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"Einen so schönen Ort wie das Kino gibt's selten"

Der Filmemacher, Schriftsteller und Produzent Alexander Kluge gilt seit den frühen sechziger Jahren als Pionier der Gegenöffentlichkeit. Beim "Versand Zweitausendeins" ist jetzt eine DVD Edition sämtlicher Kinofilme des auch international renommierten Filmemachers erschienen. Sie dokumentiert, was Gegenöffentlichkeit im Kino leistet und wie der Film politisches Bewusstsein schärfen kann.

Eine Rezension von Josef Schnelle |
    Alexander Kluge führt derzeit ein Leben mit Goldrand. Zu seinem 75sten wird er herumgereicht wie nie zuvor. Die Filmfestivals von Locarno und von Venedig, wo er drei Mal den goldenen Löwen gewonnen hat, ehren ihn mit besonderen Hommagen. Zugleich hat die Kulturstiftung des Bundes zusammen mit dem Goethe-Institut und den wichtigsten deutschen Filmmuseen eine Werkedition ermöglicht, die in Umfang und Qualität ihresgleichen sucht. Dabei hat Kluge seinen letzten Film 1986 ins Kino gebracht und ist seither nur noch als Geschichtenerzähler im Spätzeitfenster privater TV-Programme hervorgetreten. Daneben natürlich auch als Autor zahlreicher Bücher, wie des eben erschienenen Sammelwerks "Geschichten vom Kino". Er hat eine literarische Technik des Collagierens und mosaikartigen Erzählens entwickelt, die zugleich auf vielen Ebenen locker philosophierend wie überraschend detailversessen ist. Kluge ist nicht der Mann für die lange Form. Der Strom der Ereignisse unserer Wirklichkeit, findet er, ist mit Generalgedanken und Romandramaturgie sowieso nicht zu fassen.

    "Es gibt ja in den 2000 Jahren, in denen Bücher geschrieben werden, vertrauenswürdige Autoren. Einer der vertrauenswürdigsten für mich ist Tacitus. Er hat die Kürze erfunden, die Lakonie. Wenn etwas mir sehr wichtig ist, dann wird es kurz und nicht weitschweifig. Diese Kürze ermöglicht gleichzeitig Konstellationen von Geschichten, das ist das, wie ich schreibe."

    Zum ersten Mal konzentriert sich Alexander Kluge ausschließlich auf "Geschichten vom Kino". Die seien ihm bisher zu "nah" gewesen und erst die Beschäftigung mit der Gesamtedition seiner Filme habe ihn wieder für den "Magnetismus" des Kinos offen gemacht und entzündet. Weswegen er in einem der ersten Texte dieses Bandes an seine Beobachtung der Schatteneffekte in einem Studio in Berlin-Spandau erinnert. Damals - 1958 - war er Volontär bei Fritz Lang. Man drehte "Das indische Grabmal". Danach gab Assessor Kluge die Juristerei auf und wurde Filmemacher, begründete gemeinsam mit anderen 1962 den "Neuen deutschen Film" mit dem "Oberhausener Manifest". Das berühmte Foto der Unterzeichner auf einem Gerüst fehlt natürlich nicht. Mittendrin Dr. Alexander Kluge mit Krawatte. Die Rebellen redeten einander mit "Sie" an. Eine der 120 "Geschichten vom Kino", die in diesem Band versammelt sind.

    Andere erzählen von der letzten Filmvorstellung in der Reichskanzlei im April 1945. Als Dach dienten die Abendwolken. Ein Liebesfilm mit heroischer Dreiecksgeschichte wurde gezeigt. Der Kinosaal existierte nur noch als Andeutung, als Phantasiesystem. Jeder Leser wird in diesem Buch seine Lieblingsgeschichte finden. Die vielleicht des UFA-Stars Harry Liedtke, der getreu seinen Filmrollen einer Nachbarin zur Hilfe eilen wollte, die 1945 gerade von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Er rief "halt oder ich schieße", aber sein Revolver war eine Browingfilmatrappe. Er war seinem eigenen Filmego als Held aufgesessen. Von den Plänen, Sergej M. Eisensteins das "Kapital" zu verfilmen wird staunend berichtet und ebenso von Andrej Tarkovskis Absicht, den Akasha-Geheimmythos hinter Rudolf Steiners Lehre auf die Leinwand zu bringen. Viele von Kluges Geschichten fransen nach pointierter kurzer Erzählung von zwei, drei Seiten in fiktive Dialoge auf, wie sie Kluge immer wieder in seinen Fernsehsendungen mit dem Fassbinderschauspieler Peter Berling in wechselnden Rollen führt. Jede Story, ob sie nun von den traurigen "Russischen Filmenden" im Gegensatz zu den amerikanischen "Happy Endings" berichten oder von Joris Ivens und seinen "Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben" oder vom Blutrausch der Deutschen Wehrmachtsangehörigen, als sie auf der griechischen Insel Kefalonia 1943 mehr als 4000 meuternde italienische Soldaten erschossen - birgt einen politischen Kern. Kluge folgt dem Grundsatz seines großen Vorbilds Jean-Luc Godard, (dem auch ein sehr aufschlussreiches Interview im Anhang gewidmet ist) statt politische Filme oder Texte zu machen, seine Filme und Texte "politisch" zu machen, also mit Politik aufzuladen.

    "Ein Knie geht einsam um die Welt. Es ist ein Knie sonst nichts. Es ist kein Baum. Es ist kein Zelt. Es ist ein Knie sonst nichts. Im Kriege ward einmal ein Mann. Erschossen um und um. Sein Knie allein blieb unverletzt als wärs ein Heiligtum. Seitdem: Ein Knie geht einsam um die Welt. Es ist ein Knie sonst nichts. Es ist kein Baum. Es ist kein Zelt. Es ist ein Knie sonst nichts."

    So beginnt "Die Patriotin", 1979 gedreht, in mehrfacher Hinsicht der Schlüsselfilm zu Kluges gesamten filmischen Schaffen. Ein Knie erklärt die Welt und die Lehrerin Gabi Teichert sucht unter anderem auf dem SPD-Parteitag nach verbessertem Geschichtsmaterial. Sie scheitert an ihrer erklärten Absicht, die deutsche Geschichte patriotisch zu sehen. Der Film gleicht in seiner episodischen Struktur und geführt von Kluges Erzählerstimme in der Rolle des Knies sehr stark den "Geschichten vom Kino", in dem man wie in Kluges Filmen den Zusammenhang stets neu suchen muss.

    Alexander Kluges filmisches Werk ist nichts weniger als ein Kompendium des Kinos als Anstalt für das Vagabundieren des Denkens, bei dem man den Verstand keineswegs an der Kasse abgeben muss. Das gilt für seinen Erstlingsfilm "Abschied von Gestern" 1965 mit seiner Schwester Alexandra Kluge in der Hauptrolle, für "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" mit der heute eher als Kommissarin in Fernsehserien bekannten Kluge-Schauspielerin Hannelore Hoger, über die schrägen Science-Fiction-Klassiker "Willi Tobler oder der Untergang der sechsten Flotte" und "Der große Verhau" mit Kluges Frankfurter Star Alfred Edel bis hin zu den reifen Spätwerken "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" und seinem Bekenntnis zum Kino als Emotionsmaschine in "Die Macht der Gefühle". - Film, findet Kluge, abweichend von der aktuellen Diskussion, ist mit dem Verschwinden der Projektion im Kinopalast nach der digitalen Revolution noch lange nicht am Ende.

    "Der Film, eine sehr junge Kunst, also 120 Jahre alt. Ich allein habe ein gutes Drittel dieser Filmgeschichte miterlebt. Das lässt am meisten Freiheiten. Einen so schönen Ort wie das Kino gibt's selten für die Versammlung von Menschen."

    Josef Schnelle über Alexander Kluge: "Geschichten vom Kino." Der Band ist im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienen, hat 351 Seiten und kostet 22,80 Euro.
    Alexander Kluges "Sämtliche 57 Kinofilme" sind auf 16 DVDs erschienen. Die Edition kann beim Versand Zweitausendeins in Frankfurt am Main für 99,00 Euro bezogen werden.