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Eingemauert im Armenviertel

Um die Ausweitung der Slums zu stoppen und wohl auch um den reichen Anwohnern den Anblick der Armut zu ersparen, baut die Regierung in Rio de Janeiro Mauern um die Armenviertel, die sogenannten Favelas. Insgesamt sollen rund elf Kilometer Mauer gezogen werden. Intellektuelle sehen darin einen ersten Schritt zur Ghettobildung, doch einige Anwohner haben sich mit dem Gedanken angefreundet.

Von Gottfried Stein |
    Bauarbeiten in der Favela Santa Marta in Rio de Janeiro: Am Rande des Armenviertels oberhalb des Stadtteils Botafogo ziehen Arbeiter eine gut drei Meter hohe Mauer den Hang hinauf. Bei Baubeginn Anfang des Monats schrien Medien empört auf, und Nobelpreisträger Jose Saramago wetterte per Internet gegen Diskriminierung und Ghettobildung. Jose Maria Hilario, Präsident der Anwohnervereinigung, sieht das anders:

    "Diese Begrenzung gibt es seit mehr als 70 Jahren. Wir haben hier unsere Grenze, und auf der anderen Seite auch. Hier ist das Grundstück des Buergermeisters, danach der Corcovado und das Grundstück des englischen Konsulats. Und auf der anderen Seite gibt es auch Privatrundstücke. Santa Marta hatte also immer schon seine Grenzen. Wir hier sind daran schon gewöhnt."

    Aber Santa Marta ist erst der Anfang: Die Landesregierung will etwa 40 Favelas im Stadtgebiet von Rio einsäumen. Damit will sie ein weiteres Auswuchern der Slums verhindern, die Wälder in den von Favelas überwucherten Hängen in Parks umwandeln - und Bandenkriege eindämmen. Rubem Cesar Fernandes, Direktor der Nichtregierungsorganisation "Viva Rio":

    "Das ist das Paradoxe an Rio - woanders wären dies die Nobelviertel. Überall in der Welt ist die Höhe das Noble, das Tiefe der Ort der Armen. Aber hier ist es genau umgekehrt. Deshalb gibt es eine große Sorge wegen der unkontrollierten Ausdehnung, und nicht nur der Favelas, sondern auch der Viertel der Mittelklasse. Die Frage ist, wie man das begrenzt. Das ist schwierig. Denn die informelle Baudynamik ist sehr stark."

    Ein Waldstück am Oberrand der Rocinha, der größten und berüchtigtsten Favela von Rio: Hier wohnt Lucia Rodrigues, die Direktorin der Anwohnervereinigung. Die ganzen Häuser und Baracken hier werden jetzt abgerissen, die Bewohner bekommen Ersatz zugewiesen:

    "Ihr seid hier hoch über der Rocinha, im Portao Vermelho, einem Wald. Das hier ist so wie die Rocinha früher war - alles grün. Sie wollen hier eine Mauer ziehen, nur dass die Leute hier das nicht so toll finden. Hier wollen sie einen Stadtpark einrichten, um die Vögel und die Affen zu schützen. Deshalb wird genau hier unten die Mauer gezogen werden."

    Von hier oben hat man einen atemberaubenden Ausblick: Den ganzen Hang hinunter auf engsten Raum ineinandergeschachtelte Häuser, in denen eine Viertelmillion Menschen leben; gut zwei Kilometer entfernt der Zuckerhut, daneben die Strände von Copacabana und Ipanema. Direkt unter der Rocinha liegt das Nobelviertel Tijuca. Überhaupt sind vor allem Slums in unmittelbarer Nachbarschaft zu besseren Viertel betroffen. Zufall?
    "Das ist schon eine Diskriminierung. Die Leute werden keinen Kontakt mehr zum Wald haben. Okay, es geht darum den Urwald vor weiterem Schaden zu bewahren. Aber es müsste ja keine Mauer sein, sondern zum Beispiel ein Radweg. Die Menschen aus den Risikogebieten zu entfernen, ist richtig. Da sorgt man sich um die Menschen, um den Wald, um das Grün. Aber eine Mauer zu errichten - das halte ich nicht für richtig."

    Natürlich wird viel spekuliert: Man wolle die Favelas aus der Stadt drängen, heißt es, wegen der Fußballweltmeisterschaft 2014 und eventuell der Olympiade zwei Jahre später. Rubem Cesar Fernandes von "Viva Rio" glaubt, die Leute hätten es verstanden, wenn man mit ihnen vorher gesprochen hätte. Aber so?

    "Die Mauer ist eine brutale Lösung, eine Begrenzung, um Trennlinien zu ziehen."

    In der Favela Santa Marta, wo angeblich das Pilotprojekt gestartet wurde, regt das Thema kaum jemanden auf. Hier wurden die ersten der insgesamt über elf Kilometer Mauern gezogen, für die das Land 13 Millionen Euro ausgibt. Santa Marta ist ein Schmuckstück, den 10.000 Bewohnern gehe es gut, meint Jose Mario Hilario von der Anwohnervereinigung:

    "Hier hat die Landesregierung viel Geld investiert. Wir haben hier eine Bergbahn, mit der die Leute hoch und runter fahren können. Über 100 Familien wurden schon umgesiedelt. In mehr als 80 Prozent der Häuser wurde schon Abwasser gelegt. Und 119 Familien werden noch in andere Häuser umgesiedelt, weil sie in Risikogebieten leben beziehungsweise in Holzhäusern. Die Umgestaltung läuft also"."

    Tatsächlich haben sich die Favelas gerade in Rio de Janeiro sehr verändert, Stadt und Land haben viel investiert, und unter Präsident Lula beteiligt sich auch der Staat. Die Behauptung, hier würden Ghettos gebildet, teilen nur ganz wenige.

    Und für die ökologische Rechtfertigung des Mauerbaus spricht, dass in den letzten Jahren 200 Hektar Wald durch illegale Ausbreitung der Favelas vernichtet wurden. Es sind gerade die einst gefürchteten Favelas wie Santa Marta und die Rocinha, die immer mehr Leute anziehen, meint Rubem Cesar Fernandes von "Viva Rio":

    ""Die Rocinha hat sich schon in eine Stadt verwandelt. In der Rocinha selbst gibt es viele Arbeitsplätze. Man könnte sagen dass die Rocinha eine Luxus-Favela ist. Da hat man eine 'A-Klasse'. Mehr als 90 Prozent der Einwohner der Rocinha haben einen Farbfernseher. Sie haben Videos, Waschmaschinen, Strom. Oft ist er illegal abgezwackt, Leitungswasser gibt es, Abwasser nicht - aber da es am Berg liegt, läuft es hinab, hinunter an den Strand von Sao Conrado."

    Trotz allem haben die Favelas immer noch auch ihr hässliches Gesicht: voller Drogen und Gewalt, immer wieder Schauplatz von Schießereien zwischen rivalisierenden Banden oder mit der Polizei. Ein Argument für die Mauern lautet, es würde die Arbeit der Polizei erleichtern und fremde Banden aus der Favela abhalten. Lucia Rodrigues, die seit zwölf Jahren in der Rocinha lebt, hat ihre Zweifel:

    "Wenn die Polizei kommt, kommt die ja nicht durch den Wald, sondern sie kommt über die Strasse. Und mit Hubschraubern. Da wird aus der Luft nach unten geschossen. Mit Autos kommen sie in gepanzerten Wagen, und nicht durch den Wald. Diese Mauern haben nichts mit den Drogenbanden oder der Polizei zu tun. Denn wenn die Polizei kommt, schießen sie in alle Richtungen."

    Trotzdem wird zumindest in den Medien über den Gewaltaspekt - auch im Hinblick auf künftige Großereignisse - diskutiert. Denn noch immer sterben in den Favelas und auf den vorbeiführenden Straßen jährlich Dutzende von Menschen bei Schießereien, vor allem in blutigen Gefechten zwischen rivalisierenden Banden. Rubem Cesar Fernandes hält es zwar für möglich, dass dieser Aspekt bei den Mauernplänen eine Rolle spielt, ist aber skeptisch:

    "Das hängt von der Strategie dieser Gruppen ab. Ist man drinnen, kann die Mauer nicht die Polizei, aber den lokalen Banditen gegen eindringende Banditen schützen, wie ein mittelalterliches Fort. Im Prinzip beschützen die Mauern die lokalen Herren der Favela. Ist die Polizei in der Favela, so wird diese nicht von anderen Gruppen angegriffen. Ist die Polizei wieder weg, kommt die Invasion anderer Gruppen. Die alten Herren sind angeschlagen, was die Invasion durch eine andere Gruppe erleichtert."