Durs Grünbein wartet mit der wahrscheinlich aus der Lektüre Paul Virilios gewonnenen Einsicht auf, dass die persönliche Erfahrung, im Humanismus Ziel und Ertrag eines Menschenlebens, heute nicht mehr zwischen den Generationen ausgetauscht wird und durch die "schiere Gegenwart" fast wertlos geworden ist. Die Gleichzeitigkeit aller Abläufe, so Grünbein, gab außerdem der Idee vom Reifeprozess den Rest. Andrej Stasiuk formuliert dies pointiert: Unsere Kinder fragen nicht mehr uns um Rat, sie wenden sich vielmehr an ihre Kinder. Besonders hervorzuheben ist der Essay von Hans Wollschlägers, der beste Text des Bandes. Zwischen Nachdenken und Erfahrung changierend, handelt er von der schrecklichen Einsicht, daß nicht nur der Körper, sondern auch die Gedanken der Menschen, scheinbar unsterbliche Ideen, zeitlose Formen der Erkenntnis altern können.
Wenn Wollschläger dann vorschlägt, das Zuviel des Wissens der Weltgesellschaft zu steuern, indem man diversen Wissenschaften die Zuschüsse entzieht und das Nachrichtenwesen zu drosseln, gar zu strangulieren - entsteht einer der in diesem Band seltenen Momente der Ketzerei, die Adorno das Wesensmerkmal des Essays nannte. Mehr von dieser Ketzerei, mehr von Swiftscher Boshaftigkeit wäre notwendig gewesen, um den Eindruck der Strickjackenweisheit und des Karamelbonmots verschenkenden Großvaters zu konterkarrieren, den die Lektüre von "Einmal und nicht mehr" über weite Strecken hinterlässt. Das liegt besonders daran, dass die von der Gesellschaft verdrängten Probleme des Alters nicht zur Sprache kommen. Kein Wort z.B. vom Stumpfsinn und der Hoffnungslosigkeit in Altersheimen, wie sie die Italienerin Sandra Petrignani in ihrem Buch über die "Veggio", die Alten, darstellt.
Und nur ein Autor - wiederrum ist es Hans Wollschläger - weist auf die wirtschaftlichen Probleme alter Menschen hin: Ganz nebenbei erwähnt er, er habe sich seine Rente ausrechnen lassen: 1.220,87 DM. Die Zahl geht einem nicht aus dem Kopf. 1.220,87 Rente bekommt der Mann, dem wir die Übersetzung des Ulysseus von James Joyce zu verdanken haben, um nur eine seiner Meriten zu nennen. Gottfried Benns Rede über das Altern als Problem des Künstlers, gehalten 1954, in den Geburtsjahren der sozialen Marktwirtschaft, trifft also noch heute, trotz Rentenreformen und Künstlersozialkasse zu: "Wer schmal gestellt war, malte lebenslänglich, ohne einen Sou in der Tasche, seine welligen Oliven, wer im Zeitalter lebt, das den Weltraum erobert, blickt aus seinem Hinterzimmer auf einen Kaninchenstall und zwei Hortensien." Da die mit dem Alter verbundenen existentiellen Probleme weitgehend ausgeblendet werden, wären die Initiatoren des Projektes gut beraten gewesen, den literarischen und philosophischen Focus zu erweitern, Beiträge von Schriftstellern aus anderen Kulturkreisen aufzunehmen, um den engen und bekannten euroamerikanischen Denkhorizont zu überwinden.
So bleibt der Band "Einmal und nicht mehr" letztlich ein Plazebo. Man kann ihn lesen und denkt, man hätte sich mit dem Alter befasst. Sich beunruhigen oder weiterdenken muß man nicht. Wer das möchte, sollte auf ein anderes Buch zurückgreifen. Carl Amerys "Über das Alter. Revolte und Resignation". Das Buch ist genauso dick wie "Einmal und nicht mehr", kostet genauso viel, ist um vieles anspruchsvoller, welthaltiger, illusionsloser. Mit einem Wort: älter.