Ein britischer Schaffner aus dem Eurostar über seine internationale Kundschaft:
"Ein deutscher Reisender trägt sein Problem vor und erwartet eine Lösung. Ein Engländer hingegen erwähnt nur beiläufig, dass er ein Problem hat, aber wenn man ihm eine Lösung anbietet, sagt er' um Himmels willen, ich wollte doch gar nicht, dass Sie etwas unternehmen. Und bei einem Franzosen gilt es erst einmal herauszufinden, was er überhaupt will, sehr schwierig, weil er sich so umständlich ausdrückt."
Und ein Lokführer aus Moskau, der auch nach mehr als 25 Jahren keine Langeweile kennt:
"Erstens liebe ich meine Arbeit ganz einfach, sie gefällt mir, das Fahren eben, Menschen zu befördern, Güter. Vielleicht ist das mein kleiner Anteil, wie ich meinem Staat dienen kann."
Für viele ist der Beruf heute weniger Berufung als nur noch ein Job - eine Einkommensquelle, mit Fragezeichen. Flexibel statt sicher, spontan statt verlässlich. Nirgendwo ist der Zeitgeist der Globalisierung so spürbar wie im Arbeitsleben. Nicht jeder Beruf verschwindet dabei, aber fast jeder verändert sich, Knicks und Umbrüche nicht ausgeschlossen. Das macht Arbeitswelten heute mehr denn je zu Lebenswelten. Und das ist auch der Titel unserer Sendereihe, mit der wir den Programmschwerpunkt "Werkstatt Europa" des Deutschlandfunk begleiten. Heute also Lokführer in Europa, ein Männerberuf, Ausnahme: Die Trambahn.
"Der erste Tag, zum ersten Mal allein, ohne Lehrfahrer, und selbst verantwortlich für diesen Riesenzug, und dann die vielen Fahrgäste auf der gefürchteten Linie 20: Das ist hart.
Aber bis auf ein paar verlängerte Bremswege ist eigentlich alles ganz gut gegangen, und ich, Roberta Laub 5 -wegen der 'Verwechslungsgefahr' hängt immer diese '5' an meinem Namen - ich rattere mitten in München zwischen Sendlinger Tor und Stachus dahin und bin gerade dabei, zufrieden Bilanz dieses ersten Tages zu ziehen.
Dann ein kurzer Blick auf die Wagenuhr: Oh Gott, schon mehr als 7 Minuten Verspätung! Da wird mir gleich der Hintermann am Puffer hängen. Um Himmels willen, da ist ja noch die Weiche. Links, nein rechts, nein, doch links. Schon drüber. Wo fährt der Zug denn jetzt hin?! Ich bin auf dem Gleis von der Linie 18. Mich trifft der Schlag.
'Zentrale, bitte für Linie 20, Kurs 6.'
'Kommen Sie auf Kanal 2.'
'Zentrale, ich hab mich verfahren und steh mit dem 20er im 18er Gleis am Stachus ...'
'Ja, dann fahren Sie Umleitung über Ottostraße, Karlstraße zum Stiglmaierplatz und weiter auf den Linienweg.'
'Verstanden, danke.'"
Das Büchlein "Tramfrau" von Root Leeb. Seitdem die Erinnerungen der ehemaligen Straßenbahnfahrerin 1994 zum ersten Mal erschienen, hat sich einiges verändert auf dem Gleis. Aus den kommunalen Verkehrsbetrieben sind vielerorts Aktiengesellschaften geworden. Arbeitsplätze wurden ab und neue Techniken eingebaut. Eine weibliche Stimme aus der Konserve sagt heute in vielen Großstädten dialektbereinigt die Haltestellen vom Band an. Das Quietschen, Klappern und die gemütliche Langsamkeit, die Tram- wie auch Eisenbahnfreunde so lieben, finden die Konzernleitungen der nationalen Bahn AGs nicht mehr zeitgemäß.
Nur ein Land, mitten in Europa, setzt auf Bewährtes. Als Deutsche und Franzosen schon längst von Hightech und Businessclass auf der Schiene träumten, sagten die Schweizer per Volksabstimmung nein. So ist ihnen ein Zugsystem erhalten geblieben, das vorbildlich an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet ist. Nirgendwo in Europa ist das Bahnnetz dichter als in der Schweiz.
Die SBB ist Volksbahn geblieben. Einzig zwei neue Hochgeschwindigkeitstrassen leisten sich die Eidgenossen, eine davon führt durch den St. Gotthard, eine Reaktion auf den drohenden Auto-Verkehrskollaps im Transitland Schweiz. Die neuen, schnellen Röhren werden eine Umstellung sein für die Lokführer, aber nicht die einzige: Der Ton bei der SBB sei schärfer geworden in den letzten Jahren, sagen sie, und die Strukturen härter. Aber ihre Arbeitsplätze, die sind weitgehend sicher. Das und Tempo 120 reichen schon für ausreichend Glücksgefühle im Führerhäuschen. Knut Benzner ist mit eingestiegen.
Wo die Bahn noch Volksbahn ist - Die Schweiz und ihre SBB
"Ich weiß nicht, was jetzt für ein Führer da drauf ist, das kann ein Züricher sein, nehme ich an, ich glaube, der Zug kommt von Zürich, es kann ein Erstfelder sein oder es kann ein Tessiner sein."
Erstfeld: die vorletzte Station vor dem Nordportal des Gotthard-Tunnels. Herbert Roseng, 64, Erstfelder, war Lokführer, er ist in Rente und kümmert sich, ehrenamtlich, um die Geschichte der SBB, der Schweizerischen Bundesbahn. Roseng fährt mit, weil der eigentliche Lokführer eigentlich nicht reden darf, nicht reden sollte .Er muss sich schließlich auf die Strecke konzentrieren.
Ein Gang durch die enge Lok nach vorne: Es riecht nach Öl, die Transformatoren summen, Metall und Eisen glänzen. Im oder auf dem Führerstand. Peter Angele - der dann doch redet. Ostschweizer..
"Von Heiden im Appenzellerland."
Seit 1973 Lokomotivführer. Verheiratet.
"Jaha, gewesen, ja, hahaha. Ich lebe zusammen jetzt mit einer Partnerin."
Seit 1974, seit Ende seiner Ausbildung, fährt Angele auf dieser Strecke. Seit einigen Jahren mit dieser Lok.
"Das ist eine RE 44 Typ 2, die hat 80 Tonnen Gewicht und Maximalgeschwindigkeit 140."
Und fast ehrfurchtsvoll erinnert er sich an das Krokodil, an diese schwere, achtachsige E-Lok aus den 20ern des letzten Jahrhunderts, die mit ihren langen Vorbauten und dem geduckten Mittelteil extra für den Gotthard entwickelt wurde.
"Ja, ich hatte mal das Glück, von Gisikon nach Luzern auf einer Krokodil zu fahren, allerdings noch in der Ausbildungszeit, und während der Ausbildung am Gotthard hatte ich auch noch das Glück, auf einer Krokodil-Lok dabei zu sein."
Durch einen Tunnel, die RE 44 Typ 2 gibt wenig Licht. Herbert Roseng, der Begleiter:
"Ja ja, ja, weil wir brauchen, wir müssen die Signale sehen, wenn es Signale hat im Tunnel, in den Kehrtunneln hat es dann, und das reicht, wenn wir die sehen, weil wir können ohnehin nicht auf Sicht Distanz halten."
Über die Reuss, noch ein Tunnel, oberhalb der Reuss und der Autobahn entlang, Wassen, die Kirche von Wassen zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal - jeweils aus einer anderen Perspektive. Diese ganz besondere Strecke.
"Hähäa, jaha. Wir sehen wieder die Kirche von Wassen und das Dorf."
Angele blickt in den Rückspiegel.
"Jawohl, genau, weil äh, muss man schauen, dass es nicht irgendwo klangt, bergauf wird es weniger von den Bremsen sein, aber es kann auch mal etwas anderes sein, was ich auch ein mal erlebt habe."
60 wird er. Weißer Haarkranz, weißer Vollbart, ein rundes, freundliches Gesicht. Ob er im Winter fährt oder im Sommer.
"Das spielt eigentlich keine Rolle. Es hat alles seine Reize."
Lawinen, Unwetter, Sonnenschein mit glasklarem Himmel - er hat alles erlebt.
Göschenen, das Nordportal des Gotthard-Tunnels, in 1111 Metern Höhe: der letzte Halt vor dem Tunnel.
"Ja, genau, ja, da ist schon der Tunnel, und zwar der Haupttunnel, den Sie rechts sehen, links ist der Nebentunnel, das ist an und für sich nur eine Bahnhofsverlängerung. Ja, nein, es sind schon 200 Meter entfernt, also vom Portal entfernt. Wir fahren schon ab, wir sind drei Minuten zu spät."
Die holt er auf. 15 Kilometer durch das Gotthard-Massiv: Bis zur Mitte steigt, dann fällt die Strecke. Zweigleisig. Tunnelangst? Kaum.
"Nein, ich habe bis jetzt noch nie Angst gehabt. Am Anfang im Tunnel zwar nicht, aber vor allem in Kurven hatte ich schon manchmal ein mulmiges Gefühl, ob alles auf dem richtigen Gleis ist."
120 fährt Angele nun, und wie lange dauern die Fahrten hindurch?
"Äh, die dauern ungefähr elf Minuten."
Uns kommt ein Zug entgegen.
"Aber auf dem anderen Gleis."
Hoffentlich.
"Ja sicher."
Angele grüßt den entgegenkommenden Lokführer. Er ist in Luzern ausgebildet worden. Er kann theoretisch eine Lok auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, weil sein erster Beruf der eines Elektromechanikers war. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, weil er so selten zu Hause war. Und die Kinder?
"Im Kleinkinderalter haben sie gerne mit mir in der Stube gespielt, also ich konnte da auch etwas machen, allerdings war die Frau anderer Meinung, leider."
Warum Angele Lokomotivführer werden wollte? Na, das liegt doch auf der Hand.
"Das war mein Bubentraum. Also ich wollte immer. Meine ganze Berufswahl, war eigentlich ausgerichtet auf den Lokführer."
Airolo, Tessin.
"Airolo, ja, unsere Fahrt ist zu Ende, ja."
Angeles Fahrt geht weiter, bis Chiasso. Lokführer, nach wie vor sein Traumberuf.
"Ja genau, ja, ja."
In Rente will er trotzdem bald.
"Ich möchte an und für sich, dass ich Mitte nächstes Jahr in die Rente gehen möchte, dann habe ich 35 Dienstjahre - und das reicht."
Die Eisenbahn liegt der Europäischen Union durchaus am Herzen, denn sie rollt über Grenzen einfach hinweg, und sie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor - in Zeiten des Klimawandels erst recht. Also will Brüssel mehr Rechte für Bahnkunden und mehr Wettbewerb auf der Schiene. Drei so genannte "Eisenbahn-Pakete" sollen die gesetzliche Grundlage schaffen. Die Praxis sieht dagegen schon schwieriger aus. Österreich lässt keine Lok ohne speziellen Außenspiegel aufs Gleis. Dänemark, Deutschland und Italien streiten um die Feuerlöscher: Kohlendioxid, Schaum oder Pulver, wer an der Grenze die falsche Füllung in der Flasche hat, kann den Rückwärtsgang einlegen. Schikane und Marktabschottung seien das, sagen die Kritiker und stellen fest: Die Nationalstaaten treten auf die Bremse. In der Wirtschaft ist das Interesse am Auslandsgeschäft hingegen groß, auch außerhalb der EU. Die Deutsche Bahn setzt zum Beispiel verstärkt auf den Güterverkehr nach Russland, ein Projekt, das Polen und Balten zwar mit Argusaugen verfolgen, aber die Russen sind mit Enthusiasmus dabei.
Das nötige Know-how besitzen sie auch, denn die Eisenbahn gilt in dem riesigen Land seit jeher als Rückgrat des russischen Güterverkehrs. Und stolz ist man bis heute trotz veralteter Loks und grassierender Korruption. Die Belegschaft muckt dennoch nicht auf. Im Gegenteil, der alte Mythos aus Sowjetzeiten gilt viel, schließlich war man mal wer, ein Vorzeige-Proletarier. Heute ist auch die russische Bahn eine Aktiengesellschaft, die aber weiterhin dem Staat gehört. Kapitalismus auf russisch. Robert Baag über einen Helden der Arbeit.
Noch immer ein Hauch von Proletarier-Adel - Ein Lokführer aus Moskau
So ein bisschen dünsten die Backsteinmauern des fast 100 Jahre alten dreistöckigen Gebäudes immer noch Sowjetatmosphäre aus. Sichtlich in die Jahre gekommenes dunkelbraunes Schleiflackmobiliar, an der Wand hängen Topfpflanzen von einem Drahtgestell, aber unter der Zimmerdecke ist auch eine große goldfarbene Ikone angebracht. Deutlichster Hinweis auf die neue Zeit im Land, hier beginnt das Reich des Andrej Olegovic Giretsch. Seit September ist er der Chef des Moskauer Rangier- und Verteiler-Bahnhofs an der Burakov-Straße, der an ein Wohngebiet aus den 50er, 60er Jahren grenzt.
Höchstpersönlich bringt er den Besucher zu Valerij Anatol'evic Tolmatschov, einem von seinen 16 Maschinisten 1. Klasse, wie hier die lang gedienten Lokführer offiziell genannt werden. Der Natschalnik, der Chef also, wird seinem Untergebenen die nächste Zeit nicht von der Seite weichen, notfalls Antworten ergänzen, das eine oder andere Stichwort zu liefern versuchen.
Aber schmuck sehen sie beide aus in ihren dunkelblauen Uniformen, der Vorgesetzte und sein untersetzter, schwarzhaariger Lokführer. Dessen lebhafte graue Augen lächeln freundlich und einladend:
Ein paar Schritte noch an den Gleisen entlang. Wie zur Parade aufgestellt stehen sie dort: grün, gelb und silbern, diese Farbtöne dominieren im Anstrich der Lokomotiven. Und da, Tolmatschov bremst seinen Schritt, da steht sie:
"So, hier ist meine E-Lok, eine tschechische Maschine vom Typ Tsche-Es-2-K-A. Sie hat gerade in unserer Fabrik in Jaroslawlj eine Generalüberholung bekommen: 'Kappremont' - Daher das Kürzel 'K-A' am Ende."
Tolmatschov nimmt im Fahrersessel Platz, routinierte Blicke über die Instrumente, jeder Handgriff sitzt, ein kurzer, verstohlener Seitenblick zu seinem Chef:
"Unsere Arbeit beginnt mit der Übernahme der Lokomotive. Nein, stopp, die ärztliche Untersuchung, die kommt zuerst, dann werden wir eingewiesen, anschließend kontrollieren wir das Fahrwerk, das Druckluft-System. Jetzt rollen wir zum Kontrollposten und hängen die Waggons an. Wie es der Fahrplan vorsieht, geht es dann los vom Kasaner Bahnhof. Den haben übrigens deutsche Kriegsgefangene gebaut."
Moskau - Rjazan, Rjazan – Moskau, seit einem Vierteljahrhundert befährt der mit einer Kindergärtnerin verheiratete Tolmatschov nun schon diese Strecke: rund 200 Kilometer nach Süden, und wieder 200 Kilometer zurück nach Norden. Andere hätten inzwischen wohl die Langweile und der Überdruss überwältigt. Doch der in Omsk geborene Westsibirier lehnt sich entspannt zurück. Er kann das nicht verstehen:
"Nein. Erstens liebe ich meine Arbeit ganz einfach, sie gefällt mir. Wie kann sie einem da über werden? Aber es ist schwer zu sagen, was mir so an ihr gefällt. Das Fahren eben, Menschen zu befördern, Güter.. Vielleicht ist das mein kleiner Anteil, wie ich meinem Staat dienen kann."
Etwa fünf Stunden, solange dauert unser Arbeitstag - von der Übernahme der Lokomotive bis zur Abgabe im Depot. Im Bahnhof Rjasanj können wir uns ausruhen, bevor wir die Rückfahrt nach Moskau antreten."
An die sowjetischen Zeiten und Arbeitsbedingungen erinnert sich Tolmatschov sehr gut. Als er sich - eher zufällig, wie er sagt - Anfang der 80er Jahre entscheidet, Lokführer zu werden, regiert noch die Kommunistische Partei der Sowjetunion unter ihrem Generalsekretär Leonid Breschnew. Bergleute, Stahlarbeiter und Eisenbahner, das ist damals der von der Propaganda gehätschelte Adel unter den Werktätigen. Valeri Tolmatschovs Selbstverständnis hat sich seither nicht sonderlich geändert:
"Ich gehöre zur Arbeiterklasse", beschreibt sich Tolmatschov knapp und ohne zu zögern. Bis zum Schluss werde das so bleiben, bis zur Rente. Obwohl vom Gehalt her, das räumt er ein, nähere er sich eigentlich schon dem Mittelstand an:
Umgerechnet etwa eintausend Euro pro Monat verdient er. Zu Sowjetzeiten waren es rund 500 Rubel, fast soviel wie ein Pilot bekommen hat, auch damals ein überdurchschnittlich guter Lohn. Doch Vergünstigungen, die gebe es auch heute noch:
"Die medizinische Versorgung übernimmt die Eisenbahngesellschaft. Für uns ist sie umsonst. Wir haben alle eine Unfallversicherung, die eventuelle Arbeitsunfähigkeit abdeckt. In Chost, am Schwarzen Meer, besitzt die Eisenbahngesellschaft ein Erholungsheim, das wir benutzen können. Nur die Schulen, die Kindergärten und -krippen, die wir früher hatten, die gibt es jetzt nicht mehr."
Mit 55 Jahren wird er wie alle seine Kollegen in Rente gehen können. Ob er dann wie viele Eisenbahner-Veteranen noch freiwillig weitermacht bis zum 60. Lebensjahr, das weiß er heute noch nicht.
Zufrieden wirkt er am Ende, sein Vorgesetzter übrigens auch Nur dass sein 18jähriger Sohn gerade Koch lernt, das wurmt den Moskauer Lokomotivführer Valerij Tolmatschov dann doch ein bisschen:
"Ich hab ihn paar Mal auf Fahrten mitgenommen, wir haben nämlich solche Familien, Eisenbahnerdynastien. Eigentlich hätte ich schon gewollt, dass auch er Eisenbahner wird. Aber irgendwie war das dann wohl doch nichts für ihn. Na ja, unsere Arbeit ist eben nicht leicht. Sie ist schwer.""
"Natürlich haben wir alle unsere Gründe, Trambahn zu fahren.
Der einfachste Grund: Es gab gerade keine andere berufliche Möglichkeit. Von denen springen viele wieder ab, steigen aus für immer, lassen Trambahn Trambahn sein und kehren reumütig unter ihre Autos in den Kfz-Werkstätten, zum Fliesenlegen, in ihre Backstube oder in irgendwelche Büros zurück.
Anders die Fans unter uns, auch Pufferküsser genannt. Bei denen heißt es Trambahn, Trambahn über alles. Sie kennen jeden Wagentyp, alle Wagen- und Beiwagen-Nummern, wissen genau, welcher Zug wann zur Hauptuntersuchung muss und fotografieren ihre Lieblinge in allen Lebenslagen. Lange vor den Kollegen wissen sie über jede geplante Streckenänderung oder -stilllegung Bescheid, und stehen zu gegebener Zeit mit der Kamera bereit.
Die Schienencowboys unter uns sind kernige Männer auf dem Kutschbock, die was leisten und der Meinung sind, dass dieser harte Job ganze Kerls verlangt und Frauen da nichts zu suchen haben. Sie sind nicht zimperlich, wenn mal eine Alte nicht mehr mitkommt oder ein Kinderwagen nebst Säugling die Reise mit der Tram antritt, während die Mutter draußen verzweifelt versucht, die Tür wieder zu öffnen.
Natürlich gibt es auch Kombinationen: Pufferküsser mit einem Anteil Fürsorglichkeit und harte Kerls mit einer unbezähmbaren Leidenschaft für die Trambahn."
Mit 574,8 Kilometern pro Stunde hat der neue, französische TGV Anfang April seine Generalprobe bestanden. Die Testfahrt war eine stolze Werbeveranstaltung für die neue Prestige-Strecke, die am 10. Juni zwischen Stuttgart und Paris eröffnet wird. Die Geschwindigkeit hat ihren Preis: Tickets für den Schnellzug werden bis zu 30 Prozent teurer sein als normale Fahrkarten. Aber es sind diese Projekte, die die Herzen in den Chefetagen der großen Bahnkonzerne höher schlagen lassen. Geht es nach ihnen, können Reisende in Europa künftig mit über 300 km/h kreuz und quer von einer Metropole zur nächsten jetten. Die Bahnchefs haben das alte Motto neu erfunden: Zeit ist Geld.
Wie ein Spinnennetz sollen sich die neuen Hochgeschwindigkeitstrassen über dem europäischen Kontinent ausbreiten. Fliegen, das ist von gestern, so die Botschaft. Dabei verlieren die Hightech-Züge ab einem bestimmten Tempo den größte Vorteil der Bahn, ihre Umweltfreundlichkeit. Der Stromverbrauch ist laut Kritikern immens, der Verschleiß von Rädern und Schienen ebenfalls. Und der Lärmpegel macht allen Düsenjets Konkurrenz. Spanien setzt dennoch auf die Raser, ab nächstem Jahr sollen neue Schnellzüge im ganzen Land eingesetzt werden. Einen wird es dabei auf jeden Fall erwischen: den Nachtzug. Dieses Refugium für Romantiker und Agatha-Christie-Fans ist jetzt schon dabei auszusterben. Die Fahrgäste werden dann umsteigen, aber manchen Mitarbeitern droht Schalterdienst, für viele Schaffner und Lokführer die Höchststrafe.
Nur zwischen Barcelona im Nordosten und Cádiz im Südwesten verkehrt noch ein Nachtzug. Mit 1152 Kilometern ist das Spaniens längste Bahnstrecke. Touristen, Geschäftsleute oder arabische Einwanderer auf dem Weg in die Heimat nehmen diesen Nachtzug Richtung Süden. Und wenn endlich alle schlafen, ist einer hellwach: Schaffner José Rodríguez. Hans-Günter Kellner hat sich mit ihm die Nacht um die Ohren geschlagen.
Arbeiten, wenn alle schlafen - Unterwegs im spanischen Nachtzug
Barcelona, Bahnhof Sanz, 22.20 Uhr: Der Nachtzug nach Cádiz steht zur Abfahrt bereit, Reisende eilen die Treppe zum Bahnsteig herab, fragen die bereitstehenden Zugbegleiter nach ihren Abteilen oder verabschieden sich von ihren Angehörigen:
Schaffner José Rodríguez steht in seinem eleganten blauen Dienstanzug der spanischen Bahn im Gewusel auf dem Bahnsteig. Für die pünktliche Abfahrt bleiben nur noch fünf Minuten. Ein nervöser Kollege kommt mit einer Fahrkarte. Ein Reisender hat eine andere Reservierung als erwünscht. Der eher kleingewachsene Schaffner behält die Ruhe:
"Wir geben ihm jetzt ein Touristenabteil - einzeln. Wenn er sich beschwert, dass da kein Bad dabei ist, haben wir noch eins in der Grand Clase, falls das nicht inzwischen von jemand anders gebucht wurde."
Nach der Abfahrt kontrolliert José Rodríguez die Tickets, scherzt mit einer Reisegruppe und ermahnt einige Jugendliche streng, ihre Koffer nicht auf den Sitzen abzuladen. Und der mit seinem Abteil unzufriedene Fahrgast bekommt nun doch die Grand Clase, das teuerste Abteil im Nachtzug zwischen Barcelona und Cádiz.
Gegen Mitternacht ziehen sich die meisten zurück. Erst jetzt, zweieinhalb Stunden nach der Abfahrt, findet Schaffner Rodríguez die Ruhe, sich an einen Tisch im Speisewagen zu setzen und die eingesammelten Fahrkarten zu kontrollieren. Jetzt hat er auch Zeit für ein Gespräch. Viel Zeit, sagt er. José Rodríguez blickt dem Ende des Nachtzugs in Spanien mit Wehmut entgegen:
"Da ist schon ein nostalgischer Blick zurück. Auf der einen Seite sind die vielen Erinnerungen.: schlaflose Nächte, Kalte Nächte auf den Bahnsteigen, bevor der Zug abfährt, meine Jugend, 20 Jahre bei der Bahn. Aber wie heißt es: Zeit ist Geld. Da kann man für 1000 Kilometer nicht 13, 14 Stunden im Zug reisen. Die Billigflieger bekommen einen immer größeren Teil des Kuchens. Die Bahn muss sich an den heutigen Lebensstil anpassen."
Die neuen Züge schaffen die Strecke in fünf, sechs Stunden. Aber sich nachts in Barcelona ins Bett legen und am Morgen frisch geduscht und ausgeruht am Zielort ankommen, das wird ohne Nachtzüge nicht mehr möglich sein.
"In den oberen Etagen sind die Zahlen ausschlaggebend. Ja, zum Karneval in Cádiz oder zur Fiesta von Sevilla, zur Semana Santa, im Sommer und an Weihnachten ist der Zug voll. Aber das ist nicht immer so. Und wenn wir in einem Jahr einen Zug haben, mit dem wir um 6 oder 7 aus Barcelona abfahren und um 13 oder 14 Uhr in Sevilla sind, wird sich der Reisende wohl eher dafür entscheiden. Das sagen die in den Vorstandsetagen zumindest."
Er redet von "denen da oben" und den "Eisenbahnern unten". Franz Kafka habe über das Verhältnis von oben und unten interessante Romane veröffentlicht, sagt der leidenschaftliche Leser. Der französische Autor Marcel Proust spielt bei den Betrachtungen von José Rodríguez zur Geschwindigkeit und zum Zeitgeist eine Rolle. Eigentlich könnte der Nachtzug deutlich schneller sein. Aber was sollen die Fahrgäste um fünf Uhr morgens in Sevilla? So fährt der Zug besonders langsam, um rechtzeitig anzukommen. Das passt wohl wirklich nicht in eine Zeit, in der die Züge bald mit 350 Kilometer pro Stunde durch Spanien rasen werden. Nachdenklich streicht José Rodríguez über die Tischdecke:
"Warum hetzen die Leute immer so, haben nie Zeit, rechtzeitig ihren Fahrschein zu lösen, oder die auf dem Bahnsteig eine alte Frau über den Haufen rennen. Ich frage mich oft, was macht dieser Mensch wohl? Ich habe keine Antwort darauf. Marcel Proust sagte, es koste ihn große Anstrengungen, jeden Tag ein normaler Mensch zu sein. Ich strenge mich auch jeden Tag an, ein normaler Mensch zu sein, nicht zu hetzen."
Der Schaffner fürchtet nicht nur die Ausmusterung der Züge: "Vielleicht gibt es bei den Hochgeschwindigkeitszügen bald nur noch ein Check-In auf den Bahnhöfen, keine Schaffner mehr?", zweifelt der 49-jährige. Ihm bleiben noch zehn Jahre zur Pensionierung, und er hofft weiterhin im Zug arbeiten zu dürfen.
Dann muss der nachdenkliche Schaffner auf den Bahnsteig. Der Zug bekommt einen neuen Lokführer. Die Zugbegleiter stehen dabei und erzählen sich Anekdoten. Auch Schaffner Rodríguez erinnert sich an eine Geschichte:
"Wir waren in Madrid. Das Paar war schon älter, eigentlich zu alt für diese jugendliche Leidenschaft. Zum Abschied umarmten sie sich im Zug zärtlich. Sie sagte: 'Lass mich los, ich muss weg, das Auto steht auf der Straße.' Und ich sagte: 'Entscheiden sie sich, der Zug fährt los.' Und der Zug fuhr los und die beiden eng umschlungen. Da zog der Mann seine Brieftasche hervor und sagte: 'Machen sie aus meinem Einzelabteil ein Doppelabteil.'"
José Rodríguez holt sich sein Jacket aus dem Speisewagen. Das Interesse an ihm ist ihm unangenehm. "Was kann ich schon erzählen?", fragt er mit einem schüchternen Lächeln. Er erwartet keine Antwort, verabschiedet sich und verschwindet in den langen Gängen der Waggons.
Frühstück am nächsten Morgen im Speisewagen: Der Zug fährt an im Frühnebel liegenden Orangenplantagen vorbei. Die Fahrgäste sind zufrieden, Schaffner Rodríguez entspannt. Das Resümee kurz vor der Endhaltestelle Cádiz fällt nüchtern aus:
"Die Reise war so angenehm, wie man es vor ihrem Antritt erwartet. Es gab keine Zwischenfälle, niemand wurde krank, niemand musste evakuiert werden, es gab keine technischen Probleme. Und wir kommen rechtzeitig an. Beim letzten Halt in Puerto de Santa María waren wir pünktlich."
Auf dem zentralen Busbahnhof in Istanbul geht es auch samstags um Mitternacht zu wie im Bienenstock: Der Türke fährt gemeinhin Bus, und zwar durchs ganze Land. Die Eisenbahn fristet dagegen ein trauriges Dasein. Seit den 40er Jahren systematisch von der Politik vernachlässigt, fällt der Schienenverkehr heute vor allem durch eines auf: die immer wieder schlimmen Unfälle. Viele Gleisanlagen sind völlig veraltet, aber die Verantwortlichen sehen die Schuldigen meist erst mal im Führerhäuschen: Überhöhte Geschwindigkeit sei die Ursache, heißt es nach fast jedem Unfall. Auf der Suche nach dem einstigen Ruhm der osmanischen Eisenbahn, muss man in Istanbul zunächst über den Bosporus und auf die asiatische Seite übersetzen. Dort, geschützt von einer wellenbrechenden Mole, ragt der Bahnhof Haydarpascha auf. Ein neoklassizistischer Palast aus Sandstein und Dachschiefer. Entworfen und gebaut hat ihn der deutsche Architekt Otto Ritter. Genau 100 Jahre ist das her: Von Haydarpascha aus wollten die Deutschen damals auf Schienen in den Nahen Osten vordringen. Sie bauten dem Sultan auf Pump eine Bahnlinie von Istanbul quer durch Anatolien bis in den Irak: Bagdad-Bahn sollte diese legendär gewordene Eisenbahn später heißen.
Heute sind die Stuckdecken der Schalterhalle im Bauch von Haydarpascha bröckelnde Zeugen der einstigen deutschen Großmachtträume. Gunnar Köhne hat dort einen Eisenbahner getroffen, der versonnen auf die alte, und skeptisch auf die neue Zeit blickt:
Eisenbahn-Pioniere von gestern - Ein türkischer Lokführer über die Bagdad-Bahn und das traurige Erbe
Ismail Ciftci hat sich an den Anblick vergangener Herrlichkeit gewöhnt. Seit 30 Jahren geht er durch den Kopfbahnhof zur Arbeit. Erst arbeitete er als Lokführer, heute ist er Sekretär der türkischen Eisenbahnergewerkschaft für diesen Teil Istanbuls. Das Büro des 53-Jährigen liegt gleich neben dem Bahnhof, in dem es mehr gibt als nur Gleise und Fahrkarten:
"Diese Gepäckschließfächer sind das modernste, was wir hier haben. Der Rest steht noch genauso wie vor 100 Jahren: hier der Wartesaal, dort der Barbier. Selbst diese Messingeinfassungen der Fahrkartenschalterluken sind noch original."
So alt wie der Bahnhof sind auch die meisten Strecken der türkischen Eisenbahnen. Ganze drei Hauptstrecken ziehen sich von Istanbul aus doppelspurig durch Anatolien. Elektrifiziert sind sie nur auf den ersten 100 Kilometern, dann müssen Dieselloks die Waggons ziehen.
Schneller als 60 Kilometer pro Stunde können wir selten fahren, erzählt Ismail Ciftci, während er achtsam das Gleisbett von Haydarpasa überquert. Hunde streunen umher, vor einem Trafohäuschen ist ein Laternenpfahl umgeknickt. Der untersetzte Mann mit dem akkurat gestutzten Schnauzbart schaut betreten.
Seit Atatürks Zeiten ist in die türkische Bahn nicht mehr investiert worden. Erst die religiös-konservative Regierung Erdogan hat sich des erbärmlichen Zustandes der Bahn angenommen. Von Istanbul in die Hauptstadt Ankara soll in wenigen Jahren eine Schnelltrasse führen. Die Fahrtzeit soll sich von sieben auf drei Stunden verringern. Außerdem wird derzeit an einem Bahntunnel unter dem Bosporus gearbeitet. Damit würden die beiden von Deutschen gebauten Kopfbahnhöfe Sirkeci auf der europäischen und Haydarpascha auf der asiatischen Seite der Stadt überflüssig. Die neue Strecke wird tief unter ihnen hindurchführen.
Doch noch müssen die Güterwaggons von Asien nach Europa und umgekehrt verschifft werden. Lokführer Ismail Ciftci zeigt auf eine Fähre, von der gerade drei Reihen rumänische Containerwaggons gezogen werden. An einem Kontrollposten tritt ein junger Mann mit den schweren, ölverschmierten Handschuhen eines Rangierers auf uns zu. Er habe Betriebswirtschaft studiert, erzählt er, und aus Begeisterung für das Eisenbahnwesen hier angefangen:
"Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist die Bahn in unserem Land zurückgeblieben. Aber das ist kein Wunder, denn wir sind nicht bereit, in die Bahn zu investieren. Es gibt bei uns nicht wie in anderen Ländern klare Ziele für den öffentlichen Schienenverkehr. Das Volk könnte dann die Umsetzung dieser Zeile einfordern. An den Leuten, die hier arbeiten liegt es nicht. Die arbeiten hart, und wenn Sie mal mit unserer Bahn fahren, werden sie sehen, dass sich jeder bemüht, seinen Job gut zu machen."
Ismail Ciftci blickt ein wenig mitleidig auf den erregt gestikulierenden jungen Kollegen, so als wollte er sagen: Von welcher Eisenbahn-Zukunft träumst du? Die ersten Versuche mit schnelleren Zügen endeten vor drei Jahren mit zwei schweren Unfällen innerhalb weniger Wochen. Und dann noch der miserable Lohn: Höchstens 600 Euro verdient ein Lokführer in der Türkei.
Ciftci betritt die Wartungshallen. In einem Passagierwaggon werden die Toiletten erneuert. Der Abteilungsleiter schaut den Arbeiten rauchend aus einem Kabuff zu. Ciftci und sein Kollege sind sich schnell einig:
"Man kann nicht 25 Jahre bei der Eisenbahn arbeiten, wenn man es nicht wirklich mag, seine Landsleute quer durchs Land zu fahren und unterwegs so viele Eindrücke zu sammeln. Da vergisst man eben, dass es einem sozial nicht so gut geht, dass man eine 60-Stunden-Woche hat und seine Familie kaum sieht."
Ciftci stammt vom anderen Ende der Türkei, aus Kars an der armenischen Grenze. Einmal die Woche fährt ein Zug dorthin, die Reise dauert 14 Stunden und kostet umgerechnet gerade mal 18 Euro.
Auf Gleis 3 steht ein Regionalzug nach Izmit zur Abfahrt bereit. Ciftci reicht dem Kollegen im Führerstand die Hand durch das geöffnete Fenster. Wie läuft es mit der Arbeit, gibt es Schwierigkeiten?, fragt er. Die neuen Dieselmotoren laufen deutlich besser, antwortet der Lokführer, bevor er das Signal zur Abfahrt bekommt.
Ismail Ciftci tritt nachdenklich den Rückweg an, vorbei an dem wartenden Ankara-Express auf Gleis 1. Junge Rekruten werfen ihren Seesack durch das Abteilfenster; ein Mütterchen, das offenbar zurück will in ihr Dorf, zwängt sich schwer bepackt durch die Waggontür. An manchen Tagen stünde Ciftci gerne noch einmal für einen Tag im Führerstand. Denn auch heute noch sind die Anatolischen Eisenbahnen ein Abenteuer:
"Auf einer meiner letzten Fahrten sind wir in eine Schafherde reingerast. So ein Personenzug kommt doch erst nach 500 bis 600 Metern zum Stoppen. Der Schäfer hatte sich aus dem Staub gemacht. Da mussten wir selbst zwei Dutzend Schafe notschlachten. Das Fleisch haben wir an die Passagiere verteilt."
Ismail Ciftci hat zwei erwachsene Söhne, keiner von beiden wollte zur Eisenbahn. Wenn in ein paar Jahren der Bosporustunnel in Betrieb genommen wird, hat Haydarpascha ausgedient. Es gibt Pläne, aus dem historischen Kopfbahnhof ein Einkaufszentrum mit Hotel zu machen. Eisenbahner wie Ismail Ciftci haben dann hier nichts mehr zu suchen.
"'Kein Fahrgast kann so stinkig, kein Wetter so hässlich, keine Fahrzeit so knapp und kein Verkehr so hektisch sein, dass ich es nicht doch vorzöge, selbst meine Trambahn zu fahren anstatt zur Nachschulung zu gehen.
Und dann wird es jedesmal noch schlimmer als erwartet: 'Der Fahrgast hat das Recht, bei jeder Türe einzusteigen. Auch bei der Fahrertür. Auch bei minus 20 Grad. Auch an der Endhaltestelle, wenn die Türe dabei minutenlang offensteht. Auch wenn die Fahrerstandheizung defekt ist.'
Oder: 'Der Fahrgast hat immer recht.' Auch wenn man nach stundenlangem, zermürbendem Kampf im Straßenverkehr von einem cholerischen Fahrgast mit 'Du dreckata Kutscher, ausschlafen kannst dahoam, jetzt schau, dass Du weiterkommst ... ' empfangen wird.
Nein, Zähne zusammenbeißen ist die Devise; alles andere führt zu ewig langen Auseinandersetzungen mit dem Fahrdienstbüro.
Wenn man bei der Nachschulung noch das Pech hat, einen Ausbilder zu haben, der selbst nie längere Zeit im Linienverkehr gefahren ist, dann wird er auch noch alle lächerlich machen, die sich vom Fahrplan hetzen lassen, wo es doch ganz einfach ist, auf die paar Minuten Stehzeit an der Endhaltestelle zu verzichten – 'dann raucht man halt mal keine!' - aber geht auch nicht zur Toilette, steht nicht einmal vom Fahrersitz auf, um die müden Glieder zu strecken ... nein, das ist ja alles nicht nötig.
Auf dem Heimweg von einer solchen Nachschulung formuliere ich jedesmal mein Kündigungschreiben ausführlich und in mehreren Variationen. Und brauche anschließend mindestens eine Woche, bis mir dieses einzigartige Gleiten der Tram auf den Schienen zu meiner alten Begeisterung zurückverhelfen.""
Schon Napoleon träumte von einer unterirdischen Verbindung zwischen Europa und den britischen Inseln. Der kleine Feldherr soll sich eine Straße unter dem Ärmelkanal vorgestellt haben, von Kutschen befahren. Erst einmal gab es aber Jahrhunderte lang nur Pleiten, Pech und Pannen, darunter Dutzende fehlgeschlagener Versuche, überhaupt einen Tunnel zu bauen. Sabotage mag man den Briten nicht unterstellen, aber doch eine chronische Renitenz, wenn es um den Anschluss nach Europa geht. Noch in den 80er Jahren, als der heutige Eurotunnel vom Traum in die Tat umgesetzt wurde, fürchtete man sich vor französischen Ratten, die durch die Röhre laufen und die Tollwut einschleppen könnten. Heute, 13 Jahre nach dem Startpfiff für den ersten Eurostar, erlaubt sich die altehrwürdige "Times" immer noch die Frage, ob man die Eisenbahn-Verbindung überhaupt hätte bauen sollen. Das ist Wasser auf die Mühlen von Aktionären und Kreditgebern, die über fehlende Gewinne lamentieren. In der Tat produziert der Tunnel weiterhin rote Zahlen, woran Maggie Thatcher nicht ganz unschuldig ist. Keinen Penny an Steuergeldern wollte die Eiserne Lady für den Zug damals rausrücken.
Erst jetzt werden auf britischem Boden spezielle und damit schnellere Gleise für den Eurostar gebaut, und so wird er ab November mit über 300 km/h noch schneller sein: Die reine Fahrzeit von Köln nach London beträgt dann vier Stunden, das ist im großen und ganzen schneller als jede Flugreise auf dieser Route. Für den Lokführer wird es damit noch einsamer: Die Sicherheitsbestimmungen erlauben keinen Gast im Cockpit, eine Reporterin schon gar nicht. Bleibt für meine Kollegin Ruth Rach nur der freundliche Schaffner.
"Es gibt nichts Unzivilisierteres als zu fliegen" - Mit Eurostar-Schaffner Stuart Mansfield von London nach Brüssel
Stuart Mansfield, Zugchef. Mitte 20, groß, schlank, selbstsicher, sympathisch. Während Geschäftsreisende in der Businesslounge die neuesten Börsenmeldungen überfliegen, geht Stuart schon durch die Pass- und Zollkontrolle zum Bahnsteig 1. Er bereitet den Eurostar für die Fahrt von London nach Brüssel vor, testet Türen, Notausgänge. Kommunikationsverbindungen, vergewissert sich, dass seine Crew vollständig an Bord ist.
Der Eurostar - ein eleganter Zug mit pfeilförmigem Design, fast 400 Meter lang, 2 Loks, 18 Wagen, 812 Sitzplätze. Heute rechnet Stuart mit rund 300 Reisenden. Stuart beherrscht drei Sprachen, höchst ungewöhnlich für einen Briten. Ausbildung: Universitätsabschluss in Deutsch und Französisch, Magister im Dolmetschen. Dies ist sein erster Job.
Fast unmerklich setzt sich der Eurostar in Bewegung, früher, als im Fahrplan vermerkt. Wegen der strengen Kontrollen weiß die Besatzung: Alle Passagiere sind an Bord. Durchs Zugfenster inspiziert Stuart den vorbeigleitenden Bahnsteig, der muss frei sein. Sonst wird der Zug gestoppt: Sicherheitsmaßnahme. Stuart liebt die Eisenbahn. Wenn er eine Reise antritt, schlägt sein Herz höher.
Nach der Ansage geht Stuart durch die Wagen. Die Fahrgäste sollen ihn kennenlernen. Jede Bahnfahrt bedeutet für ihn einen kilometerlangen Fußweg: plüschige Teppichböden, grau gestreifte Sessel, runde, weiche Designs.
Eine englische Dame, sichtlich irritiert, dass es ihr nie gelinge, einen Fenstersitz in Fahrtrichtung zu buchen. Stuart bietet ihr einen neuen Platz an. Sie winkt ab. Typisch englisch.
"Ein deutscher Reisender trägt sein Problem vor und erwartet eine Lösung. Ein Engländer hingegen erwähnt nur beiläufig, dass er ein Problem hat, aber wenn man ihm eine Lösung anbietet, sagt er: 'Um Himmels willen, ich wollte doch gar nicht, dass Sie etwas unternehmen, ich wollte es nur erwähnen.' Und bei einem Franzosen gilt es erst einmal herauszufinden, was er überhaupt will, sehr schwierig, weil er sich so umständlich ausdrückt."
Jedes Abteil hat einen anderen Geruch, eine andere Atmosphäre. In der Businessklasse herrscht phantomhaftes Schweigen. Vereinzelt, in tiefen Luxussesseln, konzentrieren sich Herren auf elektronische Gerätschaften.
In der Comfortklasse hingegen animiertes Plaudern, entspannte Gesichter, das dezente Klirren von Champagnergläsern. Besonders vielfältig, die zweite Klasse: Auf den Tischen Puzzlestücke, Spielsachen, Schubert-CDs, Wurstbrote, Krimis. Eine Mutter schläft, ihr Baby auf dem Schoss, vor dem Baby ein Laptop mit einem Trickfilm. Ein Abteil duftet dezent nach Chanel No, 5, im nächsten stinkt es nach Fritten.
"Japanische Reisegruppen bringen normalerweise ihr eigenes Essen mit, ihr Abteil riecht oft nach Fisch. Sie finden wiederum, dass Europäer nach Milch riechen. Einmal hatte ich eine Amerikanerin, das war auf dem Rückweg von Paris, im Abteil roch es penetrant nach französischem Käse. Ich dachte, klar, Sonntagabend, Touristen. Die Amerikanerin sagte: 'Entschuldigen Sie, was riecht hier so?' Ich sagte: 'Käse'. Woraufhin sie fragte: 'Ist das erlaubt?' Sie meinte allerdings nicht den Geruch, sondern den Transport von Käse innerhalb Europas. Ich musste ihr erstmal erklären, wie Europa funktioniert."
Grüne Hügel, ein malerischer Fluss - die Grafschaft Kent, der Medway. Im Sommer ist alles rot vor Klatschmohn. Neuerdings gibt es auch Lavendelfelder, erzählt Stuart. Er hasst Flugreisen. Sie seien unzivilisiert. Und schlecht für die Umwelt.
Kurzer Halt in Ashford. Stuart bespricht sich mit Clare, seiner Kollegin. Fazit: Alles okay, außer einer Doppelbuchung. Früher gab es mitunter Probleme mit Betrunkenen im Zusammenhang mit Fußballspielen. Heute reisen französische und britische Polizisten mit, wenn internationale Begegnungen anstehen.
Stuart stellt sich kurz an die Bar, sein liebster Platz: dort kommt er mit Passagieren am ehesten ins Gespräch. Für sein Training musste Stewart gleich mehrere Regelwerke studieren, französische und englische Bahnbestimmungen, für klassische und Hochgeschwindigkeitszüge. Er liebt die Schichtarbeit, den internationalen Flair, freie Tage, wenn andere arbeiten, Kontakte mit Freunden in drei verschiedenen Ländern.
"Es gibt eine altmodische Eisenbahnerwelt, aber dazu gehören wir nicht. Die meisten Leute in der Eurostar-Community sind jung, ein Drittel nicht britisch sondern französisch, italienisch, belgisch. Aber wir halten auch eng zusammen, unsere Trainingsgruppe trifft sich regelmäßig, mal in Lille, mal in London oder Paris. Wir gehören zu einer viel moderneren, multikulturellen Variante der Eisenbahnerwelt."
In wenigen Minuten der Tunnel: Stuart geht wieder durch den Zug, die Durchgänge müssen frei sein, setzt sich auf einem Platz am Zugende: Sicherheitsmaßnahme. Die Strecke dauert 20 Minuten.
"Der Eurotunnel ist ein Tunnel wie jeder andere, wenn Du aus dem Fenster schaust, ist es schwarz, du denkst nicht dran, dass der Ärmelkanal über Dir ist. Einmal hatte ich eine Reisende, die in Panik geriet. Aber es gelang mir, sie zu beruhigen. Bis ich bei ihr war, und mit ihr sprach, waren wir praktisch schon wieder im Freien."
Trotz der Verbindung unter Wasser sind die Engländer Insulaner geblieben, findet Stuart, im Gegensatz zu den Schotten.
"Neulich war ich in Edinburgh und überrascht über die europäische Atmosphäre, ähnlich wie in Südirland. Engländer sind anders. Die mögen sich einfach nicht mit der übrigen Welt auseinandersetzen."
Auch in Calais scheint die Sonne.
"Eine wunderbare und schreckliche Stadt: entweder Du hast Sonne oder ein Unwetter."
Am liebsten sind Stuart die Züge am Freitagabend. Da sind die Passagiere gut gelaunt, weil sie heimfahren, und Sonntagabends, wenn die meisten Fahrgäste schlafen.
Nach einem kurzen Stopp in Lille bereitet Stuart die Ankunft in Brüssel vor, mehr Papierarbeit, Telefonate mit dem Zugteam. In Brüssel hat er 45 Minuten Aufenthalt, dann geht es zurück nach London.
Was Stuart in fünf Jahren macht, weiß er nicht. Er macht nur Zweijahrespläne. Aber er kann sich gut vorstellen, bei Eurostar zu bleiben.
"Bei der Bahn hast Du das Gefühl, du gehörst zu einer Gemeinschaft. Das ist schön. Egal wo ich bin, in Schottland oder sonstwo in Europa, ich kann stets zu einem Eisenbahner hingehen und sagen, ich bin auch ein Zugwärter. Ich bin einer von euch."
"Und die Fahrerinnen und Fahrer?
Die verkaufen keine Fahrscheine mehr und sitzen etwas komfortabler und wärmegeschützter als in den alten Zügen, aber an ihrer exponierten Einsamkeit hat sich nichts geändert. Sie können nach wie vor wie interessante Insekten in einer Glasvitrine von allen Seiten betrachtet und beäugt werden - ohne dass sich irgendjemand über ihr Innenleben Gedanken machen muss."
Literatur:
Root Leeb. Tramfrau. Aufzeichnungen und Abenteuer der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub
Ars Vivendi
München, 2003
"Ein deutscher Reisender trägt sein Problem vor und erwartet eine Lösung. Ein Engländer hingegen erwähnt nur beiläufig, dass er ein Problem hat, aber wenn man ihm eine Lösung anbietet, sagt er' um Himmels willen, ich wollte doch gar nicht, dass Sie etwas unternehmen. Und bei einem Franzosen gilt es erst einmal herauszufinden, was er überhaupt will, sehr schwierig, weil er sich so umständlich ausdrückt."
Und ein Lokführer aus Moskau, der auch nach mehr als 25 Jahren keine Langeweile kennt:
"Erstens liebe ich meine Arbeit ganz einfach, sie gefällt mir, das Fahren eben, Menschen zu befördern, Güter. Vielleicht ist das mein kleiner Anteil, wie ich meinem Staat dienen kann."
Für viele ist der Beruf heute weniger Berufung als nur noch ein Job - eine Einkommensquelle, mit Fragezeichen. Flexibel statt sicher, spontan statt verlässlich. Nirgendwo ist der Zeitgeist der Globalisierung so spürbar wie im Arbeitsleben. Nicht jeder Beruf verschwindet dabei, aber fast jeder verändert sich, Knicks und Umbrüche nicht ausgeschlossen. Das macht Arbeitswelten heute mehr denn je zu Lebenswelten. Und das ist auch der Titel unserer Sendereihe, mit der wir den Programmschwerpunkt "Werkstatt Europa" des Deutschlandfunk begleiten. Heute also Lokführer in Europa, ein Männerberuf, Ausnahme: Die Trambahn.
"Der erste Tag, zum ersten Mal allein, ohne Lehrfahrer, und selbst verantwortlich für diesen Riesenzug, und dann die vielen Fahrgäste auf der gefürchteten Linie 20: Das ist hart.
Aber bis auf ein paar verlängerte Bremswege ist eigentlich alles ganz gut gegangen, und ich, Roberta Laub 5 -wegen der 'Verwechslungsgefahr' hängt immer diese '5' an meinem Namen - ich rattere mitten in München zwischen Sendlinger Tor und Stachus dahin und bin gerade dabei, zufrieden Bilanz dieses ersten Tages zu ziehen.
Dann ein kurzer Blick auf die Wagenuhr: Oh Gott, schon mehr als 7 Minuten Verspätung! Da wird mir gleich der Hintermann am Puffer hängen. Um Himmels willen, da ist ja noch die Weiche. Links, nein rechts, nein, doch links. Schon drüber. Wo fährt der Zug denn jetzt hin?! Ich bin auf dem Gleis von der Linie 18. Mich trifft der Schlag.
'Zentrale, bitte für Linie 20, Kurs 6.'
'Kommen Sie auf Kanal 2.'
'Zentrale, ich hab mich verfahren und steh mit dem 20er im 18er Gleis am Stachus ...'
'Ja, dann fahren Sie Umleitung über Ottostraße, Karlstraße zum Stiglmaierplatz und weiter auf den Linienweg.'
'Verstanden, danke.'"
Das Büchlein "Tramfrau" von Root Leeb. Seitdem die Erinnerungen der ehemaligen Straßenbahnfahrerin 1994 zum ersten Mal erschienen, hat sich einiges verändert auf dem Gleis. Aus den kommunalen Verkehrsbetrieben sind vielerorts Aktiengesellschaften geworden. Arbeitsplätze wurden ab und neue Techniken eingebaut. Eine weibliche Stimme aus der Konserve sagt heute in vielen Großstädten dialektbereinigt die Haltestellen vom Band an. Das Quietschen, Klappern und die gemütliche Langsamkeit, die Tram- wie auch Eisenbahnfreunde so lieben, finden die Konzernleitungen der nationalen Bahn AGs nicht mehr zeitgemäß.
Nur ein Land, mitten in Europa, setzt auf Bewährtes. Als Deutsche und Franzosen schon längst von Hightech und Businessclass auf der Schiene träumten, sagten die Schweizer per Volksabstimmung nein. So ist ihnen ein Zugsystem erhalten geblieben, das vorbildlich an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet ist. Nirgendwo in Europa ist das Bahnnetz dichter als in der Schweiz.
Die SBB ist Volksbahn geblieben. Einzig zwei neue Hochgeschwindigkeitstrassen leisten sich die Eidgenossen, eine davon führt durch den St. Gotthard, eine Reaktion auf den drohenden Auto-Verkehrskollaps im Transitland Schweiz. Die neuen, schnellen Röhren werden eine Umstellung sein für die Lokführer, aber nicht die einzige: Der Ton bei der SBB sei schärfer geworden in den letzten Jahren, sagen sie, und die Strukturen härter. Aber ihre Arbeitsplätze, die sind weitgehend sicher. Das und Tempo 120 reichen schon für ausreichend Glücksgefühle im Führerhäuschen. Knut Benzner ist mit eingestiegen.
Wo die Bahn noch Volksbahn ist - Die Schweiz und ihre SBB
"Ich weiß nicht, was jetzt für ein Führer da drauf ist, das kann ein Züricher sein, nehme ich an, ich glaube, der Zug kommt von Zürich, es kann ein Erstfelder sein oder es kann ein Tessiner sein."
Erstfeld: die vorletzte Station vor dem Nordportal des Gotthard-Tunnels. Herbert Roseng, 64, Erstfelder, war Lokführer, er ist in Rente und kümmert sich, ehrenamtlich, um die Geschichte der SBB, der Schweizerischen Bundesbahn. Roseng fährt mit, weil der eigentliche Lokführer eigentlich nicht reden darf, nicht reden sollte .Er muss sich schließlich auf die Strecke konzentrieren.
Ein Gang durch die enge Lok nach vorne: Es riecht nach Öl, die Transformatoren summen, Metall und Eisen glänzen. Im oder auf dem Führerstand. Peter Angele - der dann doch redet. Ostschweizer..
"Von Heiden im Appenzellerland."
Seit 1973 Lokomotivführer. Verheiratet.
"Jaha, gewesen, ja, hahaha. Ich lebe zusammen jetzt mit einer Partnerin."
Seit 1974, seit Ende seiner Ausbildung, fährt Angele auf dieser Strecke. Seit einigen Jahren mit dieser Lok.
"Das ist eine RE 44 Typ 2, die hat 80 Tonnen Gewicht und Maximalgeschwindigkeit 140."
Und fast ehrfurchtsvoll erinnert er sich an das Krokodil, an diese schwere, achtachsige E-Lok aus den 20ern des letzten Jahrhunderts, die mit ihren langen Vorbauten und dem geduckten Mittelteil extra für den Gotthard entwickelt wurde.
"Ja, ich hatte mal das Glück, von Gisikon nach Luzern auf einer Krokodil zu fahren, allerdings noch in der Ausbildungszeit, und während der Ausbildung am Gotthard hatte ich auch noch das Glück, auf einer Krokodil-Lok dabei zu sein."
Durch einen Tunnel, die RE 44 Typ 2 gibt wenig Licht. Herbert Roseng, der Begleiter:
"Ja ja, ja, weil wir brauchen, wir müssen die Signale sehen, wenn es Signale hat im Tunnel, in den Kehrtunneln hat es dann, und das reicht, wenn wir die sehen, weil wir können ohnehin nicht auf Sicht Distanz halten."
Über die Reuss, noch ein Tunnel, oberhalb der Reuss und der Autobahn entlang, Wassen, die Kirche von Wassen zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal - jeweils aus einer anderen Perspektive. Diese ganz besondere Strecke.
"Hähäa, jaha. Wir sehen wieder die Kirche von Wassen und das Dorf."
Angele blickt in den Rückspiegel.
"Jawohl, genau, weil äh, muss man schauen, dass es nicht irgendwo klangt, bergauf wird es weniger von den Bremsen sein, aber es kann auch mal etwas anderes sein, was ich auch ein mal erlebt habe."
60 wird er. Weißer Haarkranz, weißer Vollbart, ein rundes, freundliches Gesicht. Ob er im Winter fährt oder im Sommer.
"Das spielt eigentlich keine Rolle. Es hat alles seine Reize."
Lawinen, Unwetter, Sonnenschein mit glasklarem Himmel - er hat alles erlebt.
Göschenen, das Nordportal des Gotthard-Tunnels, in 1111 Metern Höhe: der letzte Halt vor dem Tunnel.
"Ja, genau, ja, da ist schon der Tunnel, und zwar der Haupttunnel, den Sie rechts sehen, links ist der Nebentunnel, das ist an und für sich nur eine Bahnhofsverlängerung. Ja, nein, es sind schon 200 Meter entfernt, also vom Portal entfernt. Wir fahren schon ab, wir sind drei Minuten zu spät."
Die holt er auf. 15 Kilometer durch das Gotthard-Massiv: Bis zur Mitte steigt, dann fällt die Strecke. Zweigleisig. Tunnelangst? Kaum.
"Nein, ich habe bis jetzt noch nie Angst gehabt. Am Anfang im Tunnel zwar nicht, aber vor allem in Kurven hatte ich schon manchmal ein mulmiges Gefühl, ob alles auf dem richtigen Gleis ist."
120 fährt Angele nun, und wie lange dauern die Fahrten hindurch?
"Äh, die dauern ungefähr elf Minuten."
Uns kommt ein Zug entgegen.
"Aber auf dem anderen Gleis."
Hoffentlich.
"Ja sicher."
Angele grüßt den entgegenkommenden Lokführer. Er ist in Luzern ausgebildet worden. Er kann theoretisch eine Lok auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, weil sein erster Beruf der eines Elektromechanikers war. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, weil er so selten zu Hause war. Und die Kinder?
"Im Kleinkinderalter haben sie gerne mit mir in der Stube gespielt, also ich konnte da auch etwas machen, allerdings war die Frau anderer Meinung, leider."
Warum Angele Lokomotivführer werden wollte? Na, das liegt doch auf der Hand.
"Das war mein Bubentraum. Also ich wollte immer. Meine ganze Berufswahl, war eigentlich ausgerichtet auf den Lokführer."
Airolo, Tessin.
"Airolo, ja, unsere Fahrt ist zu Ende, ja."
Angeles Fahrt geht weiter, bis Chiasso. Lokführer, nach wie vor sein Traumberuf.
"Ja genau, ja, ja."
In Rente will er trotzdem bald.
"Ich möchte an und für sich, dass ich Mitte nächstes Jahr in die Rente gehen möchte, dann habe ich 35 Dienstjahre - und das reicht."
Die Eisenbahn liegt der Europäischen Union durchaus am Herzen, denn sie rollt über Grenzen einfach hinweg, und sie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor - in Zeiten des Klimawandels erst recht. Also will Brüssel mehr Rechte für Bahnkunden und mehr Wettbewerb auf der Schiene. Drei so genannte "Eisenbahn-Pakete" sollen die gesetzliche Grundlage schaffen. Die Praxis sieht dagegen schon schwieriger aus. Österreich lässt keine Lok ohne speziellen Außenspiegel aufs Gleis. Dänemark, Deutschland und Italien streiten um die Feuerlöscher: Kohlendioxid, Schaum oder Pulver, wer an der Grenze die falsche Füllung in der Flasche hat, kann den Rückwärtsgang einlegen. Schikane und Marktabschottung seien das, sagen die Kritiker und stellen fest: Die Nationalstaaten treten auf die Bremse. In der Wirtschaft ist das Interesse am Auslandsgeschäft hingegen groß, auch außerhalb der EU. Die Deutsche Bahn setzt zum Beispiel verstärkt auf den Güterverkehr nach Russland, ein Projekt, das Polen und Balten zwar mit Argusaugen verfolgen, aber die Russen sind mit Enthusiasmus dabei.
Das nötige Know-how besitzen sie auch, denn die Eisenbahn gilt in dem riesigen Land seit jeher als Rückgrat des russischen Güterverkehrs. Und stolz ist man bis heute trotz veralteter Loks und grassierender Korruption. Die Belegschaft muckt dennoch nicht auf. Im Gegenteil, der alte Mythos aus Sowjetzeiten gilt viel, schließlich war man mal wer, ein Vorzeige-Proletarier. Heute ist auch die russische Bahn eine Aktiengesellschaft, die aber weiterhin dem Staat gehört. Kapitalismus auf russisch. Robert Baag über einen Helden der Arbeit.
Noch immer ein Hauch von Proletarier-Adel - Ein Lokführer aus Moskau
So ein bisschen dünsten die Backsteinmauern des fast 100 Jahre alten dreistöckigen Gebäudes immer noch Sowjetatmosphäre aus. Sichtlich in die Jahre gekommenes dunkelbraunes Schleiflackmobiliar, an der Wand hängen Topfpflanzen von einem Drahtgestell, aber unter der Zimmerdecke ist auch eine große goldfarbene Ikone angebracht. Deutlichster Hinweis auf die neue Zeit im Land, hier beginnt das Reich des Andrej Olegovic Giretsch. Seit September ist er der Chef des Moskauer Rangier- und Verteiler-Bahnhofs an der Burakov-Straße, der an ein Wohngebiet aus den 50er, 60er Jahren grenzt.
Höchstpersönlich bringt er den Besucher zu Valerij Anatol'evic Tolmatschov, einem von seinen 16 Maschinisten 1. Klasse, wie hier die lang gedienten Lokführer offiziell genannt werden. Der Natschalnik, der Chef also, wird seinem Untergebenen die nächste Zeit nicht von der Seite weichen, notfalls Antworten ergänzen, das eine oder andere Stichwort zu liefern versuchen.
Aber schmuck sehen sie beide aus in ihren dunkelblauen Uniformen, der Vorgesetzte und sein untersetzter, schwarzhaariger Lokführer. Dessen lebhafte graue Augen lächeln freundlich und einladend:
Ein paar Schritte noch an den Gleisen entlang. Wie zur Parade aufgestellt stehen sie dort: grün, gelb und silbern, diese Farbtöne dominieren im Anstrich der Lokomotiven. Und da, Tolmatschov bremst seinen Schritt, da steht sie:
"So, hier ist meine E-Lok, eine tschechische Maschine vom Typ Tsche-Es-2-K-A. Sie hat gerade in unserer Fabrik in Jaroslawlj eine Generalüberholung bekommen: 'Kappremont' - Daher das Kürzel 'K-A' am Ende."
Tolmatschov nimmt im Fahrersessel Platz, routinierte Blicke über die Instrumente, jeder Handgriff sitzt, ein kurzer, verstohlener Seitenblick zu seinem Chef:
"Unsere Arbeit beginnt mit der Übernahme der Lokomotive. Nein, stopp, die ärztliche Untersuchung, die kommt zuerst, dann werden wir eingewiesen, anschließend kontrollieren wir das Fahrwerk, das Druckluft-System. Jetzt rollen wir zum Kontrollposten und hängen die Waggons an. Wie es der Fahrplan vorsieht, geht es dann los vom Kasaner Bahnhof. Den haben übrigens deutsche Kriegsgefangene gebaut."
Moskau - Rjazan, Rjazan – Moskau, seit einem Vierteljahrhundert befährt der mit einer Kindergärtnerin verheiratete Tolmatschov nun schon diese Strecke: rund 200 Kilometer nach Süden, und wieder 200 Kilometer zurück nach Norden. Andere hätten inzwischen wohl die Langweile und der Überdruss überwältigt. Doch der in Omsk geborene Westsibirier lehnt sich entspannt zurück. Er kann das nicht verstehen:
"Nein. Erstens liebe ich meine Arbeit ganz einfach, sie gefällt mir. Wie kann sie einem da über werden? Aber es ist schwer zu sagen, was mir so an ihr gefällt. Das Fahren eben, Menschen zu befördern, Güter.. Vielleicht ist das mein kleiner Anteil, wie ich meinem Staat dienen kann."
Etwa fünf Stunden, solange dauert unser Arbeitstag - von der Übernahme der Lokomotive bis zur Abgabe im Depot. Im Bahnhof Rjasanj können wir uns ausruhen, bevor wir die Rückfahrt nach Moskau antreten."
An die sowjetischen Zeiten und Arbeitsbedingungen erinnert sich Tolmatschov sehr gut. Als er sich - eher zufällig, wie er sagt - Anfang der 80er Jahre entscheidet, Lokführer zu werden, regiert noch die Kommunistische Partei der Sowjetunion unter ihrem Generalsekretär Leonid Breschnew. Bergleute, Stahlarbeiter und Eisenbahner, das ist damals der von der Propaganda gehätschelte Adel unter den Werktätigen. Valeri Tolmatschovs Selbstverständnis hat sich seither nicht sonderlich geändert:
"Ich gehöre zur Arbeiterklasse", beschreibt sich Tolmatschov knapp und ohne zu zögern. Bis zum Schluss werde das so bleiben, bis zur Rente. Obwohl vom Gehalt her, das räumt er ein, nähere er sich eigentlich schon dem Mittelstand an:
Umgerechnet etwa eintausend Euro pro Monat verdient er. Zu Sowjetzeiten waren es rund 500 Rubel, fast soviel wie ein Pilot bekommen hat, auch damals ein überdurchschnittlich guter Lohn. Doch Vergünstigungen, die gebe es auch heute noch:
"Die medizinische Versorgung übernimmt die Eisenbahngesellschaft. Für uns ist sie umsonst. Wir haben alle eine Unfallversicherung, die eventuelle Arbeitsunfähigkeit abdeckt. In Chost, am Schwarzen Meer, besitzt die Eisenbahngesellschaft ein Erholungsheim, das wir benutzen können. Nur die Schulen, die Kindergärten und -krippen, die wir früher hatten, die gibt es jetzt nicht mehr."
Mit 55 Jahren wird er wie alle seine Kollegen in Rente gehen können. Ob er dann wie viele Eisenbahner-Veteranen noch freiwillig weitermacht bis zum 60. Lebensjahr, das weiß er heute noch nicht.
Zufrieden wirkt er am Ende, sein Vorgesetzter übrigens auch Nur dass sein 18jähriger Sohn gerade Koch lernt, das wurmt den Moskauer Lokomotivführer Valerij Tolmatschov dann doch ein bisschen:
"Ich hab ihn paar Mal auf Fahrten mitgenommen, wir haben nämlich solche Familien, Eisenbahnerdynastien. Eigentlich hätte ich schon gewollt, dass auch er Eisenbahner wird. Aber irgendwie war das dann wohl doch nichts für ihn. Na ja, unsere Arbeit ist eben nicht leicht. Sie ist schwer.""
"Natürlich haben wir alle unsere Gründe, Trambahn zu fahren.
Der einfachste Grund: Es gab gerade keine andere berufliche Möglichkeit. Von denen springen viele wieder ab, steigen aus für immer, lassen Trambahn Trambahn sein und kehren reumütig unter ihre Autos in den Kfz-Werkstätten, zum Fliesenlegen, in ihre Backstube oder in irgendwelche Büros zurück.
Anders die Fans unter uns, auch Pufferküsser genannt. Bei denen heißt es Trambahn, Trambahn über alles. Sie kennen jeden Wagentyp, alle Wagen- und Beiwagen-Nummern, wissen genau, welcher Zug wann zur Hauptuntersuchung muss und fotografieren ihre Lieblinge in allen Lebenslagen. Lange vor den Kollegen wissen sie über jede geplante Streckenänderung oder -stilllegung Bescheid, und stehen zu gegebener Zeit mit der Kamera bereit.
Die Schienencowboys unter uns sind kernige Männer auf dem Kutschbock, die was leisten und der Meinung sind, dass dieser harte Job ganze Kerls verlangt und Frauen da nichts zu suchen haben. Sie sind nicht zimperlich, wenn mal eine Alte nicht mehr mitkommt oder ein Kinderwagen nebst Säugling die Reise mit der Tram antritt, während die Mutter draußen verzweifelt versucht, die Tür wieder zu öffnen.
Natürlich gibt es auch Kombinationen: Pufferküsser mit einem Anteil Fürsorglichkeit und harte Kerls mit einer unbezähmbaren Leidenschaft für die Trambahn."
Mit 574,8 Kilometern pro Stunde hat der neue, französische TGV Anfang April seine Generalprobe bestanden. Die Testfahrt war eine stolze Werbeveranstaltung für die neue Prestige-Strecke, die am 10. Juni zwischen Stuttgart und Paris eröffnet wird. Die Geschwindigkeit hat ihren Preis: Tickets für den Schnellzug werden bis zu 30 Prozent teurer sein als normale Fahrkarten. Aber es sind diese Projekte, die die Herzen in den Chefetagen der großen Bahnkonzerne höher schlagen lassen. Geht es nach ihnen, können Reisende in Europa künftig mit über 300 km/h kreuz und quer von einer Metropole zur nächsten jetten. Die Bahnchefs haben das alte Motto neu erfunden: Zeit ist Geld.
Wie ein Spinnennetz sollen sich die neuen Hochgeschwindigkeitstrassen über dem europäischen Kontinent ausbreiten. Fliegen, das ist von gestern, so die Botschaft. Dabei verlieren die Hightech-Züge ab einem bestimmten Tempo den größte Vorteil der Bahn, ihre Umweltfreundlichkeit. Der Stromverbrauch ist laut Kritikern immens, der Verschleiß von Rädern und Schienen ebenfalls. Und der Lärmpegel macht allen Düsenjets Konkurrenz. Spanien setzt dennoch auf die Raser, ab nächstem Jahr sollen neue Schnellzüge im ganzen Land eingesetzt werden. Einen wird es dabei auf jeden Fall erwischen: den Nachtzug. Dieses Refugium für Romantiker und Agatha-Christie-Fans ist jetzt schon dabei auszusterben. Die Fahrgäste werden dann umsteigen, aber manchen Mitarbeitern droht Schalterdienst, für viele Schaffner und Lokführer die Höchststrafe.
Nur zwischen Barcelona im Nordosten und Cádiz im Südwesten verkehrt noch ein Nachtzug. Mit 1152 Kilometern ist das Spaniens längste Bahnstrecke. Touristen, Geschäftsleute oder arabische Einwanderer auf dem Weg in die Heimat nehmen diesen Nachtzug Richtung Süden. Und wenn endlich alle schlafen, ist einer hellwach: Schaffner José Rodríguez. Hans-Günter Kellner hat sich mit ihm die Nacht um die Ohren geschlagen.
Arbeiten, wenn alle schlafen - Unterwegs im spanischen Nachtzug
Barcelona, Bahnhof Sanz, 22.20 Uhr: Der Nachtzug nach Cádiz steht zur Abfahrt bereit, Reisende eilen die Treppe zum Bahnsteig herab, fragen die bereitstehenden Zugbegleiter nach ihren Abteilen oder verabschieden sich von ihren Angehörigen:
Schaffner José Rodríguez steht in seinem eleganten blauen Dienstanzug der spanischen Bahn im Gewusel auf dem Bahnsteig. Für die pünktliche Abfahrt bleiben nur noch fünf Minuten. Ein nervöser Kollege kommt mit einer Fahrkarte. Ein Reisender hat eine andere Reservierung als erwünscht. Der eher kleingewachsene Schaffner behält die Ruhe:
"Wir geben ihm jetzt ein Touristenabteil - einzeln. Wenn er sich beschwert, dass da kein Bad dabei ist, haben wir noch eins in der Grand Clase, falls das nicht inzwischen von jemand anders gebucht wurde."
Nach der Abfahrt kontrolliert José Rodríguez die Tickets, scherzt mit einer Reisegruppe und ermahnt einige Jugendliche streng, ihre Koffer nicht auf den Sitzen abzuladen. Und der mit seinem Abteil unzufriedene Fahrgast bekommt nun doch die Grand Clase, das teuerste Abteil im Nachtzug zwischen Barcelona und Cádiz.
Gegen Mitternacht ziehen sich die meisten zurück. Erst jetzt, zweieinhalb Stunden nach der Abfahrt, findet Schaffner Rodríguez die Ruhe, sich an einen Tisch im Speisewagen zu setzen und die eingesammelten Fahrkarten zu kontrollieren. Jetzt hat er auch Zeit für ein Gespräch. Viel Zeit, sagt er. José Rodríguez blickt dem Ende des Nachtzugs in Spanien mit Wehmut entgegen:
"Da ist schon ein nostalgischer Blick zurück. Auf der einen Seite sind die vielen Erinnerungen.: schlaflose Nächte, Kalte Nächte auf den Bahnsteigen, bevor der Zug abfährt, meine Jugend, 20 Jahre bei der Bahn. Aber wie heißt es: Zeit ist Geld. Da kann man für 1000 Kilometer nicht 13, 14 Stunden im Zug reisen. Die Billigflieger bekommen einen immer größeren Teil des Kuchens. Die Bahn muss sich an den heutigen Lebensstil anpassen."
Die neuen Züge schaffen die Strecke in fünf, sechs Stunden. Aber sich nachts in Barcelona ins Bett legen und am Morgen frisch geduscht und ausgeruht am Zielort ankommen, das wird ohne Nachtzüge nicht mehr möglich sein.
"In den oberen Etagen sind die Zahlen ausschlaggebend. Ja, zum Karneval in Cádiz oder zur Fiesta von Sevilla, zur Semana Santa, im Sommer und an Weihnachten ist der Zug voll. Aber das ist nicht immer so. Und wenn wir in einem Jahr einen Zug haben, mit dem wir um 6 oder 7 aus Barcelona abfahren und um 13 oder 14 Uhr in Sevilla sind, wird sich der Reisende wohl eher dafür entscheiden. Das sagen die in den Vorstandsetagen zumindest."
Er redet von "denen da oben" und den "Eisenbahnern unten". Franz Kafka habe über das Verhältnis von oben und unten interessante Romane veröffentlicht, sagt der leidenschaftliche Leser. Der französische Autor Marcel Proust spielt bei den Betrachtungen von José Rodríguez zur Geschwindigkeit und zum Zeitgeist eine Rolle. Eigentlich könnte der Nachtzug deutlich schneller sein. Aber was sollen die Fahrgäste um fünf Uhr morgens in Sevilla? So fährt der Zug besonders langsam, um rechtzeitig anzukommen. Das passt wohl wirklich nicht in eine Zeit, in der die Züge bald mit 350 Kilometer pro Stunde durch Spanien rasen werden. Nachdenklich streicht José Rodríguez über die Tischdecke:
"Warum hetzen die Leute immer so, haben nie Zeit, rechtzeitig ihren Fahrschein zu lösen, oder die auf dem Bahnsteig eine alte Frau über den Haufen rennen. Ich frage mich oft, was macht dieser Mensch wohl? Ich habe keine Antwort darauf. Marcel Proust sagte, es koste ihn große Anstrengungen, jeden Tag ein normaler Mensch zu sein. Ich strenge mich auch jeden Tag an, ein normaler Mensch zu sein, nicht zu hetzen."
Der Schaffner fürchtet nicht nur die Ausmusterung der Züge: "Vielleicht gibt es bei den Hochgeschwindigkeitszügen bald nur noch ein Check-In auf den Bahnhöfen, keine Schaffner mehr?", zweifelt der 49-jährige. Ihm bleiben noch zehn Jahre zur Pensionierung, und er hofft weiterhin im Zug arbeiten zu dürfen.
Dann muss der nachdenkliche Schaffner auf den Bahnsteig. Der Zug bekommt einen neuen Lokführer. Die Zugbegleiter stehen dabei und erzählen sich Anekdoten. Auch Schaffner Rodríguez erinnert sich an eine Geschichte:
"Wir waren in Madrid. Das Paar war schon älter, eigentlich zu alt für diese jugendliche Leidenschaft. Zum Abschied umarmten sie sich im Zug zärtlich. Sie sagte: 'Lass mich los, ich muss weg, das Auto steht auf der Straße.' Und ich sagte: 'Entscheiden sie sich, der Zug fährt los.' Und der Zug fuhr los und die beiden eng umschlungen. Da zog der Mann seine Brieftasche hervor und sagte: 'Machen sie aus meinem Einzelabteil ein Doppelabteil.'"
José Rodríguez holt sich sein Jacket aus dem Speisewagen. Das Interesse an ihm ist ihm unangenehm. "Was kann ich schon erzählen?", fragt er mit einem schüchternen Lächeln. Er erwartet keine Antwort, verabschiedet sich und verschwindet in den langen Gängen der Waggons.
Frühstück am nächsten Morgen im Speisewagen: Der Zug fährt an im Frühnebel liegenden Orangenplantagen vorbei. Die Fahrgäste sind zufrieden, Schaffner Rodríguez entspannt. Das Resümee kurz vor der Endhaltestelle Cádiz fällt nüchtern aus:
"Die Reise war so angenehm, wie man es vor ihrem Antritt erwartet. Es gab keine Zwischenfälle, niemand wurde krank, niemand musste evakuiert werden, es gab keine technischen Probleme. Und wir kommen rechtzeitig an. Beim letzten Halt in Puerto de Santa María waren wir pünktlich."
Auf dem zentralen Busbahnhof in Istanbul geht es auch samstags um Mitternacht zu wie im Bienenstock: Der Türke fährt gemeinhin Bus, und zwar durchs ganze Land. Die Eisenbahn fristet dagegen ein trauriges Dasein. Seit den 40er Jahren systematisch von der Politik vernachlässigt, fällt der Schienenverkehr heute vor allem durch eines auf: die immer wieder schlimmen Unfälle. Viele Gleisanlagen sind völlig veraltet, aber die Verantwortlichen sehen die Schuldigen meist erst mal im Führerhäuschen: Überhöhte Geschwindigkeit sei die Ursache, heißt es nach fast jedem Unfall. Auf der Suche nach dem einstigen Ruhm der osmanischen Eisenbahn, muss man in Istanbul zunächst über den Bosporus und auf die asiatische Seite übersetzen. Dort, geschützt von einer wellenbrechenden Mole, ragt der Bahnhof Haydarpascha auf. Ein neoklassizistischer Palast aus Sandstein und Dachschiefer. Entworfen und gebaut hat ihn der deutsche Architekt Otto Ritter. Genau 100 Jahre ist das her: Von Haydarpascha aus wollten die Deutschen damals auf Schienen in den Nahen Osten vordringen. Sie bauten dem Sultan auf Pump eine Bahnlinie von Istanbul quer durch Anatolien bis in den Irak: Bagdad-Bahn sollte diese legendär gewordene Eisenbahn später heißen.
Heute sind die Stuckdecken der Schalterhalle im Bauch von Haydarpascha bröckelnde Zeugen der einstigen deutschen Großmachtträume. Gunnar Köhne hat dort einen Eisenbahner getroffen, der versonnen auf die alte, und skeptisch auf die neue Zeit blickt:
Eisenbahn-Pioniere von gestern - Ein türkischer Lokführer über die Bagdad-Bahn und das traurige Erbe
Ismail Ciftci hat sich an den Anblick vergangener Herrlichkeit gewöhnt. Seit 30 Jahren geht er durch den Kopfbahnhof zur Arbeit. Erst arbeitete er als Lokführer, heute ist er Sekretär der türkischen Eisenbahnergewerkschaft für diesen Teil Istanbuls. Das Büro des 53-Jährigen liegt gleich neben dem Bahnhof, in dem es mehr gibt als nur Gleise und Fahrkarten:
"Diese Gepäckschließfächer sind das modernste, was wir hier haben. Der Rest steht noch genauso wie vor 100 Jahren: hier der Wartesaal, dort der Barbier. Selbst diese Messingeinfassungen der Fahrkartenschalterluken sind noch original."
So alt wie der Bahnhof sind auch die meisten Strecken der türkischen Eisenbahnen. Ganze drei Hauptstrecken ziehen sich von Istanbul aus doppelspurig durch Anatolien. Elektrifiziert sind sie nur auf den ersten 100 Kilometern, dann müssen Dieselloks die Waggons ziehen.
Schneller als 60 Kilometer pro Stunde können wir selten fahren, erzählt Ismail Ciftci, während er achtsam das Gleisbett von Haydarpasa überquert. Hunde streunen umher, vor einem Trafohäuschen ist ein Laternenpfahl umgeknickt. Der untersetzte Mann mit dem akkurat gestutzten Schnauzbart schaut betreten.
Seit Atatürks Zeiten ist in die türkische Bahn nicht mehr investiert worden. Erst die religiös-konservative Regierung Erdogan hat sich des erbärmlichen Zustandes der Bahn angenommen. Von Istanbul in die Hauptstadt Ankara soll in wenigen Jahren eine Schnelltrasse führen. Die Fahrtzeit soll sich von sieben auf drei Stunden verringern. Außerdem wird derzeit an einem Bahntunnel unter dem Bosporus gearbeitet. Damit würden die beiden von Deutschen gebauten Kopfbahnhöfe Sirkeci auf der europäischen und Haydarpascha auf der asiatischen Seite der Stadt überflüssig. Die neue Strecke wird tief unter ihnen hindurchführen.
Doch noch müssen die Güterwaggons von Asien nach Europa und umgekehrt verschifft werden. Lokführer Ismail Ciftci zeigt auf eine Fähre, von der gerade drei Reihen rumänische Containerwaggons gezogen werden. An einem Kontrollposten tritt ein junger Mann mit den schweren, ölverschmierten Handschuhen eines Rangierers auf uns zu. Er habe Betriebswirtschaft studiert, erzählt er, und aus Begeisterung für das Eisenbahnwesen hier angefangen:
"Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist die Bahn in unserem Land zurückgeblieben. Aber das ist kein Wunder, denn wir sind nicht bereit, in die Bahn zu investieren. Es gibt bei uns nicht wie in anderen Ländern klare Ziele für den öffentlichen Schienenverkehr. Das Volk könnte dann die Umsetzung dieser Zeile einfordern. An den Leuten, die hier arbeiten liegt es nicht. Die arbeiten hart, und wenn Sie mal mit unserer Bahn fahren, werden sie sehen, dass sich jeder bemüht, seinen Job gut zu machen."
Ismail Ciftci blickt ein wenig mitleidig auf den erregt gestikulierenden jungen Kollegen, so als wollte er sagen: Von welcher Eisenbahn-Zukunft träumst du? Die ersten Versuche mit schnelleren Zügen endeten vor drei Jahren mit zwei schweren Unfällen innerhalb weniger Wochen. Und dann noch der miserable Lohn: Höchstens 600 Euro verdient ein Lokführer in der Türkei.
Ciftci betritt die Wartungshallen. In einem Passagierwaggon werden die Toiletten erneuert. Der Abteilungsleiter schaut den Arbeiten rauchend aus einem Kabuff zu. Ciftci und sein Kollege sind sich schnell einig:
"Man kann nicht 25 Jahre bei der Eisenbahn arbeiten, wenn man es nicht wirklich mag, seine Landsleute quer durchs Land zu fahren und unterwegs so viele Eindrücke zu sammeln. Da vergisst man eben, dass es einem sozial nicht so gut geht, dass man eine 60-Stunden-Woche hat und seine Familie kaum sieht."
Ciftci stammt vom anderen Ende der Türkei, aus Kars an der armenischen Grenze. Einmal die Woche fährt ein Zug dorthin, die Reise dauert 14 Stunden und kostet umgerechnet gerade mal 18 Euro.
Auf Gleis 3 steht ein Regionalzug nach Izmit zur Abfahrt bereit. Ciftci reicht dem Kollegen im Führerstand die Hand durch das geöffnete Fenster. Wie läuft es mit der Arbeit, gibt es Schwierigkeiten?, fragt er. Die neuen Dieselmotoren laufen deutlich besser, antwortet der Lokführer, bevor er das Signal zur Abfahrt bekommt.
Ismail Ciftci tritt nachdenklich den Rückweg an, vorbei an dem wartenden Ankara-Express auf Gleis 1. Junge Rekruten werfen ihren Seesack durch das Abteilfenster; ein Mütterchen, das offenbar zurück will in ihr Dorf, zwängt sich schwer bepackt durch die Waggontür. An manchen Tagen stünde Ciftci gerne noch einmal für einen Tag im Führerstand. Denn auch heute noch sind die Anatolischen Eisenbahnen ein Abenteuer:
"Auf einer meiner letzten Fahrten sind wir in eine Schafherde reingerast. So ein Personenzug kommt doch erst nach 500 bis 600 Metern zum Stoppen. Der Schäfer hatte sich aus dem Staub gemacht. Da mussten wir selbst zwei Dutzend Schafe notschlachten. Das Fleisch haben wir an die Passagiere verteilt."
Ismail Ciftci hat zwei erwachsene Söhne, keiner von beiden wollte zur Eisenbahn. Wenn in ein paar Jahren der Bosporustunnel in Betrieb genommen wird, hat Haydarpascha ausgedient. Es gibt Pläne, aus dem historischen Kopfbahnhof ein Einkaufszentrum mit Hotel zu machen. Eisenbahner wie Ismail Ciftci haben dann hier nichts mehr zu suchen.
"'Kein Fahrgast kann so stinkig, kein Wetter so hässlich, keine Fahrzeit so knapp und kein Verkehr so hektisch sein, dass ich es nicht doch vorzöge, selbst meine Trambahn zu fahren anstatt zur Nachschulung zu gehen.
Und dann wird es jedesmal noch schlimmer als erwartet: 'Der Fahrgast hat das Recht, bei jeder Türe einzusteigen. Auch bei der Fahrertür. Auch bei minus 20 Grad. Auch an der Endhaltestelle, wenn die Türe dabei minutenlang offensteht. Auch wenn die Fahrerstandheizung defekt ist.'
Oder: 'Der Fahrgast hat immer recht.' Auch wenn man nach stundenlangem, zermürbendem Kampf im Straßenverkehr von einem cholerischen Fahrgast mit 'Du dreckata Kutscher, ausschlafen kannst dahoam, jetzt schau, dass Du weiterkommst ... ' empfangen wird.
Nein, Zähne zusammenbeißen ist die Devise; alles andere führt zu ewig langen Auseinandersetzungen mit dem Fahrdienstbüro.
Wenn man bei der Nachschulung noch das Pech hat, einen Ausbilder zu haben, der selbst nie längere Zeit im Linienverkehr gefahren ist, dann wird er auch noch alle lächerlich machen, die sich vom Fahrplan hetzen lassen, wo es doch ganz einfach ist, auf die paar Minuten Stehzeit an der Endhaltestelle zu verzichten – 'dann raucht man halt mal keine!' - aber geht auch nicht zur Toilette, steht nicht einmal vom Fahrersitz auf, um die müden Glieder zu strecken ... nein, das ist ja alles nicht nötig.
Auf dem Heimweg von einer solchen Nachschulung formuliere ich jedesmal mein Kündigungschreiben ausführlich und in mehreren Variationen. Und brauche anschließend mindestens eine Woche, bis mir dieses einzigartige Gleiten der Tram auf den Schienen zu meiner alten Begeisterung zurückverhelfen.""
Schon Napoleon träumte von einer unterirdischen Verbindung zwischen Europa und den britischen Inseln. Der kleine Feldherr soll sich eine Straße unter dem Ärmelkanal vorgestellt haben, von Kutschen befahren. Erst einmal gab es aber Jahrhunderte lang nur Pleiten, Pech und Pannen, darunter Dutzende fehlgeschlagener Versuche, überhaupt einen Tunnel zu bauen. Sabotage mag man den Briten nicht unterstellen, aber doch eine chronische Renitenz, wenn es um den Anschluss nach Europa geht. Noch in den 80er Jahren, als der heutige Eurotunnel vom Traum in die Tat umgesetzt wurde, fürchtete man sich vor französischen Ratten, die durch die Röhre laufen und die Tollwut einschleppen könnten. Heute, 13 Jahre nach dem Startpfiff für den ersten Eurostar, erlaubt sich die altehrwürdige "Times" immer noch die Frage, ob man die Eisenbahn-Verbindung überhaupt hätte bauen sollen. Das ist Wasser auf die Mühlen von Aktionären und Kreditgebern, die über fehlende Gewinne lamentieren. In der Tat produziert der Tunnel weiterhin rote Zahlen, woran Maggie Thatcher nicht ganz unschuldig ist. Keinen Penny an Steuergeldern wollte die Eiserne Lady für den Zug damals rausrücken.
Erst jetzt werden auf britischem Boden spezielle und damit schnellere Gleise für den Eurostar gebaut, und so wird er ab November mit über 300 km/h noch schneller sein: Die reine Fahrzeit von Köln nach London beträgt dann vier Stunden, das ist im großen und ganzen schneller als jede Flugreise auf dieser Route. Für den Lokführer wird es damit noch einsamer: Die Sicherheitsbestimmungen erlauben keinen Gast im Cockpit, eine Reporterin schon gar nicht. Bleibt für meine Kollegin Ruth Rach nur der freundliche Schaffner.
"Es gibt nichts Unzivilisierteres als zu fliegen" - Mit Eurostar-Schaffner Stuart Mansfield von London nach Brüssel
Stuart Mansfield, Zugchef. Mitte 20, groß, schlank, selbstsicher, sympathisch. Während Geschäftsreisende in der Businesslounge die neuesten Börsenmeldungen überfliegen, geht Stuart schon durch die Pass- und Zollkontrolle zum Bahnsteig 1. Er bereitet den Eurostar für die Fahrt von London nach Brüssel vor, testet Türen, Notausgänge. Kommunikationsverbindungen, vergewissert sich, dass seine Crew vollständig an Bord ist.
Der Eurostar - ein eleganter Zug mit pfeilförmigem Design, fast 400 Meter lang, 2 Loks, 18 Wagen, 812 Sitzplätze. Heute rechnet Stuart mit rund 300 Reisenden. Stuart beherrscht drei Sprachen, höchst ungewöhnlich für einen Briten. Ausbildung: Universitätsabschluss in Deutsch und Französisch, Magister im Dolmetschen. Dies ist sein erster Job.
Fast unmerklich setzt sich der Eurostar in Bewegung, früher, als im Fahrplan vermerkt. Wegen der strengen Kontrollen weiß die Besatzung: Alle Passagiere sind an Bord. Durchs Zugfenster inspiziert Stuart den vorbeigleitenden Bahnsteig, der muss frei sein. Sonst wird der Zug gestoppt: Sicherheitsmaßnahme. Stuart liebt die Eisenbahn. Wenn er eine Reise antritt, schlägt sein Herz höher.
Nach der Ansage geht Stuart durch die Wagen. Die Fahrgäste sollen ihn kennenlernen. Jede Bahnfahrt bedeutet für ihn einen kilometerlangen Fußweg: plüschige Teppichböden, grau gestreifte Sessel, runde, weiche Designs.
Eine englische Dame, sichtlich irritiert, dass es ihr nie gelinge, einen Fenstersitz in Fahrtrichtung zu buchen. Stuart bietet ihr einen neuen Platz an. Sie winkt ab. Typisch englisch.
"Ein deutscher Reisender trägt sein Problem vor und erwartet eine Lösung. Ein Engländer hingegen erwähnt nur beiläufig, dass er ein Problem hat, aber wenn man ihm eine Lösung anbietet, sagt er: 'Um Himmels willen, ich wollte doch gar nicht, dass Sie etwas unternehmen, ich wollte es nur erwähnen.' Und bei einem Franzosen gilt es erst einmal herauszufinden, was er überhaupt will, sehr schwierig, weil er sich so umständlich ausdrückt."
Jedes Abteil hat einen anderen Geruch, eine andere Atmosphäre. In der Businessklasse herrscht phantomhaftes Schweigen. Vereinzelt, in tiefen Luxussesseln, konzentrieren sich Herren auf elektronische Gerätschaften.
In der Comfortklasse hingegen animiertes Plaudern, entspannte Gesichter, das dezente Klirren von Champagnergläsern. Besonders vielfältig, die zweite Klasse: Auf den Tischen Puzzlestücke, Spielsachen, Schubert-CDs, Wurstbrote, Krimis. Eine Mutter schläft, ihr Baby auf dem Schoss, vor dem Baby ein Laptop mit einem Trickfilm. Ein Abteil duftet dezent nach Chanel No, 5, im nächsten stinkt es nach Fritten.
"Japanische Reisegruppen bringen normalerweise ihr eigenes Essen mit, ihr Abteil riecht oft nach Fisch. Sie finden wiederum, dass Europäer nach Milch riechen. Einmal hatte ich eine Amerikanerin, das war auf dem Rückweg von Paris, im Abteil roch es penetrant nach französischem Käse. Ich dachte, klar, Sonntagabend, Touristen. Die Amerikanerin sagte: 'Entschuldigen Sie, was riecht hier so?' Ich sagte: 'Käse'. Woraufhin sie fragte: 'Ist das erlaubt?' Sie meinte allerdings nicht den Geruch, sondern den Transport von Käse innerhalb Europas. Ich musste ihr erstmal erklären, wie Europa funktioniert."
Grüne Hügel, ein malerischer Fluss - die Grafschaft Kent, der Medway. Im Sommer ist alles rot vor Klatschmohn. Neuerdings gibt es auch Lavendelfelder, erzählt Stuart. Er hasst Flugreisen. Sie seien unzivilisiert. Und schlecht für die Umwelt.
Kurzer Halt in Ashford. Stuart bespricht sich mit Clare, seiner Kollegin. Fazit: Alles okay, außer einer Doppelbuchung. Früher gab es mitunter Probleme mit Betrunkenen im Zusammenhang mit Fußballspielen. Heute reisen französische und britische Polizisten mit, wenn internationale Begegnungen anstehen.
Stuart stellt sich kurz an die Bar, sein liebster Platz: dort kommt er mit Passagieren am ehesten ins Gespräch. Für sein Training musste Stewart gleich mehrere Regelwerke studieren, französische und englische Bahnbestimmungen, für klassische und Hochgeschwindigkeitszüge. Er liebt die Schichtarbeit, den internationalen Flair, freie Tage, wenn andere arbeiten, Kontakte mit Freunden in drei verschiedenen Ländern.
"Es gibt eine altmodische Eisenbahnerwelt, aber dazu gehören wir nicht. Die meisten Leute in der Eurostar-Community sind jung, ein Drittel nicht britisch sondern französisch, italienisch, belgisch. Aber wir halten auch eng zusammen, unsere Trainingsgruppe trifft sich regelmäßig, mal in Lille, mal in London oder Paris. Wir gehören zu einer viel moderneren, multikulturellen Variante der Eisenbahnerwelt."
In wenigen Minuten der Tunnel: Stuart geht wieder durch den Zug, die Durchgänge müssen frei sein, setzt sich auf einem Platz am Zugende: Sicherheitsmaßnahme. Die Strecke dauert 20 Minuten.
"Der Eurotunnel ist ein Tunnel wie jeder andere, wenn Du aus dem Fenster schaust, ist es schwarz, du denkst nicht dran, dass der Ärmelkanal über Dir ist. Einmal hatte ich eine Reisende, die in Panik geriet. Aber es gelang mir, sie zu beruhigen. Bis ich bei ihr war, und mit ihr sprach, waren wir praktisch schon wieder im Freien."
Trotz der Verbindung unter Wasser sind die Engländer Insulaner geblieben, findet Stuart, im Gegensatz zu den Schotten.
"Neulich war ich in Edinburgh und überrascht über die europäische Atmosphäre, ähnlich wie in Südirland. Engländer sind anders. Die mögen sich einfach nicht mit der übrigen Welt auseinandersetzen."
Auch in Calais scheint die Sonne.
"Eine wunderbare und schreckliche Stadt: entweder Du hast Sonne oder ein Unwetter."
Am liebsten sind Stuart die Züge am Freitagabend. Da sind die Passagiere gut gelaunt, weil sie heimfahren, und Sonntagabends, wenn die meisten Fahrgäste schlafen.
Nach einem kurzen Stopp in Lille bereitet Stuart die Ankunft in Brüssel vor, mehr Papierarbeit, Telefonate mit dem Zugteam. In Brüssel hat er 45 Minuten Aufenthalt, dann geht es zurück nach London.
Was Stuart in fünf Jahren macht, weiß er nicht. Er macht nur Zweijahrespläne. Aber er kann sich gut vorstellen, bei Eurostar zu bleiben.
"Bei der Bahn hast Du das Gefühl, du gehörst zu einer Gemeinschaft. Das ist schön. Egal wo ich bin, in Schottland oder sonstwo in Europa, ich kann stets zu einem Eisenbahner hingehen und sagen, ich bin auch ein Zugwärter. Ich bin einer von euch."
"Und die Fahrerinnen und Fahrer?
Die verkaufen keine Fahrscheine mehr und sitzen etwas komfortabler und wärmegeschützter als in den alten Zügen, aber an ihrer exponierten Einsamkeit hat sich nichts geändert. Sie können nach wie vor wie interessante Insekten in einer Glasvitrine von allen Seiten betrachtet und beäugt werden - ohne dass sich irgendjemand über ihr Innenleben Gedanken machen muss."
Literatur:
Root Leeb. Tramfrau. Aufzeichnungen und Abenteuer der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub
Ars Vivendi
München, 2003