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Einladung mit doppeltem Charakter

In der neuen Erzählung von Peter Waterhouse wird ein Wiener Schriftsteller und Übersetzer eingeladen, ein Tiroler Tal zu bereisen und zu beschreiben. Stattdessen aber gehen ihm ganz andere Orte durch den Kopf.

Von Joachim Blüthe | 02.02.2011
    Den Honigverkäufer im Palastgarten sieht man nur auf dem Schutzumschlag und auch dort ist er kaum zu erkennen. Scheinbar ist er nur eine Nebensache auf diesem Bild, das den Honig preist, dessen Farbe das eigentliche Sujet ist. Es ist eine andere Vorstellung davon, was wichtig ist in einem Bild oder in einer Erzählung. Insofern ist man bereits mitten in der Erzählung, die Peter Waterhouse geschrieben hat.

    "Zurück geht das Buch auf eine Einladung, ins Gebirge zu gehen, und der da eingeladen wurde, der hatte einen Unwillen, da hinauf zu gehen. Es stellte sich heraus bei dieser Einladung, dass es auch gar nicht möglich ist, da hinaufzugehen. Das war eine Einladung, in Tirol einen höheren Bergzug zu übersteigen in der Winterzeit bei hohem Schnee oder tiefem Schnee, das ist eher aussichtslos. So hatte diese Einladung einen merkwürdigen Doppelcharakter. Man solle diesen Weg gehen und beschreiben, etwas darüber schreiben und in einer Tiroler Zeitschrift veröffentlichen, aber besser solle man dort nicht gehen. Man könne dort gar nicht gehen, weil es zugeschneit ist im Winter. So entwickelt der Erzähler die Vorstellung, dass er eingeladen ist, dort nicht zu gehen, diese höheren Orte zu meiden oder überhaupt manche Stellen auf der Welt zu meiden und diese Stellen eben nicht mit Beschreibungen und Sprache zuzudecken, sondern sie einfach in Ruhe zu lassen."

    Was im Zentrum dieser Erzählung steht, lässt sich nicht sagen, es ist unbenennbar. Doch sie kreist immer wieder um dieses Zentrum, das keine Leerstelle ist, sondern ein Ort der Hoffnung, gerade weil er nicht definiert ist. Man muss nicht weit reisen, um ihn zu finden. Eher zeigt er sich in ganz alltäglichen Dingen und in der alltäglichen Sprache, wenn sie nur ein kleines Stück verschoben wird. Im Buch folgt auf die erste Einladung eine zweite. Sie bleibt zunächst ungeöffnet als weißes Kuvert auf dem Tisch liegen.

    "Als er es dann später öffnet, beginnt er diese zunächst nicht erkennbare Einladung wahrzunehmen. Tatsächlich ist es eine Einladungskarte zu einer Ausstellungseröffnung in Hamburg, aber ihm fallen ja dann andere einladende Elemente auf dieser Einladungskarte auf. Er reagiert nicht so sehr auf das Wort Einladung und Galerie und Hamburg und Vernissage, sondern reagiert ja auf eine Abbildung auf dieser Einladungskarte. Auf dieser Einladungskarte sind einige Wörter falsch geschrieben, und er fasst diese falsch geschriebenen Wörter als einladend auf."

    Fast ist es so als tue sich durch kleine Fehler und Versprecher ein Fenster auf, als öffne sich die Sprache für eine andere Realität, für das bisher Übersehene. Durch die kleinen Verletzungen des sprachlichen Korsetts, auch durch das hin- und herwenden der Wörter, wie es der Erzähler bei seiner intensiven Lektüre von Shakespeare, Dickens und Chesterton tut, aber nicht nur dort, wird die Sprache durchlässig für andere Bedeutungen, die nicht gesagt werden.

    "Dieser Satz, sie würde am nächsten Wochenende definitiv auf Urlaub fahren, enthält offenbar in nuce das Undefinierbare oder das Indefinite. Sie möchte am nächsten Samstag definitiv auf Urlaub fahren, wahrscheinlich, weil es gebucht ist oder der Flug stattfindet. Aber etwas anderes in ihr, sagt eben nicht definitiv, sondern definitiv und damit ist diese Grenze und der Termin, auch der Termindruck aufgelöst, aufgehoben. Plötzlich ist in diesem Wunsch, definitiv zu verreisen etwas Unbegrenztes aufgesprungen. Man hört ja schon im korrekten Satz, dass da ein Gegenteil mitschwingt. Also dieser Druck, es so sagen zu müssen, ich möchte definitiv auf Urlaub, zeigt ja schon auf die Falschheit auf das Ungeheure dieses Wunsches hin. Dass dahinter ein ganz anderer Wunsch steht und der sagt, ich möchte nie in Urlaub fahren, sondern ich möchte ein ganz anderes Leben. Das wünscht diese Frau am meisten, nicht am Samstag nach Capri zu fliegen, sondern jetzt, in dem Moment, wo sie spricht, das Paradies zu haben."

    Dieser Satz, gesprochen in einem Tankstellencafé, scheint Chestertons Definition zu bestätigen, der zur Folge das Undefinierbare das Unbestreitbare ist. Peter Waterhouse ist auf der Suche nach den Stellen, an denen etwas aufspringt, etwas Grenzenloses, vielleicht die Freiheit. Bei der Besetzung des Auditorium Maximum durch die Wiener Studenten und bei der Besetzung einer Volksschule am Rande der Stadt hat der Orte gefunden, an denen man einen Vorschein dieses undefinierbaren Zustands hätte bemerken können. Doch zuvor müssen wir noch an einen anderen Ort gehen, nach Ruanda. Das Buch springt zwischen diesen Orten hin und her, setzt sie in Beziehung zueinander. Die Begebenheit in Ruanda, bei einem Tribunal, in einer anderen Kultur, ist die rätselhafteste in diesem Buch.

    Wem begegnet sie, als sie da in dem Raum sitzt? Es sitzen mit ihr im Zimmer einige andere Frauen, und es sitzen aufgereiht ein paar Hockern Männer. Die Frau denkt daran und versucht sich zu erinnern, was ihr in diesen Wochen der Gewalt in Ruanda 1994 zugestoßen ist und möglicherweise ist der Täter im Raum, sehr wahrscheinlich ist der Täter im Raum. Sie spricht aber keinen einzelnen Menschen in diesem Raum an. Sie erzählt, was ihrem Kind passiert ist, das ihr entrissen wurde und spricht denjenigen, der das getan hat an, aber sie spricht niemanden in diesem Raum direkt und fokussiert an. Was heißt das? Spricht sie alle in diesem Raum an? Wer ist gemeint mit dem, was sie sagt, als sie dann zu dieser fast Apotheose kommt? Wenn sie sagt, jetzt sehe ich dich. Derjenige, der es getan hat, weiß es vielleicht, wer dieses du ist. Die anderen wissen es nicht. Sie geht ja noch einen Schritt weiter, indem sie sagt: Ich sehe, dass du zu mir gehörst oder zu uns oder zur Familie. Mit welchen Begriffen sollen wir darauf antworten? Die Erzählung versucht, an dieser Stelle keine Begriffe einzuführen, sondern versucht es darzustellen. Diese Redeweise der Frau, was sie da sieht, als sie sagt, jetzt sehe ich dich, das weiß ich nicht, was das ist.

    Etwas nicht sehen können. Etwas nicht einordnen können, aber es dennoch wahrzunehmen. Das könnte das unbenannte Zentrum dieses Buches sein. Den Wiener Autoritäten war diese Fähigkeit völlig fremd, als sie die Schule räumen ließen.

    "Plötzlich war da etwas in Gang gesetzt, dass ein bisschen so etwas wie ein heißlaufender kleiner Reaktor sein könnte, aber ein unschädlicher. Die Schule ist ein riesiges Gebäude am Stadtrand von Wien. Sie steht leer. Es liegt doch nahe, dass junge Menschen dort hineingehen und etwas machen. Das nach einer Woche durch Polizeibeamte wieder zu beenden und die Polizei dazu zu zwingen, diese Leute nachts um vier wieder herauszutragen. Wenn man es mit diesem schwierigen Gerichtsverfahren in Ruanda in Verbindung bringt, dann wird doch sehr deutlich, dass dieser Satz 'Jetzt sehe ich dich', den hat dort niemand gesprochen und auch niemand diese Haltung eingenommen. Daher auch dieses Insistieren in der Erzählung darauf, dass während dieses Bewohnens des leeren Schulhauses niemand dorthin gegangen ist und dort einfach nichts beobachtet hat. Sondern es sind tatsächlich Leute von Stadtverwaltung und sicher auch von der Polizei dorthin gegangen und haben eben beobachtet und sind zu dem Schluss gekommen, das räumen wir wieder auf. Wäre dort jemand hingegangen und hätte nichts beobachtet, dann wäre vielleicht die Würde der Sache erkannt worden."

    Dies ist ein Buch voller Fragezeichen. Ein Schriftsteller, das hat Karl Kraus gesagt, ist einer, der aus einer Frage ein Rätsel machen kann. Wer Peter Waterhouse lesen will, muss sich Zeit nehmen. In diesem Prozess der Entschleunigung verändert sich die Wahrnehmung. Mehr kann Literatur nicht leisten, und es gibt nur wenige Autoren, die es können.

    Peter Waterhouse: Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium Maximum.
    Verlag Jung und Jung, 221 Seiten, gebunden, 22,00 Euro.