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Einfach so

"Was ist los mit dir?" fragte Sonia. "Du schreibst Nachrufe von morgens bis abends und entspannst dich bei einer Lektüre über den Holocaust? Mein Gott, warum bist du so morbid?" "Ich bin nicht morbid", sagte Esther. "Möglicherweise ist es ein morbides Thema, aber es ist nicht morbid, darüber zu lesen. Es ist aufklärend." "Es ist morbid", sagte Sonia. "Ich kenn' das von anderen Kindern von Überlebenden. Die strahlen eine richtige Morbidität aus. Bei dir ist das was anderes, du bist nur ein bißchen morbid." "Vielen Dank", sagte Esther. "Ich an deiner Stelle würde keine Pauschalurteile über die Kinder von Überlebenden fällen. Pauschalurteile können gefährlich sein." "Ich fälle keine Pauschalurteile", sagte Sonia. "Ich hab' fünf oder sechs Kinder von Überlebenden kennengelernt, und die sehen eigentlich alle so aus, als hätte ihnen wer einen Sack über den Kopf gezogen. Sie sind so vorsichtig, so gedrückt. Sie bewegen sich behutsam, sie sprechen langsam, mit leiser Stimme. Es ist, als ob sie ständig das Leben in sich unterdrücken müßten. Vielleicht fürchten sie sich davor, zuviel Lebendigkeit zu zeigen. Wenn sie halbtot aussehen, fühlen sie sich vielleicht den Toten enger verbunden und weniger schuldig, daß sie am Leben sind."

Marlie Feldvoß |
    Sonia trifft mit ihrer unverblümten Art den Nagel auf den Kopf. Das survivor's syndrom, das alle Holocaust-Überlebenden zu Schuldigen macht, ist eigentlich der geheime Antrieb des Romans von Lily Brett. Aber Sonia ist nicht die Hauptfigur, sondern nur deren beste Freundin. Die Hauptperson heißt Esther Zepler, Tochter von zwei Holocaustüberlebenden, aufgewachsen in Australien, verheiratet mit dem erfolgreichen Landschaftsmaler Sean Ward, drei erwachsene Kinder. Vor einem Jahr ist sie mit ihrer Familie von Melbourne nach New York übergesiedelt und hat dabei gleich ihren Beruf gewechselt. Die frühere Reporterin für ein Rockmagazin hat sich in den Job einer Nachrufschreiberin eingekauft. Esther Zepler, zurückhaltend, introvertiert, viermal wöchentlich auf der Analytikercouch, sieht sich selbst als jemand, die "zu einer Gemeinschaft gehört, die sich um die Toten kümmert". "Als Schriftsteller weiß man nicht immer so genau, warum man etwas schreibt", so Lily Brett. "Ich habe diesen Beruf für Esther ausgesucht, weil ich dachte, daß Nachrufe eine Art Erinnerung sind, eine Art Gedächtnis, um Leben und Werk einer Person festzuhalten. Da ich aus einer Familie stamme, wo sich niemand erinnert und niemand die Summe seines Leben und seiner Errungenschaften ziehen konnte, war es für mich wie eine Möglichkeit, sich zu erinnern. Das Buch enthält eine ganze Reihe von Nachrufen, die überall verteilt sind; als ich es fertiggeschrieben hatte, waren die Nachrufe für mich wie ein Herzschlag, der sich durch den Text zieht. Um daran zu erinnern, wie kurz und wie wertvoll das Leben ist. Wissen Sie, wenn man dauernd Nachrufe schreibt, wird man ständig an den Wert des Lebens erinnert. Deshalb war es für mich wie ein Herzschlag des Lebens, es steht nicht für den Tod."

    Wenn man genau hinschaut, hat die australische Schriftstellerin Lily Brett vieles mit ihrer Protagonistin Esther und deren Familie gemein. Lily Brett heißt eigentlich Lilijahne Breitstein oder Brettstein, wurde 1946 als eines der ersten Kinder im Durchgangslager in Feldafing geboren, wo sich ihre Eltern, die im Ghetto von Lodz geheiratet hatten und in Auschwitz getrennt wurden, nach dem Krieg zufällig wiederfanden. Lily Brett ist seit ihrem zweiten Lebensjahr unter schwierigen Emigranten-Verhältnissen in Australien aufgewachsen. Sie bringt im Gespräch aber auch deshalb ihre eigene Person ins Spiel, weil die dritte Person des Romans wie ein Erzähler-Ich erscheint und weil die erinnerte Vergangenheit auf Schritt und Tritt über die Gegenwart hereinbricht.

    "Die Spezialität des Tages im Cupping Room Café waren gebackene Kartoffelschalen. Gebackene Kartoffelschalen. Zu acht Dollar fünfzig die Portion. Ein Gericht für die enthaltsamen neunziger Jahre. Die Reichen kleideten sich wie die Armen im Schichtenlook, in sorgfältig nicht harmonierenden Designerklamotten. Und jetzt aßen sie wie die Armen. Rüben, Pastinaken, Karotten, rote Beete und Süßkartoffeln tauchten auf den Speisekarten der besseren Restaurants in der Stadt auf und wurden überall in Manhattan auf Empfängen und bei Galadiners gereicht. Im Ghetto von Lodz mußte man gute Beziehungen haben, um an Kartoffelschalen heranzukommen. Eines Abends war Edek Zepler mit fünf Pfund Kartoffelschalen nach Hause gekommen. Es war Rooshkas zwanzigster Geburtstag. Rooshka war zur Wasserpumpe im Hof gegangen und hatte, im Schnee knieend, sorgfältig den Dreck von den Schalen gewaschen. Nachdem sie gesäubert waren, wogen sie noch zwei Pfund. Sie hatte sie zerkleinert und Knödel gemacht, die sie in den Resten der Wassersuppe kochte, die sie tagsüber bei der Arbeit aßen. Als sie sich zu ihrem Festmahl niederließen, war es nach Mitternacht. ‘Alles Gute zum Geburtstag, Liebling’, hatte Edek Zepler gesagt. ‘Möge es nie mehr einen so schrecklichen Geburtstag für dich geben.’"

    Die assoziativ angelegten Erzählsprünge zwischen den Zeiten, die bei aller Beiläufigkeit bis in die dunkelsten Tiefen der deutschen Vergangenheit leuchten, prägen die Romanstruktur. Genaugenommen ahmt dieses Erzählprinzip jedoch nur die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses nach, das nicht vergessen, sondern sich nur mit Hilfe der Verdrängung entlasten kann. Insofern wirken die wie eine Schocktherapie angelegten Erinnerungsschübe wie ein Art "Wiederkehr des Verdrängten", das sich unbedingt freie Bahn verschaffen muß. Dabei sollte man nicht vergessen, daß Lily Brett unter dem Einfluß solcher Schockwirkungen aufgewachsen ist. "Lange Jahre habe ich mir vorgemacht, daß nichts geschehen war", erzählt Lily Brett. "Ich haßte es, darüber nachzudenken, ich wollte nicht darüber nachdenken, nicht darüber sprechen. Ich war schon Anfang dreißig, als es anfing, mich zu überwältigen, der ganze Horror. Ich wußte auch schon vorher, daß es der reine Horror war. Ich wußte, daß meine Mutter und mein Vater fürchterliche Erlebnisse in ihrem Leben hatten. Ich wußte, daß sie mit den barbarischsten und niedrigsten menschlichen Verhaltensweisen konfrontiert waren. Aber als ich im Detail darüber nachdachte, wurde mir mit Schrecken klar, daß das wirklich stattgefunden hat - das muß seltsam klingen... Es ist so ein schwieriges Thema, deshalb versuchen viele Kinder, es zu verdrängen und sich vorzustellen, daß nichts passiert wäre. Ich war Mutter und hatte zwei Kinder, ich glaube, daß ich mich deshalb ernster damit beschäftigt habe. Ich fing dann an zu lesen, ich habe Buch für Buch gekauft und konnte nicht mehr aufhören. Ich habe jahrelang nichts anderes gelesen. Die Leute waren schockiert. Als mein Vater meine Büchersammlung sah, am Anfang, lange bevor ich Hunderte davon hatte, sagte er: Hör' auf zu lesen, das bringt Dich um! Und ich sah ihn an und sagte: Weißt du, du hast das alles mitgemacht, und ich soll das nicht lesen können. Ich habe genug Abstand. Ein Buch hat noch nie einen umgebracht."

    Lily Brett schreibt wie eine Bekennende. Die Worte scheinen aus ihr herauszufließen: "Einfach so", aber sie überfluten sie nicht. Sie bewegt sich überwiegend in vertrautem jüdischem Milieu. Esthers Mann ist zwar ein Gojim, seine Klientel stammt jedoch aus den Kreisen reicher assimilierter New Yorker Juden. Deshalb dominiert der New Yorker Lifestyle, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches, und gelegentlich gewinnen modische Attitüden und Geschwätzigkeit die Oberhand über den ironischen Grundton. Variationsreich kommt immer wieder die Frage: Was ist Jüdisch? Ob "assimiliert", "analysiert" oder "auf Zores abonniert". Lily Brett gelingt es, einen Erzählbogen über neun Monate zu spannen, der sich nicht zufällig mit der Schwangerschaft von Freundin Sonia deckt. Auch die Stimmung nähert sich, vom selbstanklägerischen Unterton einer vielleicht zu naiv gezeichneten jüdischen Tochter mit einer tragischen Erinnerung an eine schwer traumatisierte und an Krebs verstorbene Mutter kommend, immer mehr dem Lebensgefühl des überlebenstüchtigen Vaters an. Sonias Niederkunft - es sind auch noch Zwillinge - und Edek Zeplers Hochzeit mit einer Überlebenden-Witwe verbinden sich zuletzt zu einem symbolischen Jom Kippur; eine Versöhnung mit dem Leben, nicht mit den Peinigern. Lily Brett nutzt ihr Privileg, Authentisches mit Fiktionalem nach freien Stücken zu mischen, in humorvoller und zuweilen frivoler Manier, um zuletzt in ein großes Gelächter auszubrechen.