sie haben eine Stelle im Buch, wo Sie schreiben, was man alles nicht will; man definiert sich lieber über das, was man nicht will, als über das, was man will, wo man sagen könnte, oh, da strebe ich hin.

    Rohleder: Ich weiß genau, welche Stelle Sie meinen:

    "Wichtiger ist zu wissen, was man nicht will: kein Trottel werden, nicht mitspielen, sich nicht anpassen, kein Haus bauen, kein elektrisches Brotmesser benutzen. Kurz, kein Arschloch werden, nicht in Schwabylon versauern, die Spielregeln brechen, sich ausklinken, sein eigenes Ding machen. Das Leben ist ein Spiel, bei dem alle verlieren. Am Ende sitzen wir sabbernd im Altersheim, können uns außer an Kohl an nichts erinnern und scheißen Windeln voll. Egal ob du Präsident, Papst oder Punker bist."

    Von Saalfeld: Sie haben als Journalist gearbeitet...

    Rohleder: Mach ich immer noch.

    Von Saalfeld: Frei?

    Rohleder: Anders als viele meiner Generation war ich immer in einer Festanstellung, sehr schwäbisch. Nur im Gegensatz zu meinem Vater, der vierzig Jahre beim Bosch war, habe ich freiwillig ab und an gewechselt. Ich habe in London studiert, wurde dann von Burda gefragt, ob ich nicht bei FOCUS volontieren möchte, aufgrund einiger Texte, die ich angeboten hatte. Das habe ich mit 23 Jahren dann auch gemacht, habe die Uni abgebrochen. Aber hätte da wahrscheinlich bleiben können: Jetzt gibt es ja gerade einen Umbruch bei FOCUS, aber ich hätte da wahrscheinlich sicher lange bleiben können und habe mich aber dafür entschieden, mit Ende zwanzig noch mal zu wechseln.

    Von Saalfeld: Sie machen jetzt "MUSIKEXPRESS".

    Rohleder: Ich habe einen Chef und bin da quasi Stellvertreter. Ich schreib weniger als früher, aber ich schreibe schon ein/zwei Geschichten pro Heft immer noch.

    Von Saalfeld: Aber dieser Roman war dann so der Versuch, erstmal, man zieht für sich selbst Bilanz über seine Jugend und gleichzeitig probiert man die große Form aus.

    Rohleder: Darum ging's mir mehr. Es ging mir nicht darum, die Geschichte meiner Jugend aufzuarbeiten. Letztendlich kann man natürlich über das am besten schreiben, was man gut kennt. Ich dachte, ich nehme ein paar Charaktere aus meiner Jugend, als Skelett quasi, und erfinde dann ganz viel dazu. Aber letztendlich habe ich dann viel weniger dazuerfunden, wie ich bei der Lektüre feststellen musste, dass ich viel weniger erfunden hatte, als ich geplant hatte. Aber mir ging es vor allem darum, mich auszuprobieren, ob ich die lange Form kann. Das fand ich spannend, mal auszuprobieren.

    Von Saalfeld: Der Roman besteht ja hauptsächlich aus Dialogen. Es gibt aber auch zwischendurch Beschreibungen, die ich sehr gelungen finde. Und ich habe gedacht: Ach, ich hätte gerne auch mehr davon gelesen. Sie haben ganz auf den Ton zwischen der Youngstern gesetzt und haben sich verkniffen, auch mal längere erzählende Passagen hineinzunehmen. War das der Sog, dass man in diese ganze Atmosphäre wieder eintaucht, das ist ja auch eine sehr verbale ...

    Rohleder: Sie haben recht. Einerseits wollte ich auf jeden Fall vermeiden, dass die Person schlauer wirkt - es ist ja ein Roman im Präsens geschrieben aus der Ich-Perspektive. Und ich hatte Angst, dass die Person zu schlau oder zu alt für das eigentliche Alter auf den Seiten wirkt. Natürlich ist in der Ich-Person auch etliches von mir abgebildet. Ich glaub auch, dass bestimmte Betrachtungen, die ich hätte reinschreiben können, heute, damals nicht gehabt hätte. Siebzehnjährige stellen keine Landschaftsbetrachtungen an.. Das hätte ich sicher vom Schreiben her gekonnt, aber das hätte nicht gepasst.

    Von Saalfeld: Man kann ja die Perspektive wechseln als auktorialer Erzähler. Diese Möglichkeit hätten sie gehabt, ohne die Ich-Perspektive wechseln zu müssen.

    Rohleder: Ja, aber, hätte ich ein Jahr Zeit gehabt, hätte ich es vielleicht irgendwie an mancher Stelle noch getan.

    Von Saalfeld: Ich merkte nämlich, da schimmert bei Ihnen so eine Qualität durch, wo ich dachte, ah, davon hätte ich gern ein bisschen mehr gehabt.

    Rohleder: Ja, vielleicht beim nächsten - Ja - Ein Grund, warum ich das Buch auch geschrieben habe, dass ich mit Freunden Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht habe: Man sitzt beim Abendessen, der eine kommt vom Bodensee, der nächste kommt aus der Nähe von Hamburg, der Nächste ist in Berlin aufgewachsen. Und am Ende sitzt man doch da und hat in irgendeiner Form ähnliche Geschichten erlebt. Die Personen heißen anders, der Ort war anders, vielleicht war die Farbe der Chevignonjacke noch anders, aber letztendlich glaub ich, dass ich in dem Buch relativ gültige Charaktere und auch gültige Szenarien geschaffen habe, die viele Leute aus meiner Generation - vielleicht eine Generation hoch und noch eine runter - selbst auch erlebt haben oder zumindest aus ihrer Jugend kannten. Deswegen hatte ich auch versucht, Lokalkolorit natürlich -es spielt in Echterdingen, das kenne ich, das kann ich beschreiben. Es hätte aber auch in der Umgebung von Hamburg oder am Bodensee spielen können. Ich glaube, dieses Echterdingen ist überall. Ich glaub, es ist auch ein westdeutscher Roman. Ich weiß nicht, ob es bei Leipzig funktioniert hätte, weil, wenn man Clemens Meyer in den 90er-Jahren liest, dann war das was ganz anderes.

    Von Saalfeld: Wen haben Sie sich als Leser vorgestellt?

    Rohleder: Ehrlich gesagt habe ich das Buch erstmal für mich geschrieben. Es gab zwei Ziele; das eine Ziel war, dass es nicht peinlich wird, hoffentlich; und das andere Ziel war, dass ich hoffe, dass die Menschen, die das Buch lesen, vielleicht drei-viermal schmunzeln, es in einem Rutsch durchlesen, sich nicht langweilen und danach nicht bereuen, das Buch gekauft zu haben. Es soll einfach Spaß machen, es soll auch keine große Literatur sein. Ich hatte auf meinem Computer drei Zettel kleben, auf einem stand: "Sei einfach" - "Sei schnell" - "Sei banal". Es sollte auch nicht mehr sein, als es ist.- es ist einfach die Geschichte vom Erwachsenwerden in der Provinz.


    Jörg Harlan Rohleder: "Lokalhelden"
    Piper Verlag, 276 S., 16,90 Euro