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Einigkeit unter Theaterkritikern
Volksbühne Berlin ist "Theater des Jahres"

Mit einer rekordverdächtigen Dominanz küren Kritikerinnen und Kritiker die Volksbühne Berlin unter ihrem alten Intendanten Frank Castorf zum "Theater des Jahres". Das war so nicht erwartet worden. Auch bei den weiteren Auszeichnungen landet Castorfs "Faust"-Inszenierung weit vorn.

31.08.2017
    Frank Castorf verabschiedet sich von der Berliner Volksbühne
    Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter ihrem alten Intendanten Frank Castorf dominiert die jährliche Kritiker-Umfrage (dpa)
    Zugegeben: Das war absehbar; zumindest, dass es die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin in eine der Kategorien der alljährlichen Hitparade von "Theater heute" schaffen würde. Der weit über die Hauptstadt hinaus reichende (und weiterhin anhaltende) Krach um die Nachfolge für den "ewigen Intendanten" Frank Castorf nach einem Vierteljahrhundert im Chefsessel der Bühne hatte unbedingt das Zeug zum "Ärgernis des Jahres".
    Mit dieser Wertung schließt ja traditionsgemäß der Fragenkatalog, den für das zurückliegende Theaterjahr 46 Kritikerinnen und Kritiker beantwortet haben. Und das Ärgernis hat viele Facetten - einerseits taugte der Vorgang selbst dazu: als von der Berliner Politik inszenierte "feindliche Übernahme" durch den Kunst-Manager Chris Dercon. Aber auch dessen bislang kaum überzeugende Pläne für das Haus wie die Blockadehaltung durch die alte Truppe sind allemal Anlass genug für Ärger, Aufregung und Zorn der schreibenden Zunft.
    Nicht ganz so absehbar war allerdings die wirklich ungewohnt massive Dominanz, die dieses Theater auch mit den Inszenierungen des finalen Jahres und den hier arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern markiert. Das war nicht mal nach Castorfs Senkrechtstart vor 25 Jahren so. 18 von 46 Stimmen, mehr als ein Drittel also, wählten die Volksbühne zum "Theater des Jahres"; das ist unbedingt rekordverdächtig. Sehr weit abgeschlagen folgen die Bühnen in Basel und Dortmund.
    Castorfs "Faust"-Inszenierung topplatziert
    Und nicht genug damit - wer auch auf zweite Plätze schaut, entdeckt Castorfs voluminöse "Faust"-Inszenierung unter der Rubrik "Inszenierung und Dramaturgie" (wo Milo Raus "Five easy pieces" den ersten Rang besetzt), außerdem das Bühnenbild dazu von Aleksandar Denic (hinter dem Münchner "Räuber"-Raum von Ulrich Rasche) und auch noch "Faust"-Darsteller Martin Wuttke (hinter Joachim Meyerhoff als Solist in Thomas Melles Wiener Uraufführung "Die Welt im Rücken"). Genau so glanzvoll wie die Volksbühne insgesamt steht schließlich sogar Valery Tscheplanova ganz oben auf dem Treppchen, auch sie mit 18 Voten für Fausts Gretchen bei Castorf.
    Der topmodische Ersan Mondtag ist immerhin der Kostüme wegen für "Die Vernichtung" aus Bern dabei; und die Autorin Olga Bach ist mit eben diesem Text auch Nachwuchs-Dramatikerin des Jahres. Die Jury hatte diesmal übrigens kein fremdsprachiges neues Stück mehr zu küren, nur Heimisches - und mit Simon Stones "Überschreibung" von Tschechows "Drei Schwestern", in Basel gezeigt, liegt in dieser Kategorie nun ein besonderer Stück-Typ vorn, eben die Bearbeitung eines Originals, die selbst zum Original wird; das ist richtig neu. Zum Top-Trio der besten Theatertexte gehören aber auch "Mädchen in Not" von Anne Lepper, ausgezeichnet mit dem Dramatikerpreis in Mülheim, und "Vereinte Nationen" von Clemens J. Setz, auch im Mülheimer Wettbewerb und jetzt auf dem Weg in die Spielpläne.
    Chance für "normale" Theater im kommenden Jahr
    Unbedingt erwähnt werden muss auch die Konkurrenz-Hitparade, die "Die Deutsche Bühne" seit einigen Jahren betreibt; die Ergebnisse hier standen schon im August-Heft. Und Volksbühne hin, Volksbühne her - die Kritikerinnen und Kritikern hier, 68 immerhin (die aber auch Oper, Tanz und freie Theater-Ensembles auswählen), behielten durchaus auch das Gesamt-Tableau der Bühnen im Visier. Basel und Frankfurt liegen hier vor der Volksbühne.
    In jedem Fall aber war dies eine Ausnahme-Saison, eine Kür unter speziellen Bedingungen. 25 stilprägende Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin sollten nicht per Federstrich der Kulturpolitik beendet werden; da sind Kritikerinnen und Kritiker durchaus empfindlich und nachtragend, da blicken sie mit gutem Grund lieber mal konzentriert zurück als mutig und neugierig nach vorn. Und wer weiß: Dercons Strategien für Berlin stehen ja unter derart genauer Beobachtung, dass der Fall womöglich noch nicht abgeschlossen ist. Aber in jedem Fall haben nächstes Jahr auch wieder die "normalen" Theater gute Chancen auf vordere Plätze in der Hitparade.