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Einfach komplex

Fast nirgendwo sonst ist die kulturelle Kluft zwischen naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Denken, zwischen Mathematik und Ästhetik so groß wie in Deutschland. Der vor 100 Jahren geborene Philosoph, Kybernetiker und Wissenschaftstheoretiker Max Bense gehörte zu den ersten, die sich über diese Kluft Gedanken machten.

Von Hans-Martin Lohmann | 07.02.2010
    "Jede zunehmende Subtilität innerhalb der Gegenstände unseres Wissens bedarf einer zunehmenden Eindeutigkeit in den Zeichen, mit deren Hilfe wir der zerlegten Welt Herr werden."

    Mit dieser knappen, kompakten Formulierung skizzierte Max Bense Anfang der 50er-Jahre eine Problemlage, die heute noch genauso existiert wie damals. Je komplexer und abstrakter, je zergliederter und "zerlegter" die Welt ist, in der wir uns zurechtfinden müssen, desto dringender benötigen wir eine Sprache, die diese Welt eindeutig zu beschreiben und zu erfassen in der Lage ist.

    Max Bense, am 7. Februar 1910 in Straßburg geboren, studierte in Bonn und Köln Physik, Chemie, Mathematik, Mineralogie und nebenher Philosophie. Trotz seiner naturwissenschaftlichen Orientierung interessierte sich Bense früh auch für Literatur und schrieb Hörspiele für den Rundfunk. Mit einer Arbeit über "Quantenmechanik und Daseinsrelativität" wurde er 1937 promoviert. Eine Habilitation blieb ihm wegen seiner Ablehnung der nationalsozialistischen "Deutschen Physik" verwehrt. Nach dem Krieg berief ihn die Universität Jena zum Kurator, doch bereits 1948 wechselte er in den Westen, wo er ab 1949 als Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart lehrte.

    In den 50er-Jahren entfaltete Bense eine breite publizistische Wirkung, die sich vor allem im Streit um ästhetisch-literarische Fragen äußerte. Mathematik, Semiotik und Ästhetik verbindend, formulierte Bense eine rationale Ästhetik, die das Sprachmaterial – Wörter, Silben, Phoneme – als Repertoire definiert, aus dem sich ästhetisch anspruchsvolle Gebilde formen lassen. So schreibt er:

    "Jedenfalls ist die Geburt der Kunstprosa im Zusammenhang mit der methodischen Klärung der rationalen Denkweise der Mathematik ein Faktum unserer Geistesgeschichte, das auf die kategoriale Einheit von ästhetischer und mathematischer Form verweist."

    Mit seiner rationalen Ästhetik, die sich zeichen-, informations- und kommunikationstheoretischer Mittel bedient, gewann Bense in den 50er- und 60er-Jahren Einfluss auf eine künstlerische Avantgarde, die unter dem Sammelbegriff der "Konkreten Poesie" bekannt wurde. Namhafte Schriftsteller wie Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig, Franz Mon und Ernst Jandl brachten eine experimentelle, mit den Sprachelementen spielende Literatur hervor, die sich allen herkömmlichen, auf Bedeutung basierenden literarischen Zuschreibungen entzog. Bense selber pflegte den Kontakt zu in diesem Sinne modernen Schriftstellern wie Alfred Andersch und Arno Schmidt.

    Gleichsam automatisch geriet Bense damit in Konflikt mit jenen Strömungen der Nachkriegsliteratur, die, traditionsbewusst und zumeist auch politisch konservativ, die bewährten ästhetischen Überlieferungen verteidigten. Wenn die ontologisierende Sprachmetaphysik Martin Heideggers und das mystifizierende Geraune von der Sprache als dem "Haus des Seins" auf der einen Seite standen, so fand sich der sprachexperimentelle rationale Avantgardismus Benses genau in der entgegengesetzten Position. Diese Haltung machte ihn denn auch zum Ziel öffentlicher Polemiken und verzögerte seine Berufung zum ordentlichen Professor, die 1963 schließlich doch erfolgte.

    Früh beschäftigte sich Bense mit der Informatik und den Möglichkeiten elektronischer Rechenanlagen, so dass man ihn auch als bedeutenden Wegbereiter des Computerzeitalters und als Vordenker des Internet betrachten kann. Als Wissenschaftstheoretiker pochte er auf Logik, Klarheit und vor allem auf Widerspruchsfreiheit.

    "Und sie kann nur verwirklicht werden innerhalb einer Prosa, die ausschließlich gedacht ist, die deduktiv gebaut ist und innerhalb deren jedes beschreibende und rhapsodische Element unterdrückt werden kann. Kurz, Widerspruchsfreiheit bezieht sich auf Denkprosa, deren Idealzustand in einer künstlichen Zeichensprache, in einem Kalkül besteht."

    Dieser Idealismus mutet heute, da es eine begründete Skepsis gegenüber der Wissenschaft gibt, merkwürdig vernunft- und fortschrittsgläubig an. Gleichwohl bleibt es Benses Verdienst, für eine – vielleicht utopische – Integration von klassischem Humanismus und Technik, von Naturwissenschaft, Kunst und Philosophie eingetreten zu sein, die ihrer Zeit weit voraus war.