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"Einsame Menschen"

Fast mathematisch abgezirkelt sind die Beziehungskonstellationen im Theater Michael Thalheimers. Auf praktisch leerer Bühne, die lediglich mit überhohen Wänden, Rahmen oder mindestens viereckigen Kästen bestückt sind, ist es der Abstand, der zählt. Der gefühlte Weg von A nach B, von einem zum anderen, ist dabei immer weit länger als noch die tiefste Bühne. Wenn die suggestive Musik von Bert Wrede, die immer eine große Rolle spielt, dazu den entsprechenden Assoziationshorizont schafft, werden Thalheimers Figuren fast erdrückt vom riesigen Raum, den sie, wie in der "Emilia Galotti", zu durchschreiten haben. Mit ihr hatte Thalheimer dem Deutschen Theater im September vor zwei Jahren den großen Erfolg der Spielzeit beschert – bei Publikum und Kritik.

Von Karin Fischer |
    So gesehen zeigte die "Thalheimer-Prädestinations-Skala" deutlich in Richtung auf das frühe Stück von Gerhart Hauptmann. "Einsame Menschen" sind sie alle in solch expressiven Geometrie der Gefühle.

    In Hauptmanns Geschichte sind es die weltanschaulichen Systeme, die den Hintergrund für ein tödlich endendes Beziehungsdrama liefern. Johannes Vockerat hat sich mit Hilfe von Haeckel und Darwin und einer "philosophisch-kritisch-psychophysiologischen Arbeit" von seinem rechtgläubig bigotten Elternhaus abgenabelt. Seine Frau Käthe ist nett und freundlich, aber keine Intellektuelle, der Malerfreund Braun dagegen lebt dem Absoluten und verspottet Johannes als "Kompromissler".

    In die Tauffeier seines ersten Sohnes platzt Fräulein Anna Mahr, eine Studentin aus Zürich, die einzige, mit der er sich austauschen kann. Er bittet sie, zu bleiben. Natürlich gerät die kleine Welt am Müggelsee aus den Fugen. Käthe, angeweht von einem Hauch von Möglichkeit der Frauenemanzipation, verfällt, je mehr ihr Mann die neue Freundschaft lebt. Die Eltern fordern "Gehorsam" und "Buße". Johannes geht am Ende ins Wasser.

    Bei Thalheimer spielt die Debatte um Konvention oder Anarchismus, der Konflikt zwischen Frömmelei und Freigeistertum keine Rolle. Er zeigt, wie immer, Menschen unter Druck. Wie immer wird zu Beginn des Stücks die Bühne zum Laufsteg, schon bei der durchchoreographierten Vorstellung des Personals macht sich Kälte breit. Offene Arme markieren hier nur den Abstand selbst der Liebenden, Umarmungen demonstrieren lediglich die familiäre Zwangsgemeinschaft. Je nach Seelenzustand wird sich gekrümmt, gekiekst, stakkato wiederholt oder gehüpft, wie bei Johannes’ schlagender Verwandlung nach der Begegnung mit Anna. Der unverstandene Hypochonder tänzelt sich eins im Bühnenhintergrund – Robert Gallinowski spielt ihn sonst als unruhigen Egomanen, dessen geistige Haltlosigkeit von losen Hemdzipfeln und Out-of-Bed-Look der Haare hübsch forciert wird. Nina Hoss ist Käthe: Von ihrem Gatten missbraucht als Punchingball im Kampf gegen die Konvention, schafft sie es wider Erwarten spielend, sich klein zu machen. Jörg Gudzuhn und Barbara Schnitzler als Eltern verkörpern, unbeholfen, verschroben oder stocksteif, gelungen das Modell "Konservativismus" in dieser Familiengleichung. In der die Anna der Katharina Schmalenberg das "x" darstellt, die große Unbekannte. Sie tritt kaum auf, fungiert als Leerstelle, als Zeichen für Bedrohung wie als Sehnsuchtsort. Wenn der Maler Braun, was nicht im Text steht, sie am Ende mit einem Kuss überfällt und niederringt, hat Thalheimer mehreres deutlich gemacht: Der Traum von Freiheit scheitert noch heute an der miesen Kleinheit der Beteiligten. Die Suche nach Selbstverwirklichung hat zerstörerische Effekte. Und speziell den Frauen nimmt man die Rolle als emanzipatorische Herausforderung nach wie vor ganzschön übel.

    Das sind ebenso zeitlose wie wenig überraschende Thesen. Gerhart Hauptmann hat in seinem Stück auch die intellektuellen Diskurse seiner Zeit zwischen bürgerlichem Traditionalismus und anarchistischem Aufbruch getestet. Thalheimer beschränkt sich auf das Motiv der Verlorenheit und Unfreiheit seiner Personen innerhalb eines Wertesystems, das nicht das ihre ist, gegen das sie aber vergeblich anrennen. Es ist nicht so, dass das System Thalheimer nicht funktioniert. Diese Konflikte sind wahrlich ewig. Aber eben auch sehr ausrechenbar. Dafür gibt es auf der Theatergenuss-Skala von eins bis zwölf heute nur eine Sieben.