Kurz vor seinem Tod 1998 gab sich Niklas Luhmann resigniert: Befürchtete er doch, all seine zahlreichen unvollendeten Werke würden im Altpapiercontainer landen! Was für eine quälende Vorstellung für jemanden, der sein Leben dem Schreiben gewidmet hatte:
Wenn ich nichts weiter zu tun habe, dann schreibe ich den ganzen Tag; morgens von 8:30 Uhr bis mittags, dann gehe ich kurz mit meinem Hund spazieren, dann habe ich noch einmal nachmittags von 14:00 Uhr bis 16:00 Uhr Zeit, dann ist wieder der Hund an der Reihe [...] Ja, und dann schreibe ich in der Regel abends noch bis gegen 23:00 Uhr [...] Wenn ich einen Moment stocke, lege ich die Sache beiseite und mache etwas anderes. Nämlich andere Bücher schreiben. Ich arbeite immer gleichzeitig an mehreren Texten.
Zum Glück waren Luhmanns Befürchtungen, was seinen Nachlass angeht, unbegründet. Die Fragmente wurden nicht, wie er es drastisch formuliert hatte: "einfach weggeschmissen". André Kieserling wertet vielmehr seit Jahren die geistige Hinterlassenschaft aus und publiziert das Wichtige. So, wie das Vorlesungs-Typoskript "Politische Soziologie" aus der Mitte der 1960er-Jahre. Luhmann war klar, dass er sich mit diesem Thema auf ein geistig hart umkämpftes Terrain begab, denn schließlich weiß der politisch Handelnde in gewissem Sinne immer schon selbst, was er will und unter welchen Umständen er handelt. Außerdem hat das politische Geschehen seit Langem zu wissenschaftlicher Besinnung und Kritik angeregt.
Luhmann geht davon aus, dass sich Politiker bei ihren Handlungen fragen, ob ihre Entscheidungen "richtig" oder "falsch" sind, aber vor allen Dingen, ob sie sich letzten Endes in der Währung politischer Macht bezahlt machen. Diese Unterscheidung zwischen "richtig" und "falsch" ist mittlerweile zum Allgemeingut geworden, auch am Stammtisch. Und da diese Perspektive so selbstverständlich erscheint, haben auch die politischen Theoretiker dieselbe Blickrichtung eingenommen: Sie seien zu Beratern geworden, die die gleiche Sprache sprächen wie die Politiker und alle anderen politisch Interessierten auch. Theoretiker, die aufgrund der gleichen Unterscheidungen urteilten wie jedermann: richtig – falsch; gut – böse; Freund - Feind.
Aber was ist daran zu kritisieren? Im Alltag natürlich nichts, aber, so Luhmann in einem Interview, eine wissenschaftliche Betrachtungsweise dürfe sich nicht vom alltäglichen Anschein "düpieren" lassen. Die Sozialwissenschaft müsse sich vielmehr von den wiederholten Gewissheiten über Politik freimachen. Denn eine der heutigen Gesellschaft angemessene Soziologie sucht das Handeln nicht durch Annäherung, sondern durch Abstandnahme, nicht in kongruenter Einstellung, sondern durch Anlegung inkongruenter Perspektiven zu erkennen.
Das hört sich, wie Luhmann selbst zugibt, "absurd" an: Die Politik völlig anders, als alle anderen zu betrachten – was sollte das bringen? Wer den Film "Der Club der toten Dichter" kennt, ahnt schon, worauf es hinausläuft. Dort fordert nämlich der unkonventionelle Dozent seine Schüler auch auf, einmal die Perspektive zu wechseln und ermutigt sie, auf ihre Pulte zu steigen. Einige finden das albern, andere geben sich brüskiert und wieder andere sind verblüfft, als sie sich, wie empfohlen, auf Schreibtische klettern: Eine kleine Veränderung für einen Menschen, aber eine riesige Differenz zum alltäglichen Einheitstrott. Und genau so argumentiert - im übertragenen Sinne - auch Luhmann: Man müsse einmal die Blickrichtung umdrehen. Weg vom einzelnen Macher oder politischen Entscheider und deren Tun oder Lassen. Und stattdessen hin zum Gesamtzusammenhang, zum "System":
Diese neue umweghafte Erkenntnisweise brachte sich vor allem in der Soziologie [...] zur Geltung, hatte aber [...] auch zahlreiche andere Geistesströmungen erfasst und verunsichert. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie die Begrenztheit des Handlungshorizontes, der vom Handelnden gemeinten Welt sprengte und dadurch in der Lage war, mehr Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten, als dem Handelnden selbst zugänglich sein kann.
In dieser Äußerung ist Luhmanns Zauberspruch versteckt: In Anbetracht der Fülle der Welt gelte es, "Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten" oder, wie er später kürzer und prägnanter formulieren wird: In der Moderne geht es in erster Linie um die "Reduktion von Komplexität". Darum, dass man sich auf das Wichtige fokussiert – und nur darauf.
Und dafür sind, laut Luhmann, im gesellschaftlichen Bereich Systeme da. Die Gesellschaft gliedert sich, um ihre vielfältigen Probleme zu lösen, in Teilsysteme. Diese sind jeweils für einzelne Funktionen zuständig: Das Wirtschaftssystem entscheidet über Geldhaben oder nicht; das Rechtssystem sagt, wer recht hat und wer nicht; das Kunstsystem erklärt, was gerade als Kunst verstanden werden soll und was als Kitsch verdammt werden muss. Und das politische System hat eben die Funktion, für, wie Luhmann es formuliert, "kollektiv bindende Entscheidungen" zu sorgen.
Dazu gliedert sich dieses Funktionssystem wiederum in drei Untersysteme: erstens in das politische-System-im-Besonderen, also in das Ein- oder Mehrparteiensystem. Zweitens in das System der Verwaltung - wozu Luhmann auch Parlamente und Gerichte zählt. Und drittens in das System des Publikums – das sowohl in den Rollen des Wählers, des Politikbeobachters als auch des öffentlichen Meinungsmachers analysiert wird.
Wer sich darauf einlässt, wird im besten Sinne irritiert, etwa wenn Luhmann sich zur DDR bis zum Mauerbau äußert. Oder wenn er sich in die große Tradition der deutschen Soziologie stellt: Max Weber, der Gründungsvater der Sozialwissenschaft hierzulande, hat bekanntlich die Rationalität der Bürokratie analysiert. Luhmann greift diesen Gedanken in der ihm eigenen Weise auf und vergleicht die Rationalität der Verwaltung mit der der Politik, mit dem Ergebnis: Parteipolitiker werden [...] ihre Führer, ihre Allianzen, ihre Selbstdarstellung und vor allem die Werte und Interessen, die sie fördern, sowie die Symbole, die sie ansprechen, auswählen unter dem Gesichtspunkt der Eignung als Mittel für das Formalziel des Wahlerfolges und nicht umgekehrt den Wahlerfolg bestimmter Programme oder Personen zuliebe suchen.
Geahnt haben wir es schon immer, nun haben wir es – von Luhmann – schwarz auf weiß: Parteiprogramme sind dazu da, Wahlen zu gewinnen. Aber Wahlsiege sind nicht dazu da, Parteiprogramme auch umzusetzen. Obwohl Luhmann dieses Vorgehen als "Pervertierung der normalen Werteordnung" bezeichnet, beschreibt er es trotzdem als funktional vorteilhaft:
Es handelt sich [...] nicht um pathologische Irrwege aus Kurzsichtigkeit, verwerflicher Eigensucht oder menschlicher Schwäche [...], sondern um sinnvolle Perversionen der öffentlichen Moral, ohne welche hohe Systemkomplexität nicht erreicht werden kann.
Luhmanns sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung lässt sich durchaus in die Gegenwart übersetzen. Beispiel: Während das Parteiensystem, also die Regierungskoalition, verzweifelt um die Zustimmung aller im Bundestag vertretenen Parteien zur Griechenlandhilfe rang, um die deutsche politische Geschlossenheit zu symbolisieren, wartete das System-des-Publikums, in Gestalt von fünf Professoren, nur darauf, dass das Politische-System-im-besonderen die Griechenlandhilfe verabschieden würde – um sofort darauf das System-der-Verwaltung, also in diesem Fall: das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Sachlage anzurufen.
Wer Spaß daran hat, sich derlei neuen Perspektiven auszusetzen, dem sei dieses Buch empfohlen. Auch wenn das mehrfach annoncierte Kapitel zur "Macht" fehlt und der Literaturapparat total veraltet ist. Zwar hat Luhmann erst nach 1984 seine Terminologie und methodische Form gefunden – und folgerichtig alles davor als "Nullnummern – der - Produktion" bezeichnet. Dennoch: Mit der "Politischen Soziologie" lässt sich die politische Welt einmal mit anderen Augen betrachten. Trotz des etwas zu lautstarken Marketinggetrommels für das Buch: Lassen Sie sich einfach mal – auf höchstem Niveau - irritieren!
Rainer Kühn über den von André Kieserling herausgegebenen Band "Niklas Luhmann - Politische Soziologie". Erschienen im Suhrkamp Verlag, 499 Seiten für Euro 29,80, ISBN: 978-3-518-58541-2.
Wenn ich nichts weiter zu tun habe, dann schreibe ich den ganzen Tag; morgens von 8:30 Uhr bis mittags, dann gehe ich kurz mit meinem Hund spazieren, dann habe ich noch einmal nachmittags von 14:00 Uhr bis 16:00 Uhr Zeit, dann ist wieder der Hund an der Reihe [...] Ja, und dann schreibe ich in der Regel abends noch bis gegen 23:00 Uhr [...] Wenn ich einen Moment stocke, lege ich die Sache beiseite und mache etwas anderes. Nämlich andere Bücher schreiben. Ich arbeite immer gleichzeitig an mehreren Texten.
Zum Glück waren Luhmanns Befürchtungen, was seinen Nachlass angeht, unbegründet. Die Fragmente wurden nicht, wie er es drastisch formuliert hatte: "einfach weggeschmissen". André Kieserling wertet vielmehr seit Jahren die geistige Hinterlassenschaft aus und publiziert das Wichtige. So, wie das Vorlesungs-Typoskript "Politische Soziologie" aus der Mitte der 1960er-Jahre. Luhmann war klar, dass er sich mit diesem Thema auf ein geistig hart umkämpftes Terrain begab, denn schließlich weiß der politisch Handelnde in gewissem Sinne immer schon selbst, was er will und unter welchen Umständen er handelt. Außerdem hat das politische Geschehen seit Langem zu wissenschaftlicher Besinnung und Kritik angeregt.
Luhmann geht davon aus, dass sich Politiker bei ihren Handlungen fragen, ob ihre Entscheidungen "richtig" oder "falsch" sind, aber vor allen Dingen, ob sie sich letzten Endes in der Währung politischer Macht bezahlt machen. Diese Unterscheidung zwischen "richtig" und "falsch" ist mittlerweile zum Allgemeingut geworden, auch am Stammtisch. Und da diese Perspektive so selbstverständlich erscheint, haben auch die politischen Theoretiker dieselbe Blickrichtung eingenommen: Sie seien zu Beratern geworden, die die gleiche Sprache sprächen wie die Politiker und alle anderen politisch Interessierten auch. Theoretiker, die aufgrund der gleichen Unterscheidungen urteilten wie jedermann: richtig – falsch; gut – böse; Freund - Feind.
Aber was ist daran zu kritisieren? Im Alltag natürlich nichts, aber, so Luhmann in einem Interview, eine wissenschaftliche Betrachtungsweise dürfe sich nicht vom alltäglichen Anschein "düpieren" lassen. Die Sozialwissenschaft müsse sich vielmehr von den wiederholten Gewissheiten über Politik freimachen. Denn eine der heutigen Gesellschaft angemessene Soziologie sucht das Handeln nicht durch Annäherung, sondern durch Abstandnahme, nicht in kongruenter Einstellung, sondern durch Anlegung inkongruenter Perspektiven zu erkennen.
Das hört sich, wie Luhmann selbst zugibt, "absurd" an: Die Politik völlig anders, als alle anderen zu betrachten – was sollte das bringen? Wer den Film "Der Club der toten Dichter" kennt, ahnt schon, worauf es hinausläuft. Dort fordert nämlich der unkonventionelle Dozent seine Schüler auch auf, einmal die Perspektive zu wechseln und ermutigt sie, auf ihre Pulte zu steigen. Einige finden das albern, andere geben sich brüskiert und wieder andere sind verblüfft, als sie sich, wie empfohlen, auf Schreibtische klettern: Eine kleine Veränderung für einen Menschen, aber eine riesige Differenz zum alltäglichen Einheitstrott. Und genau so argumentiert - im übertragenen Sinne - auch Luhmann: Man müsse einmal die Blickrichtung umdrehen. Weg vom einzelnen Macher oder politischen Entscheider und deren Tun oder Lassen. Und stattdessen hin zum Gesamtzusammenhang, zum "System":
Diese neue umweghafte Erkenntnisweise brachte sich vor allem in der Soziologie [...] zur Geltung, hatte aber [...] auch zahlreiche andere Geistesströmungen erfasst und verunsichert. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie die Begrenztheit des Handlungshorizontes, der vom Handelnden gemeinten Welt sprengte und dadurch in der Lage war, mehr Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten, als dem Handelnden selbst zugänglich sein kann.
In dieser Äußerung ist Luhmanns Zauberspruch versteckt: In Anbetracht der Fülle der Welt gelte es, "Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten" oder, wie er später kürzer und prägnanter formulieren wird: In der Moderne geht es in erster Linie um die "Reduktion von Komplexität". Darum, dass man sich auf das Wichtige fokussiert – und nur darauf.
Und dafür sind, laut Luhmann, im gesellschaftlichen Bereich Systeme da. Die Gesellschaft gliedert sich, um ihre vielfältigen Probleme zu lösen, in Teilsysteme. Diese sind jeweils für einzelne Funktionen zuständig: Das Wirtschaftssystem entscheidet über Geldhaben oder nicht; das Rechtssystem sagt, wer recht hat und wer nicht; das Kunstsystem erklärt, was gerade als Kunst verstanden werden soll und was als Kitsch verdammt werden muss. Und das politische System hat eben die Funktion, für, wie Luhmann es formuliert, "kollektiv bindende Entscheidungen" zu sorgen.
Dazu gliedert sich dieses Funktionssystem wiederum in drei Untersysteme: erstens in das politische-System-im-Besonderen, also in das Ein- oder Mehrparteiensystem. Zweitens in das System der Verwaltung - wozu Luhmann auch Parlamente und Gerichte zählt. Und drittens in das System des Publikums – das sowohl in den Rollen des Wählers, des Politikbeobachters als auch des öffentlichen Meinungsmachers analysiert wird.
Wer sich darauf einlässt, wird im besten Sinne irritiert, etwa wenn Luhmann sich zur DDR bis zum Mauerbau äußert. Oder wenn er sich in die große Tradition der deutschen Soziologie stellt: Max Weber, der Gründungsvater der Sozialwissenschaft hierzulande, hat bekanntlich die Rationalität der Bürokratie analysiert. Luhmann greift diesen Gedanken in der ihm eigenen Weise auf und vergleicht die Rationalität der Verwaltung mit der der Politik, mit dem Ergebnis: Parteipolitiker werden [...] ihre Führer, ihre Allianzen, ihre Selbstdarstellung und vor allem die Werte und Interessen, die sie fördern, sowie die Symbole, die sie ansprechen, auswählen unter dem Gesichtspunkt der Eignung als Mittel für das Formalziel des Wahlerfolges und nicht umgekehrt den Wahlerfolg bestimmter Programme oder Personen zuliebe suchen.
Geahnt haben wir es schon immer, nun haben wir es – von Luhmann – schwarz auf weiß: Parteiprogramme sind dazu da, Wahlen zu gewinnen. Aber Wahlsiege sind nicht dazu da, Parteiprogramme auch umzusetzen. Obwohl Luhmann dieses Vorgehen als "Pervertierung der normalen Werteordnung" bezeichnet, beschreibt er es trotzdem als funktional vorteilhaft:
Es handelt sich [...] nicht um pathologische Irrwege aus Kurzsichtigkeit, verwerflicher Eigensucht oder menschlicher Schwäche [...], sondern um sinnvolle Perversionen der öffentlichen Moral, ohne welche hohe Systemkomplexität nicht erreicht werden kann.
Luhmanns sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung lässt sich durchaus in die Gegenwart übersetzen. Beispiel: Während das Parteiensystem, also die Regierungskoalition, verzweifelt um die Zustimmung aller im Bundestag vertretenen Parteien zur Griechenlandhilfe rang, um die deutsche politische Geschlossenheit zu symbolisieren, wartete das System-des-Publikums, in Gestalt von fünf Professoren, nur darauf, dass das Politische-System-im-besonderen die Griechenlandhilfe verabschieden würde – um sofort darauf das System-der-Verwaltung, also in diesem Fall: das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Sachlage anzurufen.
Wer Spaß daran hat, sich derlei neuen Perspektiven auszusetzen, dem sei dieses Buch empfohlen. Auch wenn das mehrfach annoncierte Kapitel zur "Macht" fehlt und der Literaturapparat total veraltet ist. Zwar hat Luhmann erst nach 1984 seine Terminologie und methodische Form gefunden – und folgerichtig alles davor als "Nullnummern – der - Produktion" bezeichnet. Dennoch: Mit der "Politischen Soziologie" lässt sich die politische Welt einmal mit anderen Augen betrachten. Trotz des etwas zu lautstarken Marketinggetrommels für das Buch: Lassen Sie sich einfach mal – auf höchstem Niveau - irritieren!
Rainer Kühn über den von André Kieserling herausgegebenen Band "Niklas Luhmann - Politische Soziologie". Erschienen im Suhrkamp Verlag, 499 Seiten für Euro 29,80, ISBN: 978-3-518-58541-2.