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"Eines der größten Monster aller Zeiten"

Über Josef Stalins Kindheit und Jugend war bisher nur wenig bekannt. Der englische Historiker Simon Sebag Montefiore will mit seinem Buch "Der junge Stalin" die Forschungslücke schließen. Otto Langels hat es gelesen.

10.12.2007
    Der englische Historiker Simon Sebag Montefiore leitet seine Biografie mit einer spektakulären Episode aus dem Jahr 1907 ein: Eine Bande politischer Abenteurer überfällt auf dem zentralen Platz der georgischen Hauptstadt Tiflis am hellichten Tag einen Geldtransport der Staatsbank. Die Banditen feuern aus ihren Pistolen, werfen Handgranaten und entkommen mit 300.000 Rubeln, rund 3 Millionen Euro nach heutiger Rechnung. Zurück bleiben 40 Tote und 50 Verwundete. Der Mann, der den Überfall geplant hatte, um die Kriegskasse der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu füllen, war der 28-jährige Stalin. Koba, wie sein Deckname damals lautete, zeichnete sich bei dieser Aktion durch Eigenschaften aus, die ihm auch später im politischen Dschungel der Sowjetunion nützlich sein sollten: Er war rücksichtslos, brutal und berechnend, er besaß Organisationstalent und Durchsetzungsvermögen und kannte keine Angst vor Gefahren und physischer Gewalt.

    "Er war eines der größten Monster aller Zeiten. Aber man muss auch sehen, dass er tragischerweise zugleich ein Mann mit vielen Talenten war. Er hatte eine große politische Begabung und war in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Mensch."

    Als Simon Sebag Montefiore nach dem Untergang der Sowjetunion nach Georgien fuhr, um dort Material über den jungen Stalin zu sammeln, hoffte er, Zugang zu bis dahin geheimen Unterlagen zu bekommen. Aber er stieß auf unerwartete Schwierigkeiten.

    "Als ich dort ankam, musste ich feststellen, dass die Archive geschlossen waren und kurz vor dem Zusammenbruch standen. Ich wandte mich an den Präsidenten Georgiens, Saakaschwili, und er ermöglichte mir den Zugang zu den Unterlagen. Als die Sowjetunion sich auflöste, blieben all diese Dinge in den Archiven liegen. Die Sowjetunion selbst hatte außerordentlichen Respekt gegenüber Archiven gehabt. Sie waren Orte, wo man Dokumente aufbewahrte, um sie sozusagen für immer einzufrieren. Man hat nicht sehr viel vernichtet, sondern die Unterlagen lieber behalten und sie vergessen."

    Die Archive erwiesen sich als wahre Fundgrube. Unter den Dokumenten, die Montefiore zutage förderte, sind Aufzeichnungen, die vor dem Personenkult und dem großen Terror der 30er Jahre angefertigt wurden und deshalb zum Teil freimütige Äußerungen über Stalin enthalten. Außerdem stieß er auf Berichte aus Familienarchiven und das Tagebuch von Stalins Mutter. Diese Quellen sowie Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen wie einer 109-jährigen Verwandten in Tiflis erlauben eine neue, differenzierte Sicht auf die Kindheit und Jugend des Diktators. So gab es in seinem Geburtsort Gori nicht nur das hinlänglich bekannte ärmliche Elternhaus mit einem gewalttätigen Alkoholiker als Vater und einer strengen, dominanten Mutter.

    "Als er ungefähr sieben Jahre alt war, waren viele Einwohner Goris bereit, ihm zu helfen: der einheimische Fürst, der Stadtpolizist, der Priester und die Lehrer. Sie alle bemühten sich, aus dem jungen Stalin einen gebildeten Menschen zu machen. Sie schickten ihn auf die beste Schule und schützten ihn vor seinem Vater. Hier zeichnet sich ein Muster für sein ganzes Leben ab. Nicht zufällig war er später der große Manipulator, der Mann, der mit seinem Charme nahezu jeden um seinen Finger wickeln konnte, sei es Ribbentrop, Churchill oder Roosevelt."

    Montefiore porträtiert den jungen Stalin als einen wissbegierigen, temperamentvollen, talentierten Menschen. Wenn er in seinem Chorhemd zum Solo auf der Kirchenkanzel erschien, entzückte er die Zuhörer mit seiner wunderbaren Altstimme. In der Schule wollte er in allen Fächern der Beste sein. Seine Freizeit verbrachte er mit Büchern. Er konnte Puschkin auswendig rezitieren, Goethe und Shakespeare las er in Übersetzungen. Schwächeren Kindern half er bei den Hausarbeiten. Seine Lehrer betrachteten ihn mit Stolz, Gleichaltrige sahen in ihm einen merkwürdigen, exzentrischen Jungen.

    "Er besaß sehr viele Fähigkeiten, und er war sehr intelligent. Und er war ehrgeizig, schon als kleiner Junge. Sein erstes Ziel, das er gegenüber seiner Mutter äußerte, war, Bischof zu werden - nicht ein einfacher Priester, sondern Bischof. Das ist typisch für ihn. Es genügte ihm nicht, Priester zu werden. Oder er lernte Russisch, seine zweite Sprache, seine erste war Georgisch. Und er lernte Russisch so schnell, dass er es schon bald anderen Jungen beibringen konnte, die zwei oder drei Jahre älter waren als er."

    Er besuchte das Priesterseminar, absolvierte seine Studien, aber legte das Examen nicht mehr ab. In der Internatsschule hatte Stalin, wie er später selbst sagte, Überwachung, Bespitzelung und Eingriffe ins Privatleben kennengelernt, Methoden, die er in seinem Polizeistaat dann selbst bis zum Exzess praktizierte. Statt der Kirche zu dienen, wurde er ein gewalttätiger Bandit und Berufsrevolutionär, der Geldtransporte überfiel, als Pirat Schiffe plünderte, Schutzgeld erpresste, Streiks anzettelte, Entführungen plante und sich, knapp 20-jährig, der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei anschloss, aus der die Bolschewiki hervorgingen. Stalin war ein furcht- und skrupelloser junger Mann, was sich als unschätzbarer Vorteil erwies, als er später seine Widersacher und innerparteilichen Konkurrenten aus dem Weg räumte. Psychologen führen seine Entwicklung zum blutrünstigen Diktator auf den negativen Einfluss seines prügelnden und ständig betrunkenen Vaters zurück, wobei nicht einmal sicher ist, ob der Schumacher Besso Dschugaschwili sein leiblicher Vater war. Aber Simon Sebag Montefiore vermutet, dass die Straßenkämpfe und Bandenkriege Georgiens nicht weniger prägend waren als das Elternhaus. Da Stalin nichts zu verlieren hatte und geringere emotionale Bindungen besaß als andere, wurde er, so der Autor, zu einem "natürlichen Extremisten". 20 Jahre verbrachte Stalin im Untergrund, solange wie wohl kein anderer bedeutender Politiker des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, die ihn einsam und misstrauisch gegenüber anderen Menschen machte. Mindestens neunmal wurde er festgenommen, siebenmal verbannt, achtmal gelang ihm die Flucht.

    "Er schlief nie längere Zeit an einem Ort. Er hatte, bis auf kurze Phasen, kein Zuhause. Er war immer unterwegs, hatte kein Geld, keine Arbeit. Er musste ständig im Exil leben, wurde verhaftet, saß im Gefängnis."

    Simon Sebag Montefiore liefert keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein locker geschriebenes, gut lesbares Porträt. Um den Erzählfluss nicht zu unterbrechen, verzichtet er auf Quellenangaben und Anmerkungen. Ein beträchtlicher Teil des Textes besteht aus Zitaten, aber deren Ursprung lässt sich meist nur vermuten oder bleibt völlig im Dunkeln. Wer einzelne Fakten nachprüfen möchte, wird Anstoß an dieser journalistischen Form der Geschichtsschreibung nehmen. Allerdings wollte Montefiore, wie er betont, eben nicht die parteipolitischen Konflikte, die ideologischen Debatten oder die sozialen und nationalen Fragen in Russland um 1900 erörtern, sondern einen "persönlichen Bericht" über den Menschen Stalin verfassen. Und dessen Jugend liest sich nun einmal über weite Strecken wie ein historischer Abenteuerroman. Entsprechend steht im Vordergrund, was die Kapitelüberschriften - manchmal etwas reißerisch - verheißen: Schläger, Chorknaben, Gassenjungen, Räuber und Kosaken, Piraten, zaristische Agenten, bolschewistische Verführerinnen und verlorene Verlobte.

    "In den Archiven fand ich heraus, dass er viele Mätressen hatte. Und wo immer er sich auch aufhielt, hatte er Freundinnen. Und sie kamen aus allen Schichten und allen Altersstufen. 13-jährige Schulmädchen zählten ebenso zu seinen Geliebten wie Frauen, die älter waren als er. Er hatte Adlige als Freundinnen, Intellektuelle und Bauersfrauen."

    Bevor Josef Stalin auf der Weltbühne der Politik erschien, führte er ein Leben wie ein Gangsterboss, aber, so lautet Montefiores Fazit, er war viel mehr als das.

    "Was ihn einzigartig machte: Er hatte von allem etwas. Er war einerseits ein Bandit, andererseits ein Intellektueller. Er konnte Demonstrationen organisieren, eine Revolution anführen, einen Bankraub vorbereiten, jemanden ermorden lassen. Aber er konnte auch theoretische Artikel schreiben, über Geschichte diskutieren und eine Zeitung leiten. Insofern war er sehr ungewöhnlich, und das erklärt seinen Erfolg."


    Simon Sebag Montefiore: Der junge Stalin.
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
    544 Seiten, 24,90 Euro