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Einmal Gleichheit und zurück

Die estnischen Theatermacher Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper haben die poetischen Texte des russischen Reformpädagogen für eine Art Improvisation im Hamburger Thalia-Theater genutzt. Anhand einer siebenköpfigen Kommune wird der Weg zur Gleichheit aller und zurück porträtiert.

Von Michael Laages |
    Wer Anton Semjonowitsch Makarenko war? 1888 geboren, 1939 gestorben, so viel ist klar, einige Schulen in der alten DDR sind nach ihm benannt: ein Reform-Pädagoge in der Epoche der Revolution, aus der die Sowjetunion hervor ging.

    Praktisch aus dem Nichts und mit nichts als dem Glauben an neue Ideen zur Erziehung des "neuen Menschen" gründete er zu Beginn der 20er-Jahre Arbeitskolonien, in denen der Rest vom Rest versammelt wurde: Straßenkinder, verstoßene und verlorene Jugendliche, denen sonst nichts als das Vegetieren am Rande der Gesellschaft übrig geblieben wäre, bestenfalls eine Karriere in Kriminalität und/oder Prostitution.

    Mit ihnen kreierte Makarenko nichts weniger als eine Kommune: gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Überlebenschancen für alle. Eine dieser Kolonien war nach Maxim Gorki benannt, eine andere (und da werden die Quellen eher unklar) nach Felix Dserschinski, dem Gründer der "Tscheka", des Staatssicherheitsdienstes der jungen Revolution – behauptet wird darüber hinaus, Makarenkos Kolonien seien später auch eine Art Kaderschmiede gewesen für Tscheka-Spitzel.

    Darum aber geht’s nicht im "gesellschaftskritischen Poem", mit dem Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper das pädagogisch-soziale Experiment für’s Theater nutzbar machen.

    Die estnischen Theatermacher interessiert der Impuls, der am Anfang steht – die Befreiung, die in der Gleichheit liegt; eventuell sogar als Ausweg für die Welt von heute, deren globales Grundprinzip die Ungleichheit ist.

    Um einmal mehr diese Debatte anzustoßen, haben sie Makarenkos halbwegs poetische Texte über das eigene pädagogische Experiment als Ausgangspunkt genutzt: für eine Art Improvisation im Theater. Sieben Ensemble-Mitglieder, fünf Männer, zwei Frauen, exerzieren die Strategien durch, mit denen Ordnung geschaffen werden soll in der unübersichtlichen, ziemlich chaotischen Versuchsanordnung. Denn für die Kommune, fürs Kollektiv sind ja diese Einzelgänger, diese Kämpfer im Untergrund der Gesellschaft, die Überlebenskünstler am Rand eigentlich überhaupt nicht geschaffen.

    Kleine Schritte stiften Gruppendruck und Solidarität: Wer zum Beispiel wagt warum und auf welchem Weg (oder Umweg) den ersten Schritt zur Vernunft, hört zum Beispiel auf zu saufen? Irgendeiner beginnt, und schließlich leeren alle die verbliebenen Vorräte (große Mengen Wasserflaschen!) ins gemeinsame Waschfass; darin werden dann T-Shirts gewaschen. Als später eines fehlt, wird der erste Diebstahl aufgedeckt – und es gibt noch eine Menge mehr Bruchstellen für das Ziel von Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit. Es werden zum Beispiel auch Pferde angeschafft – und schon die Frage, wer sie pflegt und wer sie nutzen darf, sprengt wiederum das gedankliche Konstrukt gemeinschaftlicher Ziele. Gegen diese andauernde Gefährdung soll (wie beim Militär) Exerzieren helfen; und Drill stiftet ja tatsächlich Ordnung – wenn auch völlig absurde und blödsinnige. Der erste, der aussteigt und das System vollkommen sinnloser Ordnung in Frage stellt, ist prompt Verräter und Erlöser zugleich.

    Im zweiten, etwas zäheren Teil der Versuchsanordnung tritt die Kolonie ein ins Stadium fortgeschrittener Ökonomie. Das Ensemble hat sich umgezogen und ist jetzt sehr ordentlich ausgestattet, oben weiß, unten schwarz, und auch der optisch wunderbar gleichförmige Parkettboden vom Beginn wird Bohle für Bohle abgeräumt und stattdessen gehäckseltes Holz ausgestreut.

    Die Kolonie sät und erntet jetzt, sie pflanzt und pflegt Bäume – und sie entdeckt im Fort-Schritt natürlich immer auch ein wenig vom Fort-Schreiten: weg von der großen Utopie der Gleichheit, hin zu immer neuen Differenzierungen, die fürs Überleben wichtig sind.

    Ojasoo und Semper spielen sich allerdings nie und nirgends als Schlaumeier von heute auf und zeigen die Kommune nicht vor allem im Scheitern; im Gegenteil: Die Fundamental-Utopie vom Beginn hat eher ihre Sympathie – im Wissen um die Hilflosigkeit der utopielosen Zeit heute will sie wenigstens einer Vision nachspüren helfen, die sich noch richtig ernst und wichtig nahm; späteren Missbrauch inklusive.

    In einem langen Monolog quasi zur Pause durchkämpft Bruno Cathomas den ganzen Horizont der Aussichtslosigkeiten, die auf den Generationen heute lasten – Quintessenz ist unter anderem Makarenkos Verdikt von 1920: Auflösung der Persönlichkeit, Aufgehen in der Masse. Schluss mit dem zerstörerischen Ego-Trip, dem sich die Welt des siegreichen Kapitalismus verschrieben hat – "Fuck your ego" eben ...

    Cathomas, Alexander Simon und Sebastian Rudolph, Julian Greis und Sebastian Zimmler, Birte Schnöink und Franziska Hartmann, einander immer ruppig mit dem eigenen Nachnamen und "Du" anredend, also ziemlich privat, zeigen den welthistorischen Erziehungsdiskurs als ziemlich freies, auf der Bühne befreiend wirkendes Spiel mit Gedanken, Ideologien und Strategien. Das macht diese Begegnung mit den estnischen Erneuerern so speziell – unüberhörbar geht es ihnen um etwas, und unübersehbar wird in ihrer Theater-Vision ein furioses Spiel daraus.

    Weitere Informationen:
    Homepage Thalia Theater Hamburg