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Einen Blick ins Ursachengestrüpp werfen

Es geht ihm nicht um die actionhafte Inszenierung der Ereignisse. Andres Veiel will in seinem Kino-Debüt einen Blick ins Innere der RAF-Protagonisten werfen. "Wer wenn nicht wir" fragt nach den Motiven terroristischer Gewalt. Ein neuer Zugang zum Thema, meint RAF-Experte Wolfgang Kraushaar.

Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: Andres Veiel hat seinen ersten Spielfilm gedreht, der auf der Berlinale im Februar Premiere hatte und jetzt in die Kinos kommt, und wie in seinen Dokumentarfilmen geht es in "Wer wenn nicht wir" um die Ergründung der versteckteren Schichten des Menschen. Die Frage, warum Gudrun Ensslin, protestantische Pfarrerstochter, hochintelligent, verheiratet mit Bernward Vesper, mit dem sie einen Sohn hat, später RAF-Terroristin wird und dafür ihre Familie verlässt, hat Veiel auf eine interessante These gebracht: Je stärker der Schmerz über diesen Verlust war, desto hehrer mussten die Ziele der RAF sein. So entstehen Märtyrergeschichten. – Wolfgang Kraushaar ist Historiker und RAF-Experte, der sowohl das Buch von Gerd Koenen als Grundlage des Films von Andres Veiel gut kennt, als auch vom Autor und Regisseur selbst den Film persönlich vorgeführt bekam. Herr Kraushaar, ist das ein neuer, ein richtiger Ansatz?

    Wolfgang Kraushaar: Es ist auf jeden Fall ein sehr ernst zu nehmender Versuch, aus den Problemen, in die bislang die RAF-Filme in aller Regel geraten sind, einen Ausweg zu formulieren, und zwar etwas zu zeigen, was in einem direkten Anlauf in Bezug auf die RAF-Geschichte kaum zu zeigen ist. Denn man läuft ja schnell Gefahr, sozusagen das, was die Motivationsstruktur der RAF-Mitglieder der ersten Generation ausgemacht hat, durch actionartige Nachinszenierungen von Ereignissen sozusagen totzuschlagen.

    Fischer: Aber sind das dann mehr als sozusagen küchenpsychologische Einsichten und Zusammenhänge und entpolitisieren sie den deutschen Terrorismus nicht auch vielleicht?

    Kraushaar: Nein, das glaube ich nicht. Der Anspruch von Andres Veiel geht ja dahin, einen Blick in das Ursachengestrüpp – so hat er das genannt – werfen zu wollen, um dadurch einen Einblick in die Motivationsstruktur der terroristischen Gewalt gewinnen zu können. Und ich glaube, das ist ihm im Ansatz gelungen, weil er nämlich die Privatgeschichte der Beziehung zwischen Bernward Vesper und Gudrun Ensslin auf der einen Seite und von Ensslin und Andreas Baader auf der anderen Seite versucht, zeithistorisch und auch ästhetisch-literarisch und politisch zu entschlüsseln. Das heißt, er hievt sozusagen eine Art Binnengeschichte und versucht, durch diese ja Entwicklung hindurch etwas sichtbar zu machen, was man bei einem Blick auf die reine terroristische Geschichte nie würde erkennen können.

    Fischer: Vielleicht machen wir es mal an einem Beispiel. Sie haben die Action-Filme über das Thema erwähnt. Der Baader-Meinhof-Komplex hat Baader, Ensslin und Meinhof zu einer Art Glamour-Trio der Gewaltexzesse stilisiert. Was, vielleicht mal am konkreten Beispiel, leistet dem gegenüber "Wer wenn nicht wir"?

    Kraushaar: Dieser Film von Andres Veiel hat sozusagen das Existenzielle, die existenzielle Dramatik bereits in den 60er-Jahren zwischen Bernward Vesper und Gudrun Ensslin sichtbar gemacht. Man muss sich nur vor Augen führen, dass wir dort zwei Selbstmordversuche zu Gesicht bekommen, die in dem Buch von Gerd Koenen im Übrigen noch gar nicht dargestellt werden konnten, weil Andres Veiel auch eigene Recherchen unternommen hat, und in diesen Selbstmordversuchen wird sozusagen auch das Ende der jeweiligen Protagonisten dann in den 70er-Jahren vorweggenommen, das heißt, der Suizid von Bernward Vesper 1971 in Hamburg und der von Gudrun Ensslin zusammen mit Baader und Jan-Carl Raspe 1977 in Stammheim. Also daran kann man erkennen, wie sozusagen in einer Privatgeschichte bereits etwas eingekapselt ist, was unter ganz anderen Vorzeichen in den 70er-Jahren dann sozusagen die Protagonisten neu einholt.

    Fischer: Die Urteile über den Film sind gemischt. Was fehlt, wenn überhaupt etwas fehlt? Gibt es neben den erhellenden Einsichten über die Vorgeschichte der RAF auch so was wie blinde Flecken?

    Kraushaar: Was fehlt, ist natürlich eine andere sozusagen Einrahmung dieser Privatgeschichten im Hinblick auf die Ost-West-Geschichte, im Hinblick auf die Frage, welche Rolle Geheimdienste dabei gespielt haben, und vieles andere mehr. Das kann man natürlich nicht alles letztendlich an Faktoren aufschlüsseln, aber das Entscheidende ist diese Radikalität der Binnendynamik in diesen Beziehungsgeschichten, die letztendlich Gudrun Ensslin in die RAF geführt hat und im Gegensatz dazu ihren Verlobten und Mann, Bernward Vesper, in den Wahnsinn, nämlich in die Psychiatrie. So unterschiedlich sind die Ausgänge gewesen am Ende der 60er-, oder zu Beginn der 70er-Jahre für zwei der drei Protagonisten.

    Fischer: Das war der Historiker Wolfgang Kraushaar über Andres Veiels ersten Spielfilm "Wer wenn nicht wir", der morgen in die Kinos kommt.